Beiträge vom August, 2014

Wolziger Seelegien / Vierzehn / Abschied

Montag, 25. August 2014 12:39

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So mancher Abschied mag nicht gelingen. Selbst nach wiederholtem Versuchen. Man sagt dann, es bliebe immer etwas zurück. Ruft die Arbeit den Einen, der da auf einen See blickt und nachsinnt, bleibt nicht viel von ihm zurück, da am See. Es besteht jedoch für den Gerufenen durchaus die Möglichkeit etwas mitzunehmen. Keine Steine, Tannenzapfen, Postkarten, Rechnungen, eher Unaussprechliches.

Ernst Albert packt den Koffer und Archibald Mahler schaut derweilen noch mal nach dem See. Der Sonnenuntergang war in seiner leicht pathetischen Kitschigkeit so bestellt. Archibald Mahler hielt ein eng beschriebenes Blatt Papier in der Tatze. Jemand hatte ihm dieses Schriftstück geschenkt. Als Wegzehrung. Wer? Na, der von gestern wohl! Gewiß! So oft hatte der Bär am See nun schon diese Worte gelesen, daß er begann sie auswendig vor sich her zu sprechen:

„Dichten heißt: nicht Schamane sein, nicht Beschwörer, nicht Überredner, nicht Gefühlsexzentriker. Das heißt, nicht Gefühle über Dinge sagen, sondern die Dinge so sagen, daß sie gefühlt werden können. Nicht eine Sache interessant machen wollen, sondern das Interessante der Sache entdecken. Nicht die eigene Begeisterung herausposaunen, sondern das Hinreißende der Sache zur Sprache bringen.“

Ernst Albert trat ans Ufer, seinen Bärenfreund über die bevorstehende Abreise in Kenntnis zu setzen. Der wedelt mit dem Schriftstück.

„Mensch, Herr Albert, hier! Wir können ja noch einiges lernen!“

„Hast Du es auch gefunden? Das ‚Kleine ästhetische Bekenntnis’ von Georg Maurer. Hm, ja, viel können wir noch begreifen.“

„Und wir hätten doch noch so viel zu erzählen, vom See, dem Engel, den Wanderungen, drinnen und draußen und allem. Oder? Wir müssen hier bleiben. Ich will nicht zurück in die kleine häßliche Stadt in Mittelhessen. Nie mehr.“

„Kindskopf! Budnikowski und Pelagia erwarten uns und der Musentempel ruft, laut und das leere Konto auch.“

„Und was ist mit den übrigen Geschichten? Etliche: Vom dem Adler in mir und den Tätern und Opfern. Die Flucht in die Mythen. Die Schleuse und das sinkende Niveau. Kuddels bunte Kiste. Die Wichtel im Wald und das einsame Würzfleisch. Die Blossiner Fischerhütte und die Systemreste. Der gebackene Aal, der Zander und Fischbrötchen erlegen den Schmerz. Charlie und wie ihr Vater am nächsten Tag am Nebentisch Wodka trinkt und zu laut verzweifelt. Willi mit den glänzenden Trinkeraugen in seiner Dorfkneipe, der letztes Jahr zum ersten Mal im Westen war. Und nichts vermisst. Der alte Theatersaal in Kolberg und wie Sie dort mit Wachtmeister Krause Atemübungen machten, betrunken. Die Kirche in Dahmsdorf und das Haus, daß wir dort kaufen wollen, inklusive Gräbstätte. Fühmanns Reise nach Salzburg und Ihr Deja vu vom letzten November. Die Kraniche über unseren Köpfen gestern. Buckow und die Spuren der Familie von Bülow. Und und und.“

„Wir kommen zurück, entweder hierher oder dorthin. Ich muß nun wieder nach Portugal und mich mit Herrn Pereira unterhalten!“

„Dann fahre ich mit Herrn Budnikowski in die Berge! Ganz allein!“

„Tu das!“

„Und wir reden nur Blödsinn!“

„Auch gut! Los jetzt!“

„Nur wenn Sie mir im Zug mehr von diesem Maurer vorlesen!“

„Gerne!“

Das was Archibald Mahler an einem regnerisch kaltem Augusttag, in einem Zug kurz vor Stendal von Herrn Ernst Albert vorgelesen bekam, war eine Passage – hier aus allen Zusammenhängen geklaut und vogelfrei zitiert – aus dem ‚Tagebuch eines Lyrikers’ von Georg Mauer, geschrieben 1949. Wie klar, wie frisch heute noch.  (Danke Herr Gunnar Decker für die erhellende Fühmann – Biographie!):

„ (…) Über die Toten kann man sprechen, was man will. Sie stehen nicht mehr auf, um sich zu verteidigen – oder dein Lob schamhaft zu dämmen. Sie erschlagen dich nicht, wenn du sie schmähst, sondern deine Lüge erschlägt dich, sie erheben dich auch nicht, wenn du ihnen gerecht wirst, sondern deine Gerechtigkeit erhebt dich. Versprich nicht – denn, wenn man verspricht, verspricht man sich zumeist. Denn deine Zukunft gibt nichts auf dein Versprechen… Beruf dich nicht auf die Vergangenheit, um dich zu erweisen. (…) Sage, wie es um die Gegenwart steht. Denn das sind immer die süßesten Worte, auch wenn es bittere Pillen sind. Denn sieh, das lebendige Blut in uns ist immer süß, auch wenn es uns weh ums Herz ist. Denke über die Vergangenheit nach, aber denke dabei, daß du darüber nachdenkst und du nicht die Wahrheit der Vergangenheit, sondern deine Wahrheit auffinden willst. (…)“

Zug fahren macht müde, Abschied auch und Heimkehr sowieso. Also ist der Herr Archibald Mahler eingeschlafen. Ernst Albert schaut für Mahler aus dem Zugfenster in die Welt. Dem Ernst Albert ist es ein Stück weit heller als auf der Hinfahrt. Doch viel Nachsinnen noch ist weiterhin. Davon berichten? Nachsinnen. Ernst Albert packt seinen Bären – die baldige Ankunft in der kleinen häßlichen Stadt ward eben ausgerufen  – und was wächst dem Mahler auf dem Rücken? Flügel gar? Bis bald!

