Beiträge vom August, 2014

Wolziger Seelegien / Vier / Sand

Montag, 4. August 2014 20:39

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Vierzig Euro für acht Tage Fahrradnutzung. Bezahlbar bei Rückgabe. Bar. Fertig. Aus. Ernst Albert verkniff sich den Gedanken nicht, daß er für diesen Preis an dem See, an dem er aufwachsen mußte, heutzutage ein Fahrrad bestenfalls ans sogenannte „Hoernle“ und wieder zurück treten durfte, um es am nächsten Tag frisch geputzt, aufgepumpt, geölt und vollgetankt wieder abgeben zu müssen. Gleich darauf aber atmete er – wie er es von Wachtmeister Krause gelernt hatte – tief ein, zählte bis drei, atmete aus („Weg, weg, weg!“) und war zurück im Landkreis Oder – Spree.

„LOS! Parole Bestandteil, Genosse Albert!“ Archibald Mahler forderte den Aufbruch. Und das Fahrrad rollte augenblicklich durch – Zitat F. F. – „die schreckliche märkische Tristesse von Sandboden und Kieferngehölz.“ Hochstämmige Kiefern in Reih und Glied gepflanzt, diszipliniert gewachsen, aufrecht verblieben, als sei gestern noch der flötenzwitschernde Zwerg Großfriedrich mit seinem Windspielen im Schlepptau vorbei gehuscht und habe kleinstgnädig die Parade abgenommen. Die Sonne brannte derweilen ihre sechsundsdreissig Wärmegrade in den Sand hinein und mürbte die Hirne der kleinen Reisetruppe.

„Vorsicht, Genosse Albert! Das Hinterrad unseres Gefährts suppt weg!“ Man schlingerte. Archibald Mahler fühlte sich veranlaßt zu warnen. Ernst Albert dichtete daraufhin und handelte. Oder andersrum?

Im Sand:

Der märkische Sand trat ab nach rechts, / entwischte nach links, / sank und hob sich. / Die geliehenen Reifen nagelten / den Pudding an die Wand. / Es blieb der Versuch. / Als er runtergeschaltet hatte / in den ersten, den kleinsten / Gang rollte er / nicht immer, / aber doch / vorwärts. / Dann schob er wieder / das Rad. / Die märkische Hitze / sedierte ihn. / Wenn Oberschenkel brennen, / steig ab.

Die Pausen waren mittlerweile länger als die Phase des Vorantretens geworden. Das pausenlos eingeflößte Wasser verließ den Leib inzwischen nicht mehr via Prostata und Blase, sondern trat aus Stirn, Unterarm, verlängerten Rücken und Fußsohle zurück in die Mark Brandenburg.

Die nächste Wegkreuzung im knirschend trockenen Wald zeigte sich komplett schilderfrei. Nun? Ernst Albert kehrt prinzipiell nicht um. Und Archibald Mahler? Wo denken Sie hin? In der Ferne klangen Kirchenglocken.

„Ich denke, wir biegen links ab! Oder?“

Archibald Mahler stimmte zu und dichtete nach:

Wegekreuz:

In den Zufällen sah ich eine Landkarte. / Gestern. / Morgen aber, dachte  ich, / werde ich mich verirren müssen.

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Wolziger Seelegien / Drei / Stille

Sonntag, 3. August 2014 17:20

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Als das hellblaue Tretboot an Fahrt verlor, dann zum Stillstand kam, die Antriebswalze ein letztes Gluckern von sich gegeben hatte, wurde es still, so still, daß Archibald Mahler vernehmen konnte, wie das erste Tageslicht auf die spiegelglatte Wasseroberfläche traf. Die Morgensonne schob sich leise flimmernd über das Schilf und kündigte einen sehr heißen Tag an. Bachstelzen huschten vorbei, mit kurzen, gehackten Flügelstößen. Eher sah es aus, sie sprängen von einem unsichtbaren Luftpolster zum nächsten, als daß sie flögen. Der Wind war eingeschlafen und das Schilf reckte schweigend seine Büschel ins wachsende Blau. Archibald Mahler hatte das Gefühl die Stille greifen zu können. An diesem Morgen war ihm, als gäbe es ihn gar nicht, sondern er sei einzig und allein Bestandteil.

