Beiträge vom April, 2010

Archibald ist müde, hört von der Sprache des Schauens und macht weiter

Freitag, 30. April 2010 16:31

testahausWatauineiwa nannten die Yaghan-Indianer in Feuerland ihren wichtigsten Gott. Sie stellten ihn sich vor als einen alten Mann im Himmel, der sich nie verändert und der nichts mehr fürchtet und verabscheut als Veränderungen. Archibald Mahler, Bär vom seit Ewigkeiten nicht mehr gesehenen Brandplatz, ging es heute ähnlich. Die Nachwirkungen des Rothaus-Symposiums vom Vortag, ein Höhlenwechsel und ein Temperatursturz von zweistelliger Größenordnung rüttelten an seiner legendären Bärenruhe. Die Seele und die Anoperationsnarbe forderten ein Innehalten. Gewiß, wieder blickte er hinab auf die alte Stadt und wieder war es grün, üppig, fast schon maßlos. Er fragte sich, ob die Stadt so reich sei, weil sie so grün ist, oder ob die Stadt so grün sei, weil sie so reich ist. Doch letztlich war ihm das gleichgültig. Er war müde und erschöpft, erschöpft von all der Bewegung, all den neuen Eindrücken der letzten Wochen.

Bruce Chatwin hatte in einem seiner Reisebücher über die Yaghan-Indianer berichtet. Sie lebten einst am Ende der Welt, in Feuerland und auf den Falklandinseln, bis die weißen Zweibeiner vorbeigesegelt kamen, ihnen erst ihr Land, ihre Sitten und ihren Stolz stahlen, um sie dann zu massakrieren. Restlos alle, denn die Ureinwohner hatten sich geweigert ihren alten Göttern abzuschwören und hatten folgerichtig einigen der Bibelbrüder, die ihnen die neue Lehre in den Kopf prügeln wollten, selbigen vom Hals getrennt. Was von den Feuerlandindianern blieb, war das Kompedium eines jungen Weltenfahrers, der sich die Mühe gemacht hatte, die alte Sprache der Yaghan zu sammeln und zu dokumentieren. Ernst Albert, der ebenfalls auf der Dachterrasse saß, legt das Buch zur Seite und sprach zu seinem etwas mißmutigen Bären: „Was für eine Sprache! Weijna! Das bedeutet nicht nur ‚reisen’, nein, sondern auch: ‚locker oder leicht zu biegen sein wie ein gebrochener Knochen oder wie eine Messerklinge’, oder ‚herumwandern oder herumirren wie ein heimatloses oder verirrtes Kind’, oder aber ‚locker angebunden sein wie das Auge in seiner Höhle oder ein Knochen in seiner Gelenkpfanne’, oder auch ’schwingen, sich bewegen, existieren oder sein’. Toll! Keine Sprache des Besserwissens, sondern eine Sprache des Schauens.“

Eine Sprache des Schauens! Das mochte Archibald, seines Zeichens seit Aschermittwoch fleißiger Weltschauer. Sein Blick fiel auf die Reste eines alten Baumes. Ein riesiger Stamm ragte gute fünfzehn Meter in die verregnete Luft, astlos, nadellos. Es war einer jener Mammutbäume, die die Indianer an den Küsten des Pazifiks als lebende Wesen und gütige Götter verehren. Wie war er in die alte Stadt gekommen? Was war ihm nach seiner Ankunft widerfahren? Hatte er sich geweigert, zu schwingen und sich zu bewegen, als ein Sturm über ihn hinwegraste? War er zu alt und zu groß geworden, um sich auf fremde Weisung hin zu beugen und zu ducken? War er ein weiteres Opfer des manchmal unangebrachten Stolzes? Etwas Gewaltiges muß ihn gefällt haben. „Übrigens: Yaghan-Indianer wurden sie von den weißen Aufrechtgehern getauft. Sie selbst nannten sich Yamana, was soviel heißt wie ‚leben, atmen, glücklich sein, von einer Krankheit genesen oder gesund sein’. Ala!“ Ernst Albert hatte sich, seit sie im Süden weilten, zu einem kleinen Schlaumeier entwickelt. „Muß wohl an der Luft hier liegen!“, dachte Archibald, kratzte sich am Hintern und dachte noch ein wenig über die Geschichte des alten Baumes nach. Und darüber daß jedes Innehalten auch der erste Schritt einer neuen Wanderung ist. Und da sah er: Neben den Riesenstumpf hatte man einen kleinen jungen Baum gepflanzt. Es geht weiter!