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Wolziger Seelegien / Dreizehn / Märchen

Sonntag, 24. August 2014 21:10

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Zurück. Wieder am See. Wieder an einem See. Am Ufer sitzen. Auf den See blicken. Man kann so ein ganzes Leben verbringen. Archibald Mahler hat sich Ernst Albert nicht ausgesucht, Ernst Albert hat Archibald Mahler auf der Straße gefunden. Das wissen wir. Und Mahler sitzt seit vier Jahren erstaunlich oft am Ufer eines Sees. Man fotografiert ihn dabei, wie er an den etlichen Seen sitzt und schaut. Meist von hinten und hinter Mahler zu sehen ist dann der Teil eines Sees, einer der vielen Seen. Der Wolziger See aber ist ein besonderer See. Aber? Nix aber!

Ernst Albert wollte noch ein bißchen lesen, auf einer der Bänke am See, die in den letzten Tagen – mangels Massen – so etwas wie sein Privateigentum geworden waren, den springenden Fischen zuschauen, einen besonders bewegenden Sonnenaufgang erleben. Den guten wahren Naturkitsch. Sommerzeit, das Leben ist einfach, die Fische springen und vor einigen Jahren hat man sogar das Sommermärchen erfunden. Ist es nicht herrlich? Einer der älteren Herren Dauercamper tritt an die Bank und fragt Ernst Albert, ob er denn wisse, warum die Fische sprängen? Nahrungssuche? Freude am Leben? Am Titelgewinn gar? Pustekuchen! Die springenden Fische sind kleine Fische auf der Flucht. Denn nähert sich unter ihnen ein großer Hecht oder hungriger Barsch, kann der Sprung an die frische Luft für sie lebensverlängernd sein, zumindest vorübergehend. Tja, Sommerzeit, das Leben ist einfach, die Fische springen und vor einigen Jahren hat man sogar das Sommermärchen erfunden. Ist es nicht herrlich? Der Wolziger See aber ist ein besonderer See. Heute ist er alle Seen.

Heimat

Von Görsdorf der Blick / hinüber nach Allensbach / hinter Bad Saarow im Nebeldunst / der Hohentwiel / vor seinem Schatten ein Kormoran / von West nach Ost / zieht über Launsbach eine der ungezählten Gewitterfronten / eines Sommers / vom Baum hängt das Seil / schwingt im Wind über dem Wasser / gestern noch schwang und sprang hier / ein Junge / hinab

Als Ernst Albert – gemüdet von der Ruhe – sich auf sein Zimmer zurückgezogen hatte, unterhielt sich Archibald Mahler noch ein wenig mit dem Engel. Gerne hätte er ein Foto davon ins Netz gestellt, – so eine Art Selfie, wie man heute sagt – aber der Engel, der Mahler seit einigen Tagen auf dieser Reise begleitete, war zwar – wie man das so erwartet – mit einem mildem und reinem Herzen ausgestattet, doch hatte er kotige Flügel, Würmer tropften von seinen Lidern und er sah ein wenig so aus, als habe er alle Hoffnung fahren lassen, grau, müde, hager. Wie Engel nun mal aussehen, wenn sie ihrer Arbeit, eben Engel zu sein auf dieser Welt, milden und reinen Herzens nachgehen. Und wer will dies Foto sehen? Aber lächeln, das konnte er, der Engel. Und der Wolziger See lächelte mit. Aber? Nix aber! Pst! Die Seerosen öffnen gerade ihre Blüten. Und der Herr Ernst Albert hat es so eben verpaßt. Weia! Archibald Mahler wird sich wohl kümmern müssen.

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Wolziger Seelegien / Zwölf / Krieg

Samstag, 23. August 2014 16:25

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„Was ist das, Herr Albert?“

„Mein Gott. Am achtundzwanzigsten April. Von hier nach Berlin vielleicht noch achtzig / neunzig Kilometer! Oh ihr Aufrechtgeher, wie Du gerne sagst, Mahler!“

„Wer hat das gemacht?“

„Wahrscheinlich Angehörige. Söhne. Enkel. Nachdem der Große Bruder und Befreier weg war!“

„Aber die Sowjets waren doch Befreier.“

„Auch, vor allem, aber nicht nur!“

„Wer läßt denn in solch hoffnungsloser Lage sein Leben, wenn die Schlacht schon zehnmal verloren ist?“

„So einer wie Fühmann damals vielleicht. Erst Jesuitenschüler, dann glühender Nazi, glücklicherweise – für ihn – von den Sowjets nur gefangen genommen, Umerziehungslager, später Jubelstalinist, Staatsschriftsteller, langsam der Zweifel, alkoholkrank, irgendwann Dämmerung, Wandlung, die Trakl – Erfahrung, Sturz des Engels, Biermann, Alkohol wieder, radikale Askese noch, sich bis zum Tode aufgerieben im Krieg gegen den einst verehrten Staat!“

„Warum ist er nicht in den Westen, spätestens nach Biermann!“

„Die ekelhafte Saturiertheit da drüben, sagte er!“

„Das verstehe ich ein Stück weit! Warum führt ihr Aufrechtgeher eigentlich ständig Krieg?“

„Manchmal denke ich, weil wir unser eigenes Antlitz im Spiegel nicht ertragen können. Deshalb brauchen wir dringend Feinde, wenn es geht am besten in der Gestalt eines Monsters. Und hat es sich der Krieg erst einmal bequem gemacht in den Herzen der Menschen, der Staaten, der Religionen und der Feiglinge, was dann? Na ja, weiter bis ins zehnte Glied! Und so fort!“

„Herr Albert, heute ist soviel Krieg auf der Welt, wie seit langem nicht mehr!“

„So ist das Mahler, und die, die noch vom Krieg in unserem Land erzählen könnten, sterben langsam aus!“

„Haben Sie gefragt, als Sie noch fragen konnten?“

„Viel zu wenig, Mahler, viel zu wenig! Viel Zeit war leider auch nicht! Deshalb die Bücher. Deshalb auch Fühmann. Fremde Väter!“

„Der Krieg bleibt in Euch wohnen, auch wenn die Enkel es nicht wahrhaben wollen?“

„So kann man es sehen!“

„Und wie ging es mit dem Monolog weiter?“

„Ich habe ihn ein paar Mal aufgeführt. In der Heimat meiner Eltern. Erfurt. Jena. Rudolstadt. Weimar. Zwischen Mauerfall und Zusammenschluß Ost / West damals. Das Interesse war begrenzt. Es ist sehr anstrengend. Das wußte ich damals noch nicht.“

