Hab ich das jetzt unlängst weggeschmissen oder ist es nur verloren gegangen? (Walden Thirteen)

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„Am Ende eines jeden Lebens kommt die Müllabfuhr! Wohlsein!“ Ein ganzes Jahr saß der Bär namens Erich Schlackerbein nun schon auf dem Plattenschränkchen des Herrn Tankred Florschütz im sechsten Stock eines Plattenbaus in Sonneberg-Wolkenrasen mit Blick auf die wenige hundert Meter entfernte innerdeutsche Grenze, die nun seit einigen Wochen gar keine Grenze mehr war, sondern eine Art Narbe der Erinnerung in einem neuen, alten Land. „Am Ende eines jeden Lebens kommt die Müllabfuhr! Prösterchen, mein Freund!“ Es war höchste Zeit sich Sorgen zu machen um Herrn Florschütz. Selbst angesichts der durchaus heilenden Wirkung eines ordentlichen Rausches in Zeiten des Abschieds und Verlustes: irgendwann muß gut sein. Der Bär hatte noch keine großen Erfahrungen mit Zweibeinern gemacht. Für ihn war es normal, daß sein Herbergsvater den Tag hadernd und fluchend begann, dann mit Nietenjacke und Schlafanzughose angetan zur Trinkhalle aufbrach, den restlichen Tag zwischen Kühlschrank, Fernsehapparat, Plattenspieler und Kloschüssel hin und her pendelte, um den angebrochenen und nie begonnenen Tag greinend, weinend, schwankend und schließlich auf dem Sofa einschlafend zu beenden. Heute jedoch passierte etwas. Da lief wieder dieses Lied. Der Bär Schlackerbein mochte es. Es klang ein bißchen wütend, ein bißchen fröhlich und das Klavier schepperte. Natürlich wußte er nicht, daß es sich um ein Klavier handelte, aber daß da was schepperte, das bekam er schon mit. Und das passierte: Tankred Florschütz stand auf, schwankte auf den Plattenspieler zu, hob ihn in die Luft, das Kabel riß er aus der Wand, er öffnete das Küchenfenster und zwanzig Meter tiefer zerschellte ein Lied inklusive Abspielgerät.

Time fades away. So hieß das Lied. Einiges an Zeit war Tankred Florschütz im letzten Jahr durch die Finger geglitten, auf Nimmerwiedersehen. Und Tschäki war nicht zurückgekommen. Einmal hatte er Tschäkis Mutter auf der Straße getroffen. Beide wechselten die Straßenseite, gleichzeitig. „Horsche mal her, Schlackerbein. Weeste, mein Scheener, alles kannste in de Mülltonne nei kloppen, Herzen, VEBs, dä Liebe, n ganzes Land, aber eines darfste da nie neihaun: nämlich Dich selber!“ Also stand er von seinem Sofa auf, rasierte sich, wusch sein bügelfreies Campinghemd aus und ging runter zur Trinkhalle, kaufte sich ein Kiste Sprudel – „Sare mal, biste grank?“ – und sah seine Zukunft. Sperrmüll! Es wurde weggeworfen. Manisch! Die Neue Zeit war angebrochen und die Anker wurden nicht gelichtet, sondern ins Meer geworfen. Ohne Kette. Alles lag auf der Straße. Möbel, Küchengeräte, Bücher, Bücher, Bücher, Amiga–Schallplatten, Nußknacker und Pyramiden aus dem Erzgebirge, Trabireifen, Fernseher Marke Chromalux,  Radios aus Stassfurt, Plaste und Elaste, sogar ganze Batterien von Einweckgläsern mit Spreewaldgurken. “Nee! Sglaubsch jetz nich!”  Da lehnte sie an einem Laternenpfahl – Nein, nicht de Tschäki! –  eine Schwalbe, eine Simson KR 51/2, Baujahr 1984 in saharabraun. “Zu verschenken!”

Die Schwalbe war, nach einigen Handgriffen, vollkommen fahrtüchtig. Zwei wesentliche Ergänzungen erfuhr das Gefährt. Am Gepäckträger hatte Tankred Florschütz eine Art Anhängerkupplung angeschweißt sowie einen kleinen Sitz plus Kissen. Und dort thronte, mit einer Gummispinne festgezurrt: Erich Schlackerbein. „Mensch, der Kleene Kerle, der hats een ganzes Johr mit mir ausgehalten! Und hat sich nich davon gemocht!“ Und so kurvten die Zwei auf ihrer Schwalbe – Kurvte die Schakkeline noch im Jaguar? – durch Sonneberg, sammelten, was so rumlag und luden es in den Anhanger, den ihre Schwalbe geduldig hinter sich herzog. Erstmal Blaue Bände ohne Ende, natürlich auch den kompletten Engels, den ein oder anderen Lenin (auch komplett) und auf manchem Speicher lagen sogar noch die vollständigen Hinterlassenschaften des Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili herum. Fragte man Tankred Florschütz, was er denn mit diesem Schrott wolle, antwortete er, er habe Buchhändler gelernt, er habe sogar die Abschlußprüfung bestanden und irgendwie müsse man ja anfangen mit dem eigenen Geschäft und dem Kapitalismus und wer weiß, ob nicht irgendwann in zehn oder zwanzig Jahren Menschen wieder ab und an in diesen Büchern rumstöbern wollten. Weggeworfen sei schnell! Und dann hat man vergessen, wo und wie und wann! Und er vergewisserte sich, ob Genosse Herr Erich Schlackerbein noch an seinen Platz saß, denn den wollte er nicht verlieren. Auf gar keinen Fall!

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Autor: Christian Lugerth
Datum: Dienstag, 27. Juli 2010 22:27
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