Archibald und die Geschichte vor der Geschichte
Dienstag, 23. Februar 2010 9:29
Bären neigen manchmal zu einer gewissen selbstzerstörerischen Ehrpusseligkeit. Wenn sie bemerken, daß etwas nicht so verläuft, wie erwünscht und erhofft, suchen sie den Fehler. Unermüdlich und meistens bei sich selber. Also saß Archibald wieder auf seiner Fensterbank und war nicht wirklich konzentriert, was den Blick in die Welt hinaus betraf. Er dachte darüber nach, warum er es einfach nicht schaffte, das zu erzählen, was er seit Tagen versprochen hatte. Klar, es ist viel auf ihn eingestürmt seit Aschermittwoch, trotzdem: so eine große Sache ist das mit dem abben Bein auch wieder nicht. Und er mußte daran denken, wie ihn Ernst Albert damals aus der Kneipe in seine Höhle geschleppt, ihn dort auf einen kleinen Tisch in seinem Schlafzimmer gesetzt hatte und das abbe Bein so neben Archibalds Rumpf gelegt hatte, daß es aus der Ferne aussah, als ob das abbe Bein wieder dran wäre. Ernst Albert war in jenen Tagen nicht in allerbester Verfassung gewesen, schlug sich fast jede Nacht um die Ohren und hatte nicht viel Zeit, sich um einen, wenn auch schwerverletzten Bären zu kümmern. Wobei, ältere Herren und Bären: ein heikles Thema. Aber Ernst Albert gewährte Archibald immerhin Asyl. Archibald saß also auf diesem Tischlein, lehnte an einem Blumentopf mit einer Pflanze, die sich über Gießwasser sehr gefreut hätte, spürte das etwas mit seinem rechten Bein nicht stimmte, obwohl es sich wieder an der fast richtigen Stelle befand, die Zeit verging wie im Fluge und graue Staubflocken sammelten sich auf seinem Bärenhaupt. Doch er war froh nicht mehr zweigeteilt auf der Straße zu liegen, es war schön warm in Ernst Alberts Höhle und überhaupt: er hatte komplett vergessen, wie es eigentlich dazu gekommen war, daß sein rechtes Bein etwa 70 Meter entfernt von ihm auf einer vorsommerlichen Straße in Mittelhessen gelegen hatte. Und da schoß es Archibald durch den Bärenschädel. Wie solle er denn die Geschichte der Anoperation des abben Beines erzählen, wenn er gar nicht mehr wußte, wie das Bein abgegangen war? Da war keine Erinnerung, da war nur ein großes, rotgerandetes Loch. Was war damals geschehen? Vor der Straße? Lange vor der Anoperation? Wer den zweiten Schritt vor dem ersten tut, fällt auf die Nase und blamiert sich. Und wenn Bären etwas nicht mögen, ist es sich zu blamieren. Also, dachte Archibald, ist es nicht angebracht sich jeden Tag zu entschuldigen wegen der fehlenden Schilderung der Anoperation. Erstmal müsse er über die Geschichte vor der Geschichte nachdenken. Grundsätzlich. Jawoll! Befriedung machte sich in seinem Bärenherzen breit und er schaute aus seinem Fenster. Konzentriert. Und sah Dinge.
Thema: Archibalds Geschichte | Kommentare deaktiviert | Autor: Christian Lugerth