„Lassen Sie uns unter der Eiche ein wenig ruhen, Herr Albert!“

„Ja, das war ein voller Tag!“

„Bleiben Sie dran am Krieg, Herr Albert. Was da ist, ist da!“

„Ja, nicht anfangen zu wissen, bevor man begreift!“

„Und jetzt Schnauze, Aufrechtgeher!“

Unter der Dorfeiche von Schwerin endet ein Tag

Einer Eintagsfliege gleich / unter Deinen Jahrhunderten / ein böiger Nordost fächelt hinüber den Geruch von Pferden / ein Kleinwagen der Diakonie hält / ein kurzes Nicken / ein alter Mensch wird zu Bett gebracht vielleicht / Kohlweißlinge tanzen überm Klee / ein Mädchen streichelt sein Pferd / Wiehern und Lachen / der Rücken schmerzt nicht mehr / so jung ich unter Deinen Blättern / Ruhe

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Wolziger Seelegien / Elf / Grab

Freitag, 22. August 2014 16:43

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Archibald Mahler mag Friedhöfe nicht. Außerdem ist er – bei weiterhin guter Behandlung – unsterblich. Er blieb draußen vor dem Tore und bewachte das dort abgestellte Fahrrad. In guter Gesellschaft.

Ernst Albert hält sich gerne auf Friedhöfen auf. Er findet dort die Ruhe, bevor er da zur Ruhe kommen wird. Fühmanns Grab ward gefunden. Die bekannte Inschrift lesbar noch.

„Ich grüße alle jungen Kollegen, die sich als obersten Wert ihres Schreibens, die Wahrheit erwählt haben.“

Noch. Wie lange noch? Lesbar einerseits, als Anstoß ankommend andererseits? Der Engel – linker Hand des Grabsteins – leicht geneigt nach vorne steht er, noch nicht gestürzt, seinen Kopf etwas gesenkt. In welchen Abgrund blickt er? ‚Vor Feuerschlünden’, so der Titel der Erstveröffentlichung des besagten Monologes,  einst in der ehemaligen Ex – DDR. Der Lektor / Verlag / ??? / West machten daraus: „Der Sturz des Engels“. Man muß das Buch lesen. Dann kann man darüber reden.

“Was uns anstrengt, lassen wir verwittern, lassen wir verkommen.” So dachte Ernst Albert und suchte den Friedhof nach einem schönen runden Gedenkstein ab, um ihn aufs Grab zu legen. Schwierig. Trockener Boden. Zerbrochene Ziegel. Sand. Kaum Steine, nicht mal Kiesel. Das Bier und etliche Liter Wasser fordern Freiheit. Ein Komposthaufen. Die hinterste Ecke. Brennesseln. Brusthoch. Durch den Zaun in den Wald. Schändung? Vor dreissig Jahren und wenigen Tagen standen sie hier und versenkten einen Sarg. Logen oder weinten. Es soll in jenem Sommer genauso heiß und drückend gewesen sein wie heute.

Einen Stein gefunden, nicht rund, eckig, rauh, einst Teil eines eingestürzten Gebäudes, mit Hämmern (und Sicheln und Zirkeln) bearbeitet, vielleicht. Einen Zweig eines Lebensbaums dazu gelegt. Am Grab eine Bank sei Dank und sitzen und nachsinnen. Nicht der Wahrheit. Zu groß das für heute. An diesem einen Grab nur sitzen und an den anderen Gräbern so auch sitzen. Am Grab eines untergegangenen Staats. Falscher Hoffnungen? Einst richtiger Hoffnungen auch. Des Vaters. Der Träume, ersoffen, mit Steinen beschwert versenkt in den Tiefen der Sachzwänge und Gier. Der Gegenentwürfe, trotzig und wohl überlegt. Des Anderen? Des nach Auschwitz einzig möglich Anderen? Einer verlorenen Liebe. Gedankenlos weggeschmissener Lieben. Liebeleien? Utopien. Illusionen. Ach, all die den Tod in Kauf nehmende Besserwisserei. Das Kettenkarussell dreht sich. Aus dem mitgebrachten Buch fällt ein Zettel, dreißig Jahre alt wohl:

“Bei dem im Impressum auf Seite 4 angegebenen Preis handelt es sich um einen Druckfehler. Der Preis für dieses Exemplar beträgt 13,80 M.”

Fühmann: Erzählungen 1955 – 1975. Ab Seite 143: ‘König Ödipus – Eine Idylle’. Die Untoten grinsen weiterhin. Penetrant bleiben die Träume, noch pochen sie. Vergessene Besuche. Kindliche Fragen. Feige Zweifel. Zeigefinger. Systeme. Würgegriffe weiter. Kontrollverlust verleugnet. Schuld? Wenig Sühne. Rückwärts geblickt und wissen: lesen, lesen, lesen müssen. Am Grabe weiter graben auch. Nahe des Zauns, da hinten, neben der kleinen Kapelle, eine frisch ausgehobene Grube: hinein mit dem ganzen alten Zeugs? Wirklich? Nein. Täuscht Euch nicht. Noch geht es bergauf. Noch. Nichts ist vorüber. Nichts. Ein Satz Fühmanns aus einem Brief an einen deutschen Kulturfunktionär gleitet vorüber:

„Einer grünen Bank wird vorgeworfen, daß sie kein blauer Tisch ist!“.

Weia! Mittags um zwei, bei fünfunddreißig Grad im märkischen Schatten darf man kein Bier trinken oder besser gleich zehn.

Archibald Mahler hatte inzwischen sein Gespräch mit dem Engel beendet. Man war sich nicht fremd, hatte man doch schon in der Dorfkirche von Selchow kurz miteinander gesprochen, Äpfel kauend.

„Herr Albert, vor uns liegen noch fast vierzig zu radelnde Kilometer und Sie sind mein Chauffeur!“

„Uff!“

Das Fahrrad rollte weiter, Mahler feuerte an: Gepäckträgerpoesie!

Fühmann ist der bessere Brecht

Oder

Zum Sieg gehört die Niederlage

Wie der Maulwurf / der sich gräbt wühlt ackert / unermüdlich unerschrocken unerbittlich / durch das Bergwerk / die Stollengänge seines Lebens / dessen getrübtes Auge nicht sieht den nahenden Stiefel / einmal nur die Sonne auf seinem Fell einmal nur / Tereisias ach Tereisias / der Stiefel des Bauern / fährt nieder / einmal nur die Sonne auf seinem Fell wollte er spüren / der Schädel bricht als / die Sonne auf seinem Fell glitzerte sekundenlang / bevor er schob seinen Schädel hinaus ins Licht

„Mahler, weißt Du was Christa Wolf über den Franz Fühmann  geschrieben hat?“

„Sag an, Chauffeur!“

„Sie schrieb: ‘Ja, rigoros ist er gewesen, und er war mir immer ein wenig unheimlich in seiner Unbedingtheit… Er konnte verachten, anhaltend und unversöhnlich. Aber er konnte auch – fast möchte ich sagen: vor allem – rückhaltlos bewundern und bejahen.’ Ich mag das.“

“Kann ich mir denken!”