„Scheiß Stille!“ Herr Ernst Albert fluchte gerne und wenn dann laut.

„Pst, lieber Herr Aufrechtgeher!“

„Au! Entschuldigung!“

Ernst Alberts Nacht war zermürbend gewesen. Finster, mondlos, kein Lüftchen regte sich, kein Blatt rührte sich, die Vögel schliefen tief und fest und alles was summte und surrte auch: absolute Stille und tiefste Dunkelheit. Und als sei die Haut eines Aufrechtgehers eine semi-permeable Membran, versuchte die ganze in Ernst Albert abgelagerte Unruhe, Wut, Unzufriedenheit, das ganze Unerledigte, Unmögliche, Unerklärliche der letzten Wochen und Monate nach außen zu dringen, schmiß den hilflos dieser ungewohnten Stille ausgesetzten Leib von rechts nach links, von links nach rechts, Schweiß schoß literweise aus den Poren. Licht an. Licht aus. Licht an. Klospülung rauscht. Fernseher kräht. Aus. Zwei Seiten gelesen. Nichts verstanden. Sinnlos. Mehr Schweiß und mürbe Knochen. Der Rücken knarzt und knackt. Allein der tiefen Stille, die draußen vor dem Fliegengitter liegt, gelingt es nicht durch die Membran in das Innere des Ernst Albert zu gelangen. Erst als der Morgen graute und die Vögel zu ihrem Begrüßungsgesang anhoben, fand er etwas Schlaf.

Archibald Mahler focht dies nicht weiter an. Sein Winterschlaf war lang genug gewesen und überhaupt, wann und ob dieser Bär überhaupt schläft, wer weiß das schon.

Nächtens hatte Ernst Albert versucht einige Worte niederzuschreiben:

Diese Stille:

Ruhiges Rauschen / Kein Wind / Kein Vogel / Einmal nur der Dackel des Dauerkämpfers….

„Oh Weia! Dauerkämpfer statt Dauercamper!“ Ein Seufzer und er zog sich ein wiederholtes Mal die Decke über die Ohren, um diese gnadenlose Stille nicht hören zu müssen. Umsonst, der Spielmannszug, der durch seine Hirnwindungen marschierte, gab keine Ruhe. Als Ernst Albert um 7 Uhr der Wecker aus dem kurzen Schlaf riß – er hatte am Vorabend Herrn Mahler versprochen ihn auf den See hinaus zu ‚trampeln’, schließlich hat der Aufrechtgeher die langen Beine – sah er, das seinem Notat ein Postscriptum beigefügt wurde.

PS: Dauerkämpfer bis die / Bitterstoffe hineinsinken in / die letzten Winkel / des / überlastet getriebenen / Herzmuskels.

Archibald Mahlers Laune war prächtig. Zum einen lebte es sich als Bestandteil wesentlich angenehmer denn als Betrachter oder Bewerter und zum anderen liebte er es gelegentlich den einen oder anderen Satz in den Poesiealben Ernst Alberts zu hinterlegen. Und auf einen See hinaus getrampelt zu werden, ist auch nicht ohne. Entschlossen beendete er die göttliche Stille.

„Herr Albert?“

„Ich höre!“

„Sie haben schon über eine halbe Stunde lang nicht gesprochen!“

„Ja! Und?“

„Sehr fein! Das Wasser zu treten, schadet Ihnen nicht. Also: an Land geschwind. Erstens Hunger und dann holen wir das Fahrrad ab!“

„Gleich! So ein blaues Blau aber auch!“

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Wolziger Seelegien / Zwei / Ankunft