Thema: Anregende Buchstaben, Im Heckerland | Kommentare deaktiviert | Autor: Christian Lugerth

Abschiede unter dem vollen Mond

Donnerstag, 29. April 2010 0:41

abschied1Und als die letzte Note gesungen und verklungen war, schlug Archibald die Augen auf, fand sich in einer Wiese sitzend, schnaufte einmal kräftig durch und die Welt hatte ihn wieder. Die Löwenzahnsamen flogen durch die Luft und kündeten vom Bären und wie sein Riechorgan alte psychedelische Lieder aus der Luft gesaugt hatte. Floraldownload. Ernst Albert schulterte die empfindlichste Nase des Universums und man machte sich auf den Heimweg. Die Zeit im Süden neigt sich dem Ende zu und morgen gilt es noch mal eine andere Höhle zu beziehen. Die Besitzerin der Neuen Höhle kehrt zurück und da möchte man nicht stören. Gesprochen wurde kaum auf der Wanderung in die alte Stadt. Abschied hat gern mal schwere Füße und die Gedanken loten in Twainschen Tiefen.

abschied2Archibald hatte gehadert mit der Arbeitsauffassung des Herrn Lenz in den letzten Wochen. Aber nun, da er Abschiedsblicke über das Flüßchen schweifen ließ und sein Herz gleichzeitig schwer und leicht schlug – er freute sich auf das Wiedersehen mit Eva Pelagia und den geheimen Fieberthermometerhalter – fiel ihm ein ehrliches Kompliment nicht schwer, was die fortschreitende Arbeit an der Begrünung der sichtbaren Welt betraf. „Gute Arbeit, Herr Lenz! Da hat sich doch was getan! Ein Vergleich sei gestattet. Und danke auch für die pelzwärmenden Strahlen! Und daß man den kalten Wind abgedreht hat!“ Herr Lenz vernahm dies alles nicht, denn er war gerade damit beschäftigt, die Kastanien zum Blühen zu bewegen und Hände voller nasenkitzelnder Blütenpollen in die Luft zu werfen. Hatschi! “Gesundheit.” Von drinnen rief man nach Archibald.

abschied3Wladimir Anatol Karamasow und Yogi „Yellowstone“ Parkinson baten zum Abschiedsgetränk. Über das gefangene Volk der Ursae minores auf den Schrank sprach man nicht. Yogi konnte sich eh nicht mehr daran erinnern und das sensible Herz des mächtigen Wladimir brauchte Schonung. Die Stimmung war eine gelassene. Kein Austausch von Adressen, keine Versicherung eines Gegenbesuches und sinnlose Beteuerungen, man werde gewiß den Kontakt weiter pflegen. Da ist der Bär zum einen Solitär, zum anderen Realist und die freundlichen Lügen und Sentimentalitäten der Aufrechtgeher sind ihm fremd. Das Bier des schwarzen Waldes mundete und Archibald bettete sich zur letzten Nacht. Ein letztes Mal streckte er die Faust grüßend Richtung Schrank. „Genossen! Ihr habt nichts zu verlieren außer Eure Ketten! Venceremos!“ Vor dem Fenstern rauschte die Dreisam ein Gute-Nacht-Lied. Wo würde sein Bärenhaupt morgen ruhen? “Heute ruht hier keiner!” Der alte Recke aus Kamschatka bei Wyoming namens Wladimir Anatol Karamasow sprach ein Machtwort und zeigte in Richtung Fenster. Ein voller Mond beleuchtete die Nacht. Drei Bären hatten dann doch noch einiges zu besprechen. Und sie huldigten der Badischen Staatsbrauerei.