Dann lachten Archibald Mahler und Ernst Albert auf, gleichzeitig. Am Ortsausgang von Märkisch Buchholz – gewiß linker Hand – über der Tür einer aufgegebenen Kneipe grüßte: dieses Schild.

„Bär Archibald Mahler, das glaube ich jetzt nicht.“

„Herr Ernst Albert, der Ketzer ist der erste unter den Gläubigen!“

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Wolziger Seelegien / Zehn / Erfahrung

Donnerstag, 21. August 2014 14:23

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„Unter Dornenbogen / O mein Bruder klimmen wir blinde Zeiger gen Mitternacht.“

Obige Zeile aus einem Trakl – Gedicht als fernes Echo im Kopf. Rechter Hand das Ortsschild: ‚Märkisch Buchholz / Landkreis Dahme – Spreewald’. Zweihundert Meter weiter, auch rechts: Grabsteine, frisch behauen, ungenutzt noch. Eine Sandstein – Stele, beschriftet: ‚Naturstein Weber / Grabmale – Baumaterialien’. Ernst Albert mußte kopfschüttelnd lachen. Weber, so hieß der Mann, der Ernst Albert vor mehr als zwanzig Jahren, damals an jenem Musentempel in Süddeutschland, mit dem Dichter in Berührung gebracht hatte. (Lieber Manfred, ich hoffe es geht Dir gut. Man arbeitet, verliert sich aus den Augen, liest gelegentlich noch vom Anderen. Gutes. Trauriges. Belangloses. Perdu!) Linker Hand die Kirche, ein Platz, ein kleiner Edekamarkt. Nachfragen. „Ja, die Franz – Fühmann – Begegnungsstätte, gleich hier links die Straße runter, fünfhundert Meter bis zur Alten Schule. Das Grab? Das Grab die andere Richtung, einen Kilometer über den Kanal, dann links. Sieht aber nich so dolle aus, das Grab. Die Tochter. Will wohl nicht so recht.“ Das antwortete die freundliche Verkäuferin. Bedanken und Wasser kaufen, viel Wasser an diesem glühenden Tag.

Auf einer Bank im Schatten der Kirche Rast. Die Hitze hat den mitgeführten Proviant – Brot, Käse, Äpfel – zu einer amorphen Masse verschmelzen lassen. Das Fell des Bären jedoch blieb verschont.

„Wollen Sie noch mal anrufen, Herr Albert?“

„Einmal noch! Gut!“

Ernst Albert hatte in den letzten Tagen mehrfach versucht, unter einer Nummer des Franz – Fühmann – Freundeskreises jemanden zu erreichen, der ihm das ehemalige Wohnhaus des Dichters zeigen könnte und vor allem jene Garage, in der er sich zurückzog, um zu schreiben. M. Weber hatte ihm Fotos dieses Ortes gezeigt. Die damalige Faszination ist ihm heute noch präsent und spürbar. Keiner ging ans Telefon. Kein Anrufbeantworter sprang an.

„Wieder nix. Egal!“

Wenig später vor der Alten Schule in Märkisch Buchholz. Eine Hinweistafel: ‚Franz Fühmann – Begegnungsstätte / geöffnet Donnerstag 14.30 h – 16.30 h’. Es war Mittwoch. Zwei Stunden Gedenken die Woche. Wenig für einen Wichtigen! Aber wer entscheidet dies schon? Die Straße runter: der kleinste Biergarten der Welt. Drei Tischlein, zwölf Stühle unter einer Eiche.

„Wo, Herr Albert, setzt ihre Erinnerung ein?“

Und Albert erzählte dem Herr Mahler, Bär sowie aufmerksamer und kompetenter Zuhörer, wie ihn vor vierundzwanzig Jahren das erste Mal der heimtückische und bösartige Kreuzschmerz heimgesucht hatte, ihn Wochen und mehr aus allen Bahnen geworfen hatte und wie ihm, als er in den – zwischenzeitlich schon aufgegebenen – Beruf zurück humpelte, sein damaliger Intendant – jener Weber – vorschlug Fühmanns ‚Sturz des Engels / Erfahrungen mit Dichtung’ – ein grandioses Werk über eine lebensbegleitende und –durchforstende Erfahrung mit und durch die Gedichte Georg Trakls…

„Waren Sie nicht letzten Herbst auch in Salzburg, Herr Albert?“

„Natürlich! Der Kapuzinerberg! Der Kreuzweg! Aber davon später!“

…wie ihm also der Weber vorgeschlagen hatte, den ‚Sturz des Engels’ als Monolog zu arbeiten. Und er erinnerte sich, wie er damals – aufgerieben vom Liegen, vom der würdelosen Humpelei, von Medikamenten, von Befürchtungen – dieses Rilke – Zitat (aus Malte Laurids Brigge) im Vorwort  zum ersten Mal gelesen hatte:

„Denn Verse sind nicht, wie die Leute meinen Gefühle (die hat man früh genug), – es sind Erfahrungen. Um eines Verses willen muß man viele Städte sehen, Menschen und Dinge, man muß die Tiere kennen, man muß fühlen, wie die Vögel fliegen, und die Gebärde, mit welcher die kleine Blumen sich auftun am Morgen. Man muß zurückdenken können an Wege in unbekannten Gegenden, an unerwartete Begegnungen und an Abschiede, die man lange kommen sah, – an Kindheitstage, die noch unaufgeklärt sind, an die Eltern, die man kränken mußte, wenn sie einem eine Freude brachten, und man begriff sie nicht… Und es genügt auch noch nicht, daß man Erinnerungen hat. Man muß sie vergessen können, wenn es viele sind, und man muß die große Geduld haben, zu warten, daß sie wiederkommen. Denn die Erinnerungen selbst sind es noch nicht.“

Selbstmitleidiges Gefühle beim Lesen damals wahrscheinlich, fern jeglichen Begreifens, Ahnung vielleicht. Heute einige Meilen die Straße weiter runter gereist zumindest: Erfahrungen. Hoffentlich. Der Wirt des kleinsten Biergartens der Welt brachte die angeforderte Rechnung. Großes Bier. Zwei Brühwürste. Brot. Drei Euro zehn.

