Beiträge vom 18. August 2014

Wolziger Seelegien / Neun / Ränder

Montag, 18. August 2014 19:09

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Am Rande des ausgedehnten Waldgebietes zwischen Prieros und Märkisch Buchholz wartete Herr Archibald Mahler. Herr Ernst Albert jedoch war pünktlich, also wartete Mahler nicht, denn erst wenn der Erwartete eine vereinbarte Zeitlinie überschritten hat, sich somit am Zeitkonto des Wartenden vergreift, auf diese Weise Zeit aus dem fremden Zeitkontor ins eigene Zeitlager wandern lässt, erst dann wird gewartet. Aber Ernst Albert ist pünktlich aus tiefer Überzeugung, auch wenn er gerne den einen Satz, den George Tabori seinen Shlomo Herzl in „Mein Kampf“ sprechen läßt, zitiert und ihn mit großer Freude unzählige Male auf den Musentempelbrettern rezitiert hatte, diesen manchmal, aber heute so nicht wahren Satz: „Warten ist die wahre Zeit!“

Mahler also wartete nicht, nutzte eigene Zeit und sann nach über die Ränder: „Ich, am Rande sitzend, blicke hinüber zum nächsten Rand, dem Rand, der, mich anblickend über eine Lichtung hinweg, gegenüber meines Randes, der trennend, Beginn des Waldes definierend, Ende der Lichtung auch (eine Frage!), doch Rand ist. Da aber, wo ich am Rande sitze, eine Lichtung beginnt, also hinter mir ein anderer Wald endet, und drüben dann ein Viech tritt – nicht der erträumte Elch, hier lebt er leider nicht – hinaus auf die Lichtung, über den Rand hinaus und hinein in die Lichtung, der Wald hinter seinem Spiegel endend, ziehe ich mich zurück ins Dunkle, und es endet vor meiner Nase ein Wald, die Lichtung sehe ich weiterhin doch, verschattet. Die Ränder bleiben, wohl überschritten. Kein Ort des Bleibens, der Rand. Verweile Rand. Bis später.” Dachte Mahler mal.

Ernst Albert hatten die Ränder stets angezogen. Straßenränder. Waldränder. Wundränder. Randbezirke. Ufer. Rampen. Tresen. Ein Dichter, sein Grab in Märkisch Buchholz das Ziel, habe sich an den Rand der Welt zurückgezogen, kann man hier und dort lesen. Klingt hübsch, schön bildhaft, ein klein wenig schicksalsdräuend, angehaucht dramatisch auch. Am Rande der Welt also und dann: Grenzerfahrung? Man lasse sich letzteres Wort erst von einem – Verzeihung, liebe Tastatur für die folgende Eingabe! – Extremsportler mit Inhalt füllen, anschließend von einem Menschen, der sein ganzes Leben in der DDR lebte. Freiwillig und unfreiwillig. Noch etwas mehr als zwanzig Kilometer durch den Forst. Die Sonne ist zurückgekehrt. Angenehme dreißig Grad im Schatten.

Archibald Mahler, in seiner Tasche auf dem Gepäckträger als sehender Passagier unterwegs, verweilte zurückgelehnt nachsinnend, da auf der heutigen Strecke weder Schlaglöcher, Sandkuhlen, von Ulbricht eigenhändig verlegte Plattenwege, noch hinterhältiger Schotter seinen Pöter plus Denkkopp erschütterten. Er sann darüber nach, ob eine Einrichtung der Welt als eine Scheibe nicht durchaus sinnstiftend sei. Damit sei der Rand, in diesem – ja – Fall als Endliches definiert. Beim Erreichen des Randes – Den Sicherheitsabstand nicht vergessen! Rheinfall und so! – mag man in den Abgrund blicken, angesichts des auf– und/oder eintretenden Schauderns sich seiner Endlichkeit bewußt werden und jegliche Unendlichkeiten getrost den Händen der Götter überantworten. Tod den Rekorden!

Ernst Alberts Rücken verhielt sich freundlich, denn ruhig rollte das Rad, geradeaus meist, durch den Kiefernwald gen Märkisch Buchholz, jenen Ort am Rande der Welt, von wo aus jener Dichter – auch dies wurde schon gelesen – „der Welt den Rücken zugekehrt hatte.“ Und Ernst Albert, dessen Rücken heute nicht von Schlaglöchern, Sandkuhlen, von Ulbricht eigenhändig verlegten Plattenwegen, noch von hinterhältigem Schotter malträtiert wurde, dachte, daß es vielleicht gänzlich anders sei. Das dachte er:

Kurz vor Märkisch Buchholz

An den Rand rücken / an den Rand der Welt / rücken / den Rücken der Welt / zugewandt / dir Welt dir zugewendet / mein Rücken / dir zugewandt / suche ich nicht dich / aber einen Spiegel / zu beschreiben die Sache / nicht rühmen / nicht klagen / beschreiben / vor der Ruhe / unvollendet

Wieder bohrte sich etwas in den Rücken des Radfahrers – weder Welt, noch Schmerz – die sanfte Pfote des Archibald Mahler war es. Sie wies auf eine Tafel am Rande des Weges, eine Tafel, die stand im Walde vor sich hin – sie zu finden, stand nicht in des Bären Sinn – ein Haiku sei zu lesen, auf der Tafel im Walde am Wegesrand, wenige Kilometer vor Märkisch Buchholz war es gewesen.

Schau, der junge Hirsch

Schüttelt ab

Den Schmetterling

Und schläft

Wieder ein

(Kobayashi Issa)

Kurz stand man am Rande des Weges. Dann kehrte man dem Gedicht den Rücken und rollte weiter.

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Thema: Wolziger Seelegien | Kommentare deaktiviert | Autor: Christian Lugerth