Thema: Im Heckerland | Kommentare deaktiviert | Autor: Christian Lugerth

Der zweifellos psychedelische Mister Archibald

Mittwoch, 28. April 2010 1:52

Bären haben eine feine Nase. Bären haben eine sehr feine Nase. Und wenn Herr Lenz mit Verspätung alles auf einmal blühen und explodieren läßt, kann dies bei sensiblen Solitären durchaus zu einer gewissen Verwirrung führen. Am Wegesrand gab es für Archibald einiges zu riechen. Und wo man riecht, da hört man schöne Lieder.

rausch1Erst mal dieses: „Stell Dir vor Du sitzt in einem Boot, welches einen Fluß hinabtreibt, rechts und links Mandarinenbäume, der Himmel marmeladenfarben. Dann ruft jemand nach Dir und Du antwortest recht leise. Es war das Mädchen, aus dessen Augen Spektralfarben schossen. Luzie schwebt im Diamantenhimmel. Plastikblumen, gelb oder grün, türmen sich über Deinem Haupt, schau Du noch mal nach dem Mädchen mit der Sonne auf der Iris, aber leider ist sie verreist. Luzie schwebt im Diamantenhimmel. Geh ihr hinterher bis zur Brücke, welche den Teich überspannt. Dort sitzen Alte Zweibeiner in Schaukelstühlen, essen Marshmallows und grinsen vor sich hin, weil Du zwischen den Blumen umherwandelst, die bis zur Decke wachsen. Luzie schwebt im Diamantenhimmel.“

rausch2Dann jenes: „Ich bin er, so wie Du er bist, und Du bist ich, und wir sind es alle zusammen. Schau, wie sie rennen wie Schweine, auf die man mit Gewehren zielt, schau, wie sie fliegen, und ich muß heulen. Ich sitze auf einer Frühstückscerealie und warte auf den Bus. Ein Hemd mit Botschaft trage ich, wieder Tote in Afghanistan. Kerl, Du bist ein Drecksack und Dein Kinn hängt Dir bis zum Knie. Ich bin der Eiermann, alle sind Eiermänner, aber ich bin das Walroß. Goo Goo Goo Ju, her mit dem Job. Lieber Herr Polizeichef, kleines süßes Ordnungshüterchen, der Du hinten in der Reihe stehst. Schau mal, wie alle in der Gegend rumfliegen, genau wie Luzie im diamantenen Himmel, schau, wie sie rumrudern. Ist das nicht zum Heulen? Gelber Pudding tropft aus dem Auge eines toten Hundes!“

rausch3Aber dies ist auch nicht schlecht: „Ich denke, keiner sitzt in meinem Baum. Obwohl ich denke, oben oder unten, man muß sich entscheiden. Weißt Du, auch wenn Du das nicht verstehst, mach mit, paßt schon, und schlechter kann es nicht werden. Ich nehme Dich mit, weil ich auf dem Weg bin, in Richtung Erdbeerfelder. Nichts erscheint mir wirklich und nichts, an dem ich mich festhalten kann. Trotzdem: Erdbeerfelder für immer und nie mehr in der Zweiten Liga! Leben mit geschlossenen Augen ist einfach, Du siehst nur Mißverständnisse. Jemanden darzustellen ist hart, aber es funktioniert. Aber mir ist das eigentlich auch egal. Komm mit aufs Erdbeerfeld.“

Thema: Im Heckerland, Robert Zimmermann | Kommentare deaktiviert | Autor: Christian Lugerth