„Fahren wir zum Friedhof, Herr Albert!“

„Herr Mahler, gerne bin ich Ihr Chauffeur!“

Mittagshitze, biergeweicht, und ein neues Echo aus Trakls Feder in Ernst Alberts Schädel:

„Der Wahrheit nachsinnen / – viel Schmerz.“

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Wolziger Seelegien / Neun / Ränder

Montag, 18. August 2014 19:09

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Am Rande des ausgedehnten Waldgebietes zwischen Prieros und Märkisch Buchholz wartete Herr Archibald Mahler. Herr Ernst Albert jedoch war pünktlich, also wartete Mahler nicht, denn erst wenn der Erwartete eine vereinbarte Zeitlinie überschritten hat, sich somit am Zeitkonto des Wartenden vergreift, auf diese Weise Zeit aus dem fremden Zeitkontor ins eigene Zeitlager wandern lässt, erst dann wird gewartet. Aber Ernst Albert ist pünktlich aus tiefer Überzeugung, auch wenn er gerne den einen Satz, den George Tabori seinen Shlomo Herzl in „Mein Kampf“ sprechen läßt, zitiert und ihn mit großer Freude unzählige Male auf den Musentempelbrettern rezitiert hatte, diesen manchmal, aber heute so nicht wahren Satz: „Warten ist die wahre Zeit!“

Mahler also wartete nicht, nutzte eigene Zeit und sann nach über die Ränder: „Ich, am Rande sitzend, blicke hinüber zum nächsten Rand, dem Rand, der, mich anblickend über eine Lichtung hinweg, gegenüber meines Randes, der trennend, Beginn des Waldes definierend, Ende der Lichtung auch (eine Frage!), doch Rand ist. Da aber, wo ich am Rande sitze, eine Lichtung beginnt, also hinter mir ein anderer Wald endet, und drüben dann ein Viech tritt – nicht der erträumte Elch, hier lebt er leider nicht – hinaus auf die Lichtung, über den Rand hinaus und hinein in die Lichtung, der Wald hinter seinem Spiegel endend, ziehe ich mich zurück ins Dunkle, und es endet vor meiner Nase ein Wald, die Lichtung sehe ich weiterhin doch, verschattet. Die Ränder bleiben, wohl überschritten. Kein Ort des Bleibens, der Rand. Verweile Rand. Bis später.” Dachte Mahler mal.

Ernst Albert hatten die Ränder stets angezogen. Straßenränder. Waldränder. Wundränder. Randbezirke. Ufer. Rampen. Tresen. Ein Dichter, sein Grab in Märkisch Buchholz das Ziel, habe sich an den Rand der Welt zurückgezogen, kann man hier und dort lesen. Klingt hübsch, schön bildhaft, ein klein wenig schicksalsdräuend, angehaucht dramatisch auch. Am Rande der Welt also und dann: Grenzerfahrung? Man lasse sich letzteres Wort erst von einem – Verzeihung, liebe Tastatur für die folgende Eingabe! – Extremsportler mit Inhalt füllen, anschließend von einem Menschen, der sein ganzes Leben in der DDR lebte. Freiwillig und unfreiwillig. Noch etwas mehr als zwanzig Kilometer durch den Forst. Die Sonne ist zurückgekehrt. Angenehme dreißig Grad im Schatten.

Archibald Mahler, in seiner Tasche auf dem Gepäckträger als sehender Passagier unterwegs, verweilte zurückgelehnt nachsinnend, da auf der heutigen Strecke weder Schlaglöcher, Sandkuhlen, von Ulbricht eigenhändig verlegte Plattenwege, noch hinterhältiger Schotter seinen Pöter plus Denkkopp erschütterten. Er sann darüber nach, ob eine Einrichtung der Welt als eine Scheibe nicht durchaus sinnstiftend sei. Damit sei der Rand, in diesem – ja – Fall als Endliches definiert. Beim Erreichen des Randes – Den Sicherheitsabstand nicht vergessen! Rheinfall und so! – mag man in den Abgrund blicken, angesichts des auf– und/oder eintretenden Schauderns sich seiner Endlichkeit bewußt werden und jegliche Unendlichkeiten getrost den Händen der Götter überantworten. Tod den Rekorden!

Ernst Alberts Rücken verhielt sich freundlich, denn ruhig rollte das Rad, geradeaus meist, durch den Kiefernwald gen Märkisch Buchholz, jenen Ort am Rande der Welt, von wo aus jener Dichter – auch dies wurde schon gelesen – „der Welt den Rücken zugekehrt hatte.“ Und Ernst Albert, dessen Rücken heute nicht von Schlaglöchern, Sandkuhlen, von Ulbricht eigenhändig verlegten Plattenwegen, noch von hinterhältigem Schotter malträtiert wurde, dachte, daß es vielleicht gänzlich anders sei. Das dachte er:

Kurz vor Märkisch Buchholz

An den Rand rücken / an den Rand der Welt / rücken / den Rücken der Welt / zugewandt / dir Welt dir zugewendet / mein Rücken / dir zugewandt / suche ich nicht dich / aber einen Spiegel / zu beschreiben die Sache / nicht rühmen / nicht klagen / beschreiben / vor der Ruhe / unvollendet

Wieder bohrte sich etwas in den Rücken des Radfahrers – weder Welt, noch Schmerz – die sanfte Pfote des Archibald Mahler war es. Sie wies auf eine Tafel am Rande des Weges, eine Tafel, die stand im Walde vor sich hin – sie zu finden, stand nicht in des Bären Sinn – ein Haiku sei zu lesen, auf der Tafel im Walde am Wegesrand, wenige Kilometer vor Märkisch Buchholz war es gewesen.

Schau, der junge Hirsch

Schüttelt ab

Den Schmetterling

Und schläft

Wieder ein

(Kobayashi Issa)

Kurz stand man am Rande des Weges. Dann kehrte man dem Gedicht den Rücken und rollte weiter.

