Beiträge vom Juli, 2014

Wolziger Seelegien / Eins / Radwechsel

Mittwoch, 30. Juli 2014 20:50

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Das was er an einem heißen Julitag in der Scheibe des Fensters eines Zuges kurz hinter Stendal gespiegelt sah, war zweifelsfrei Archibald Mahler.

Ernst Albert war unterwegs. Sein Körper schmerzte. Manche seiner Gedanken auch. Dennoch fühlte er sich etwas besser als in den letzten Wochen und Monaten. Wenn Räder unter dir rollen, stehen die Räder in dir still.

Aha, die Scheibe eines Fensters eines Zuges erwählt sich Archibald Mahler also um wieder aufzutauchen, dachte Archibald Mahler, als er sich in der Scheibe des Fensters eines Zuges kurz hinter Stendal nach Wochen, ach Monaten wieder erblickte. „Da bin ich ja! Es gibt mich noch!“, stellte er fest, ohne sich sonderlich zu freuen. Dennoch fühlte er sich wohl, denn wenn unter ihm Räder in Bewegung waren, hatte sein Bärenkopp Ruhe. Ein bisserl.

Ernst Albert blickte aus dem Zugfenster, durch den gespiegelten Kopf seines Bären hindurch und spielte mit sich ein altes Spiel, ein Spiel mit welchem er sich in seiner Kindheit und frühen Jugend auf Reisen gerne seine als Langeweile getarnte Aufgeregtheit vertrieb. Er stellte sich vor, er laufe neben dem fahrenden Zug her, überspränge Zäune, Wasserläufe, Wege, haste durch Schrebergärten, über Felder, quere Fabrikanlagen, versuche im letzten Moment entgegenkommenden Zügen auszuweichen und dabei nicht gegen Signalmasten zu prallen. Hauptregel: immer rechts neben dem Zug entlang. Zentrale Nebenregel: Tunnel nicht durchqueren, sondern über den Berg jagen und am Tunnelausgang rechtzeitig neben der Lokomotive wieder auftauchen. „Ick bin all hier.“ Hase und Igel.

Archibald Mahler hatte eine Zeit lang die Schreibfeder niedergelegt, geflissen geschwiegen und die Welt an seinem Pöter vorbeirauschen lassen. Da hatte ihm gut getan und der Welt nicht weiter geschadet. Ernst Albert hätte es ihm öfters gerne gleichgetan, aber eine fatale Mischung aus Erfordernissen der Musentempelei, Nachfragen aller Art, seinem Naturell und einer akuten Zivilisationsallergie hatten dies verhindert.

Das Ziel der Reise: Storkow Klammer auf Mark Klammer zu. Der Anlaß der Reise: Mahler juckte das Hirn und Albert auch. Der eine nun will erzählen, der andere aber will ein Schweigen lernen.

Der Zug querte weites, flaches Land. Keine Hügel, kaum Häuser. Felder. Wälder. Felder. Wälder. Blickland. Atemland. Ernst Albert durchblätterte seine Reiselektüre.

„Hör mal, Mahler, das hier:

Der Radwechsel:

Ich sitze am Straßenrand / Der Fahrer wechselt das Rad. / Ich bin nicht gern, wo ich herkomme. / Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre. / Warum sehe ich den Radwechsel / Mit Ungeduld?“

„Was ist das?“

„Eine Elegie.“

„Wer sagt das?“

„Bertolt Brecht.“

„Ist das so, wenn man unterwegs? Wenn man reist?“

„Manchmal ist das so, wenn man nicht mehr da, aber auch noch nicht dort ist!“

„Eine Art ‚Zer – Reise’ sozusagen, Herr Albert?“

„Sozusagen!“

Archibald Mahler nahm sich vor, morgen rauszufinden, was eine Elegie ist. Dann mußte man umsteigen. Zweimal. Dreimal. Die Hauptstadt rauschte vorbei und die Züge wurden immer kürzer und leerer. Man erreichte das vorläufige Reiseziel: Storkow (Mark).

„Und wo stehen jetzt die Taxis?“

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Thema: Wolziger Seelegien | Kommentare deaktiviert | Autor: Christian Lugerth