Vor der Stadt ist in der Stadt

Mittwoch, 28. April 2010 0:28

opfingen1Man hatte dazu gelernt. Keine größeren Ausflüge ohne Proviant. In seinem Rücken eine alte Kirche, auf dessen Turm ein Storchennest thronte, welches genutzt und bebrütet wurde, blickte Archibald hinunter in eine fruchtbare Ebene. In dunstiger Ferne grüßten die Stadt und ihr Kirchturm. Leider auch einiges an Beton und Scheußlichkeit. Ernst Albert dachte derweil an Eva Pelagia, mit der er hier vor Jahresfrist ihren Geburtstag gefeiert hatte und vermißte sie. Er sprach das nicht aus, aber Bären sind feinsinnige Geschöpfe und merken so etwas. So ließ Archibald einen solidarischen Seufzer in die schwül-warme Luft aufsteigen. Dann widmete er sich wieder seiner Begeisterung für dieses unfaßbar fruchtbare Stück Land. Alles schien den Aufrechtgehern hier in den Schoß zu fallen beziehungsweise zu wachsen. Vor Urzeiten und gänzlich von Flugplänen unbehelligt, hatten Vulkane hier rumgespuckt und späteren Generationen einen sensationellen Lößboden hinterlassen. Nirgendwo sonst im Land gedeiht eine solche Vielfalt an Gewächs und Getier. Zwischen den Orchideen wohnen die Eidechsen. Und die Sonne stellt dazu alljährlich landesweite Rekorde auf. Und weil die Bewohner der alten Stadt gescheit und geschäftstüchtig sind, haben sie vor über dreißig Jahren die kleinen Bauern- und Winzerorte einfach eingemeindet. Man gönnt sich ja sonst nichts. Aber das wußte Archibald nicht und es interessierte ihn auch nicht. Er ließ dieses Stück Erde in sich hineinfließen. „Du schaust genau so versonnen auf dieses Land wie Eva Pelagia im letzten Jahr, mein Freund.“

opfingen2Bären haben, besonders dann wenn es wärmer wird, einen gewissen Hang zur generellen Entschleunigung. Sie nennen so etwas dann ‚Welt schauen’ oder ‚Floralmeditation’. Und das hier war ein perfekter Ort, um nur zu schauen, wie wächst, was die Aufrechtgeher tröstet und berauscht. Betrachtender Winzer, das wäre doch ein Beruf für einen Faulbären. Gern wird der Traum geträumt bevor er platzt und Ernst Albert hatte schon immer den Hang zum Spielverderber. Elender Realist! Sie standen vor einer Tafel. Ernst Albert liest vor: „Ein Jahr im Weinberg. Statistisch gesehen muß jeder Rebstock vom Winzer innerhalb eines Jahres ca. 17-mal besucht werden. Das Weinjahr beginnt im Januar und Februar mit dem Rebschnitt. Altes Holz wird entfernt und die Zahl der “Fruchtruten” wird bestimmt. Der Rebschnitt ist nach wie vor noch echte Handarbeit, für die die Winzer oft viele Wochen benötigen. Im März und April, wenn die Reben anfangen zu “bluten” – so nennt man den Saftaustritt an den Schnittwunden, werden die Fruchtruten nach unten gebogen und gebunden. Bei diesen Bindearbeiten stehen die Winzer oft im wahrsten Sinne des Wortes “im Regen” – und das auch noch gerne, denn die feuchte Witterung verhindert, daß die Ruten beim Biegen brechen. Ab April wird der Boden mit verschiedenen Arbeitsgeräten wie Grubber, Fräse und Kreiselegge, mechanisch aufgelockert. Dies dient dazu, das natürliche Bodenleben anzuregen. Anschließend werden Begrünungspflanzen eingesät. Damit die Reben ausreichend mit Nährstoffen versogt werden, wird nun auch gedüngt. Ende April/Anfang Mai kommt es zum Austrieb. Nun beginnt die Phase des Pflanzenschutzes gegen Pilzkrankheiten, wie den echten und falschen Mehltau. Je nach Witterung müssen die Rebschutzspritzungen im Laufe des Sommers insgesamt 4 bis 7 mal durchgeführt werden. Während der Blüte, Ende Juni, sollten die Reben möglichst ihre Ruhe haben. Die Zeit der Selbstbefruchtung beim Wein sollte von kurzer Dauer sein, um eine Verrieselung oder das Verblühen ohne Befruchtung, zu vermeiden. Läuft die Befruchtung schlecht, kann die Erntemenge stark eingeschränkt sein. Um ein Abbrechen der Reben zu verhindern, werden die am Bogen wachsenden Reben in dieser Zeit “aufgebunden oder eingekürzt”. Während der ganzen Wachstumsperiode zwischen Juni und August sind die Weingärtner mit Laubarbeiten beschäftigt. Zum Teil werden die Triebe festgebunden, um sie vor Windbruch zu schützen. Auch müssen nun durch den Laubschnitt Blätter entfernt werden, um die Durchlüftung der Rebanlage zu fördern. Wenn Mitte bis Ende August die Reifephase eintritt, beginnen die Weingärtner mit der sogenannten “grünen Lese”. Durch das Entfernen einiger schon erbsengroßen Beeren, erhalten die verbleibenden Beeren mehr Kraft. Die entlasteten Rebstöcke erreichen dadurch einen bessern Qualitätsbereich. Im September ist es dann endlich soweit: Die Früchte der Arbeit können geerntet – besser gelesen – werden. Die Lese kann sich bis zu drei Wochen hinziehen. Vor allem, wenn sie von Hand erfolgt. Zwar werden die Trauben immer häufig mit dem Vollernter gelesen, aber nur in Handarbeit kann der Winzer faule oder unreife Trauben konsequent auslesen. Nach dieser Strapaze haben sich Winzer und Weinberg eine Pause verdient. Doch der Winzer muß noch mal “ran”. Der Weinbergsboden, der durch die Lesearbeiten stark zertreten ist wird ein letztes Mal umgepflügt. Dann deckt auch meist schon bald der Schnee den Weinberg zu.“ Potzrembel! Von wegen in den Schoß wachsen! In Vino labora verita est!