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Wolziger Seelegien / Acht / Scheißwetter

Sonntag, 17. August 2014 0:01

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Diesen einen Tag gibt es immer wieder. Im Leben. Im Urlaub. Im Fußball. Und sonst. Der Wetterteufel scheißt am dicken Haufen nicht vorbei. Es regnet nicht, es schüttet. Man erwartet jeden Moment, daß die Arche Noah um die Ecke schwimmt und darf aber davon ausgehen, daß man in seiner gottgegebenen Mittelmäßigkeit gewiß kein Ticket für die Fahrt auf den Berg Ararat gewonnen hat. Vielleicht der Archibald Mahler mag da mitfahren, aber nicht ein durchschnittliches Gescheitle namens Aufrechtgeher. Also bleibt: man muß im Selbstmitleide seiner Verkanntheit ausrufen: „The full catastrophy!“ Sonst?

Der Schmerz in Ernst Alberts Kreuz löste sich langsam auf, jedoch vor dem Fenster seines Zimmers am Wolziger See zog es sich zu. Feuchtigkeit kroch durch alle Ritzen und ins Gewebe. Offene Schleusen. (Eben nicht. Aber davon unten.) Aus Pfützen wurden Seen, die Luftfeuchtigkeit rheumatisierte freudig vor sich hin und dann noch dieses Prasseln. Dieses penetrante Getrommel. Dieser gnadenlose Tropfenbeat. DJ Nordmeertief legt auf. Unaufhörlich, wie das Gebrabbel eines Sportreporters. Gut, nicht ganz so unerträglich, aber schlimm aber auch. „Scheißwetter!“ Ernst Albert fluchte und lachte doch, da der Oberlehrer in ihm ihn daran erinnerte, wie dies Wort, dieses so oft unbedacht ausgesprochene Wort „Scheißwetter“ einst entstanden. „Und, Albi, wosch es noch?“ „Klar, Göbi! Also: Wie damals im Mittelalter der Durchschnittsgermane und heutige Faulsack noch nicht ans öffentliche Servicenetz angeschlossen war und man einst – so definierte man Familie – ‚ins selbe Nachtgeschirr gepisset’ (Zitat Herr Luther) oder – so bekräftigte man die Freundschaft – ‚durchs selbe Loch geschissen’ (auch von Luther), da ließ man den Topf, Krug oder welch Gefäß auch immer, im Zimmerlein stehen bis das der Regen wieder nieder rauschte. Dann trat man ans Fensterloch und mit entschlossenem Schwung hinaus mit dem Geschäft auf die Gass’ und der Wasserschwall nahm den Unrat mit, wohin auch immer.“ „Genau! So isch es!“ Ernst Albert blickte aus dem Fenster und dachte: Ein ordentliches Scheißwetter also braucht man und wird so tätig und räumt auf. Bene! Es hat auch lang genug gestunken im wohlfeilen Sonnenschein.

Herr Archibald Mahler wiederum hatte sich einen gänzlich unphilosophisch nassen Arsch zugezogen auf der Bank, auf der er saß. (‚Arsch’ darf man mit Luther sagen und die Mark Brandenburg ist sowieso Protestantenland.) Conclusio: Schleusenwärter hin und her, solch ein Wetter fesselt den Aufrechtgeher an sein Heim und deshalb in Sachen ‚Niveau hoch und dann wieder runter, um die Weiterreise der Schiffe in all den Gewässern zu ermöglichen und zu sichern’, da stellt bär fest, da iss nüscht los, und: Mahler, da kannste dich vom Acker machen. Und jetzt sitzt folgendermaßen der Bär am Rand eines Ackers und bemerkt, daß so ein ‚Scheißwetter’ doch eine rechte Freude ist. Herrliche Einsamkeit! Diese Ruhe. Hörst du? Eben! Herrlich.

Ernst Albert aber ist unruhig. Er hatte dem Archibald Mahler doch versprochen, ihn an der Schleuse in Kummersdorf abzuholen, um dann nach Märkisch Buchholz zu radeln. „Scheißwetter!“

Archibald Mahlers Fell saugt sich mit Wasser voll, aber bevor er zu schwer wird, schreibt er ein Verslein, welches er morgen dem Ernst Albert überreichen könnte, wenn der ihn abholen will und die Sonne zurückgekehrt sein wird.

Scheißwetter

Über dem Kopf / dem von vorgestern / den zu verlieren ich anstrebte / über allem was mir noch fremd / flogen Schwalben dahin / Die nächste Hitze / die da kommen mag / drückt alle Mücken / zu Boden.

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Wolziger Seelegien / Sieben / Schmerz

Freitag, 8. August 2014 18:36

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Nicht vom Diffusen sprechen, nicht von den Tunneln und Schächten, die das Fundament durchziehen, auf dem dein Haus stehen mag, nicht vom Pathos falscher Reue, nicht von Scham und Selbstekel, nicht vom wolkenverhangenen Blick in einen Spiegel, der sich auch nennen mag „Der Andere“, nicht von den alten Bildern, die immer wieder scheppernd von den Wänden fallen, nicht von Schuld und Schulden, nicht von überzogenen Krediten, nicht vom Wolkenkratzer Erwartung, nicht vom Canyon Realität, nicht vom klagenden Blick auf die Quittungen, die auf deinem Nachttisch liegen, nicht von den gnadenlos kichernden Nachtmaren, nicht sprechen von einer dieser Varianten, die wir gerne betiteln als  einen Schmerz. Mit Antonio Tabucchi dies:

Plop, plopp, plopp, ploppp:

„Der Schmerz, der ihn weckte, lief über das linke Bein, von der Leiste bis zum Knie, aber der Ursprung saß woanders, das wußte er inzwischen allzu gut. Mit dem Daumen glitt er vom Steißbein er nach oben, und als er zwischen dem dritten und dem vierten Wirbel angelangt war, verspürte er im ganzen Körper eine Art Stromschlag. Als ob sich an dieser Stelle ein Radiosender befände, der seine Wellen überallhin sendete, vom Hals bis in die Zehenspitze. Er versuchte sich im Bett umzudrehen. (…) Er betrachtete seine Zehen und dachte an den armen jungen Mann aus Prag, der eines Tages völlig verwirrt aufgewacht war, weil er nicht auf dem Rücken, sondern auf einem Panzer lag, zur Decke seines kleinen Zimmers aufblickte – die er sich aus irgendeinem Grund himmelblau vorstellte -, die behaarten Beinchen vergeblich zu bewegen versuchte und sich fragte, was er tun solle. (…)“