Freitag, 1. August 2014 14:30

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Als Archibald Mahler am westlichen Ortsrand von Görsdorf hinter einem Fliegengitter saß, auf ein mehrere Fußballfelder großes Seegrundstück blickte – inklusive eines kleinen Hafens, diverser Boote, vier Bänke am schilfbestandenen Ufer des Wolziger Sees, inklusive kreisender Schwarzmilane, Rotmilane, prächtiger Seerosenfelder, dreier wartender Liegestühle, patroullierender Schwäne, eines in den See ragenden Holzstegs (von Enten gründlich bekotet), kreischender Kormorane, flieghüpfender Bachstelzen, Bleßhühnern ungezählten, springender Fische – also auf ein Seegrundstück blickte, welches ihnen in den nächsten Tagen meist zur alleinigen Nutzung zur Verfügung stehen würde, da fragte Herr Archibald Mahler den Herrn Ernst Albert, was ihn nun an diesen Ort geführt habe.

Ein glücklicher Zufall sei es gewesen, antwortete Ernst Albert, aber er wolle hier auch jemanden besuchen, um das Erinnern wieder zu lernen. „So! Aha!“, erwiderte Mahler und erblickte in dem kleinen, zum mehreren Fußballfeldern großen Grundstück gehörigen Hafen, ein hellblaues Tretboot.

Ernst Alberts Zustand hatte innert der letzten Stunde eine schlagartige Besserung erfahren, jene Art von sich plötzlich einstellender Scheinheilung, welche dem Kranken widerfährt, wenn er im Behandlungszimmer des Arztes Platz genommen und in sich den heftigen Drang spürt, aufzustehen und zu gehen, da er sich in diesem Moment weitgehend genesen fühlt.

Archibald Mahler versank im Schauen und ihm war gänzlich unelegisch. Wirklichkeit und Ideal schienen hinter seinem Fliegengitter eins zu sein.

Ernst Albert hatte vor Stundenfrist durch einige – wie er später erfuhr – irrtümlicherweise offen gelassene Türen, die Storkower Bahnhofsgaststätte betreten. Heftiger, schwülfeuchter Bier-, Rauch- und Schweißgeruch schlug ihm entgegen. Am Tresen hing erschöpft die Fahne Deutschlands. Posttriumphal. Eine Wirtin, die dieses Lokalloch offensichtlich seit guten 10 Jahren nicht mehr verlassen hatte und ihr Sohn – ein überdimensioniertes, bierbäuchiges, über 40 jähriges Heavy Metal – Kid, mit Wacken – T – Shirt und Adiletten bekleidet – traten ihm entgegen. Alberts Frage nach einem Telefonbuch oder der Rufnummer eines örtlichen Taxis wurde – nachdem ein erstes Abwehrkläffen verklungen war – freundlichst beantwortet. Als dann der Chauffeur der Taxe, welche nach einer raschen brandenburgischen halben Stunde den Gast abgeholt hatte, auf die Bitte, er möge doch morgen früh noch mal am Zielort vorbeirollen, um den Gast zurück nach Storkow zu befördern, er plane dort ein Fahrrad zu mieten, antwortete: „Jetz kieken Se erstmal, ob da in Görsdorf nich een Bus fährt. Ick brauch Ihnen ja morgen nich schon wieder fuffzehn Euros aussem Portemanee ziehen. Wir ham et alle ja nich so dicke, wa?“, da hatte Ernst Albert das Gefühl, daß der Engel, an den er sich hier erinnern wollte, schon mal kurz um die Ecke geschaut hat.

„Herr Albert, wohin gehen Sie jetzt?“

„Ich gehe essen!“

Essen gehen, jawoll. Zwokommafünf Kilometer entlang der Strasse oder dreikommafünf Kilometer durch den Kiefernwald bis zur nächsten Kneipe. Und wieder zurück.

„Guten Appetit und verlaufen Sie sich nicht, Herr Albert! Ich fahre morgen das hellblaue Tretboot!“

Ernst Albert setzte seine Mütze auf und seinen aufgekratzt müden Körper in Bewegung und Archibald Mahler dachte sich – endlich allein – noch ein Gedicht aus:

Am fremden See:

Ich betrachte mein eigenes Fell / Wie das eines Fremden. / Die Stechmücken können mir nichts anhaben. / Ich kratze den, / Der neben mir sitzt.

Und darüber schlief er ein und verpaßte einen Sonnenuntergang.

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