Ernst Albert hatte gestern Abend versucht sich mit dieser Erzählung müde zu lesen, was ihm nicht wirklich gelang, weil er selten zuvor sein altes Rückenleiden so ‚schön’ beschrieben gelesen hatte. Die Hilflosigkeit und die blinde Wut und das  Staunen darüber, was ein Leib so alles vermag. Heute nun war er an einer der ungezählten, kleinen und wunderbaren Badestellen an einem der vielen kleinen Seen in der Mark ins warme Wasser gestiegen. Er trieb auf dem Rücken dahin, ihm war leicht, er sang vor sich hin und ihm war – oh bittere Euphorie – als röche er die Ahnung einer anderen Richtung, die so ein vermaledeites Leben einschlagen könne, sein innerer Jubel stieg wie Seifenblasen hinauf in den Mittagshimmel. Plop, plopp, plopp, ploppp! Si, si, Signore Tabucchi! An Land, gekrümmt die Badehose wechseln wollend, das Handtuch um die Hüfte geschlungen, auf einem Bein balancierend wie ein trunkener Storch, um seine Scham zu verbergen vor zwei 80 -  jährigen Damen, richtete er sich wieder auf, als der altbekannte Schmerz ihn durchschoß, so heftig wie schon lange nicht mehr, dieser miese Schmerz sich wie ein Messer zwischen seine abgescheuerten Wirbel bohrte und der Atem still stand, erklärt Ernst Albert.

Einige hundert Meter weiter musste man das Rad und sein Leben schieben. Eine Bank. Albert und Mahler verharren. Bär entspannt. Aufrechtgeher leicht panisch. Sitzversuch. Gehen. Sitzversuch. Gehen. Hilflos warten. Zu sich zu kommen. Versuch. Tabletten. Bier. Ein nun sehr lauter Fluch, feucht im Augenwinkel. Archibald Mahler, nebenberuflich ein erfahrener Tröster, greift zum Herrn Brecht. Man mag ihn eigentlich nicht, den eitlen Sack, der – immer noch – Leitstern für etliche eitle Monomanixe im Zirkus Musentempel. Dennoch: manchmal hört man den Alten gern:

Alles wandelt sich

Alles wandelt sich. Neu beginnen / Kannst du mit dem letzten Atemzug. / Aber was geschehen, ist geschehen. Und das Wasser / Das du in den Wein gossest, kannst du  / Nicht mehr herausschütten.

Was geschehen, ist geschehen. Das Wasser / Das du in den Wein gossest, kannst du / Nicht mehr herausschütten, aber / Alles wandelt sich. Neu beginnen / Kannst du mit dem letzten Atemzug.

Das Bier ward leer. Der Rücken antwortete wieder. Etwa acht Kilometer noch von dieser Bank aus zurück nach Hause – die Hälfte davon ist Kopfsteinpflaster. Halleluja! Man überlebte im ersten Gang. Jetzt liegt der Malade im Bett und die Medizin beginnt zu wirken.

„Herr Albert, ich lasse Sie jetzt alleine!“

„Wohin?“

„Ich gehe nach Kummersdorf!“

„Nicht übertreiben! Wird schon wieder!“

„Nein, keine Symbolik. Die Schleuse ist mein Ziel!“

„Ach, dort hinter Philadelphia!“

„Ja. Ich will den Schleusenwärter besuchen. Vielleicht lerne ich was.“

„Wie?“

„Also, Niveau senken und wieder heben und senken. Den ganzen Tag!“

„Das ist gut!“

„Ruhen Sie sich aus. Und das unten noch für Sie. Bis bald!“

Kummersdorfer Klugscheißerei von Archibald für Ernst

Und die Frage bleibt / warum das sich bücken / geschmeidig / der Schwerkraft folgt, / während der stechende / Schmerz beim Versuch, / sich wieder aufzurichten, / hohnlacht. / Dieser miese Hund.

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Wolziger Seelegien / Sechs / Wind

Donnerstag, 7. August 2014 12:58

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Biegst du, über den alten Plattenweg von Gönsdorf her kommend, am Dorfplatz von Klein Schauen (Kopfsteinpflaster, Dorfeiche, Feuerwehrhaus mit Storchennest, Kirche, Bushaltestelle) rechts ab, kommst du nach Groß Schauen. Durchquerst du – dich links haltend – den dortigen Dorfplatz (Kopfsteinpflaster, Dorfeiche, Feuerwehrhaus mit Storchennest, Kirche, Bushaltestelle), befindest du dich wieder in einem Kiefernwald. Fahr weiter und geradeaus Richtung SSW. Nach einem oder vielleicht zwei Kilometern stellst du dein Rad ab, nimmst den Trampelpfad linker Hand durch kniehohe Wiesen und Felder, bereitest dich auf einen Großangriff hungriger Stechmücken vor und findest nach einer halben Stunde den Turm.

Archibald Mahler saß auf dem Holzgeländer, welches die oberste Aussichtplattform des Turmes sicherte, geschätzte zwanzig Meter über den Erdboden. Man sollte anmerken, daß im Laufe des Tages ein tückisch böiger Nordost – Wind eingesetzt hatte. Dieser unberechenbare – noch direkt von vorne kommende – Wind drückte Mahler gegen den Pfosten, an den ihn Herr Ernst Albert mit der ihm eigenen Risikobereitschaft (ja, natürlich steigt da der eh schon zu hohe Blutdruck ängstlich an) gesetzt hatte. Herr Mahler war aber zu beschäftigt mit dem großen Schauen, als daß er sich der existentiellen Wackeligkeit seiner Position bewußt werden konnte. Weites Land. Leeres Land. Stilles Land. Keine Aufrechtgeher. Nun gut, die Spuren eines fetten Jeeps unten im Gras sichtbar und den Turm muß ja auch jemand gebaut haben … egal!

Ernst Albert griff behende zu, in jenem Moment als eine seitliche Böe den besten aller Bären schon ergriffen hatte und in den jähen Abgrund schleudern wollte, mußte aber dafür das Notizheft, welches er bei sich führte, um Eindrücke und Hirnskizzen festzuhalten, außer acht lassen und einige lose Blätter segelten Richtung Abgrund oder … nun: irgendwohin. Dummerweise hatte der Wind die ersten Seiten der allerersten Notate, die im ICE kurz hinter Stendal zur Niederschrift gebracht wurden, erfaßt. Keine große Kunst, eher Dokument eines nicht wirklich erfreulichen Zustandes von Leib und Seele, aber nun mal notiert und ein Beginn und der Vollständigkeit halber durchaus von gewisser, auch emotionaler Bedeutung. Dreimal den Turm hoch und runter, Mahler inzwischen windfest verstaut. Etliche Flüche, dumme Selbstbeschimpfungen trug der Wind über den Schauener See. Dem war es gleich. Die Suche blieb erfolglos.

Archibald Mahler bot ein kleines Stückchen Überbrückungsvers an.

Heimat eins

Ich mag nicht mehr vergleichen. / Ich mag dort sein, / wo ich gewesen war. / Bleiben, / wo ich sein werde. / Der Wind weht mich ins / Nirgends. / Überall.

Ernst Mahler dankte, unwirsch noch, doch erfreut über einen Denkanstoß. Übers Reisen, die Heimat, Aufbrüche, Abbrüche und Wiederkehr, Scheitern, die Kunst und die Worte generell galt es noch intensiv nachzusinnen. Aber erst nach Märkisch Buchholz. Ein vierter Abstieg vom Turm, man brach auf.

„Herr Albert, schauen Sie mal, was da im Gras liegt.“

„Wahnsinn, ich glaube es nicht. Vom Turm bis zu diesem Wäldchen, das sind ja fast zweihundert Meter. Unfaßbar!“

„Herr Albert, bitte messen Sie dem Fund Ihrer Notate keine allzu große Bedeutung bei! Dank genügt“

„Ja, Gott sei Dank! Sie, bester Mahler, wären bestimmt nicht so weit geflogen!“

„Wer weiß?“

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Wolziger Seelegien / Fünf / Äpfel

Mittwoch, 6. August 2014 12:07

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Natürlich läuteten keine Kirchenglocken den Weg zu weisen in den Wäldern zwischen Klein – Eichholz, Streganz und Selchow, in den knirschend trockenen Wäldern, die Archibald Mahler auf dem Gepäckträger eines Mietrades querte, froh gelaunt, offenen Auges, lauschenden Ohres, keineswegs leidend unter der glühenden Hitze, die selbst in die letzten Zipfel des Waldschattens gekrochen war, Stamm, Ast, Laub, Nadel, Moos, Gräser, alles dörrte und zermürbte, doch nicht das Hirn des Bären, denn Mahler wußte, wer unterwegs ist, kommt irgendwo an, benötigt keine Hinweise, sei es auf Tafeln, von oben nicht oder unten oder sonstwo her, es genügt dem Impuls zu folgen und weiter geht man. Erst jener, der sich verlaufen hat, macht die Augen auf. Und so fand Mahler eine unbeschilderte Kreuzung im tiefen Forst weitaus interessanter als eine ausführlich beschilderte.

Ernst Albert hätte Archibald Mahler da gerne rückhaltlos zugestimmt, aber der Rücken, die Oberschenkel, der brennende Nacken, das klebende Hemd sowie Alter, Herkunft und Werdegang meldeten Bedenken an. Kontrolle! Plan! Präzision! Eindeutigkeit! Der hervorgestoßene Fluch richtete sich jedoch gegen den Absender selbst und machte umgehend Platz einem vagen Wunsch, daran glauben zu können, ja sogar darauf vertrauen zu können, daß ein Umweg zu einem neuen, gar die Augen öffnenden, vielleicht still gewünschten, erhofften Ziel führen möge, daß eben die vielbesungene Koinzidenz, daß diese, wissend, vorhersehend, den Reisenden führt! Von wo? Wer?

Selchow! Ein Straßendorf, das sich zwischen zwei Wäldern durch abgeerntete Felder windet, einer bewohnten Schlange gleicht, in deren Mitte, als habe die Schlange ein großes Kaninchen herunter gewürgt (Verzeihung für dieses Bild, bester Herr Budnikowski!), ein ovaler Platz sich auftat, uralte Eichen, das Feuerwehrhaus mit Schlauchturm, Storchennest (unbewohnt) und die Kirche. Freundliche Ruhe, ein Traktor rattert vorüber, ein älteres Ehepaar führt den Hund spazieren, man grüßt, entspannt. In der offenen Kirche empfängt wohltuende Kühle, einer der an der Pforte angekündigten Engel fächelt Luft zu und reicht ein Blatt. Ein Text von Hans Dieter Hüsch. Ernst Albert erinnert sich an den Geschichtenerzähler und Prediger vom Niederrhein, erinnert dessen knarzende, nasale Stimme und den Sound der elektrischen Tischorgel, mit der er seine rasend vorwärts stürmenden Wortkaskaden begleitete, gliederte, durchschoß. Ernst Albert las:

Juni – Psalm:

Herr, es gibt Leute, die behaupten, der Sommer käme nicht von dir. / Und begründen mit allerlei und vielerlei Tamtam und Wissenschaft und Hokuspokus, / daß keine Jahreszeit von dir geschaffen und daß ein Kindskopf jeder, der es glaubt. / Und daß doch keiner dich bewiesen hätte und daß du nur ein Hirngespinst./ Ich aber hör nicht drauf und hülle mich in deine Wärme. / Und saug mich voll mit Sonne und laß die klugen Rechner um die Wette laufen. / Ich trink den Sommer wie den Wein. Die Tage kommen groß daher / und abends kann man unter deinem Himmel sitzen und sich freuen, daß wir sind und unter deinen Augen leben.

Ein Gebet sprechen? Warum nicht! Für diesen Tag galt es sich zu bedanken. Und für den Umweg erst recht. Wo das Glück einen hinführt.

Archibald Mahler saß derweilen auf den Stufen vor der Pforte und beschäftigte sich mit dem Reiseproviant. Äpfel aus dem hiesigen Pfarrgarten. Äpfel! Pfarrgarten! Der Garten Eden! Die Erkenntnis! Das Feigenblatt! Paris und Helena und Aphrodite! Der Krieg um Troja! Die Odyssee! Weia! However: an apple a day, keeps the doctor away.

“Herr Albert, da gibt es doch so ein altes Gedicht, von dem Mann, der an die Kinder Äpfel verteilte und als er tot war, wuchs der Baum aus seinem Grab und das war doch auch hier irgendwo in der Gegend!“

„Fast, Herr Mahler, fast! Aber in diesem Gedicht handelte es sich um eine Birn’, die der gute Herr von Ribbeck auf Ribbeck an die Jungs und Dirn’ verteilte!“

„Kann man eigentlich, statt zu beten, auch so einen Apfel essen?“

Das waren die Fragen, für die Ernst Albert seinen Bären liebte. Die Äpfel mundeten sehr.

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