opfingen3Hier saß nun Archibald Mahler, Winzer in spe. Die schwarze Folie unter seinem Hintern fühlte sich etwas seltsam an. Aber er spürte, wie etwas sehr Kostbares unter ihm heranwuchs. Weiße Stangen, die diese Böden und die Wärme ganz besonders mögen. Weiße Stangen, die es nur wenige Wochen im Jahr gibt und auf die die Zweibeiner im Lenze ganz wild sind. Weiße Stangen, denen man wahre Wunderdinge nachsagt. Das Wort hat der Herr Fremdenführer: „Spargel gilt auch als Heilpflanze. Im Vordergrund steht die blutreinigende und harntreibende Wirkung. Außerdem wird dem Spargel eine Hilfe bei folgenden Leiden zugeschrieben: Gallensteine, Nierensteine, Herzklopfen, Husten mit Auswurf, Rheuma, Gicht, Milz- und Leberleiden, Gelbsucht, Hämorrhoiden, Ruhr, Magenschwäche, Milchschorf, Lungenleiden und generelle Unpäßlichkeiten. Er gilt als aphrodisierend, potenzsteigernd, empfängnisverhütend und soll die Monatsblutung fördern. Hörst Du zu, Archibald? Archibald?“ Weg, der Bär war verschwunden. Einfach verschwunden. In Duft aufgelöst. Zwischen den Blüten und Blumen brummte, summte und kicherte es.

Thema: Im Heckerland | Kommentare deaktiviert | Autor: Christian Lugerth

Reich ist die Stadt

Dienstag, 27. April 2010 9:36

reich1Links und rechts der großen Kirche mit dem filigranen Turme, jeden Tag, außer Sonntag: Markt. Rechts ist zu vernachlässigen. Händler und Chichikram. Zehntausend Sorten eingelegter Oliven, Strohschuhe, bemalter Tonkrempel, Tulpen aus Amsterdam. Links jedoch, Bauern, welche tatsächlich ihre eigene Ware verkaufen. Kartoffeln (zwanzig Sorten), Rote Beete, Spargel, Weißkohl, Rotkohl, Lauchzwiebeln, rote Zwiebeln, weiße Zwiebeln, Schalotten, Knoblauch, Sellerie, Kohlrabi, Karotten, Radieschen, weiße Rettiche, rote Rettiche, Blumenkohl, Rosenkohl, Brokkoli, Wirsing, Zucchini, Blattsalat (zwanzig Sorten), Feldsalat, Rhabarber, Mangold, Gurken, Tomaten, Brombeeren, rote Johannisbeeren, schwarze Johannisbeeren, Stachelbeeren, Himbeeren, Zwetschgen, Süßkirschen, Sauerkirschen, rote Trauben, weiße Trauben, Äpfel (zwanzig Sorten), Birnen (zwanzig Sorten), Pilze (zwanzig Sorten), grüne Bohnen, Zuckererbsen, Petersilie, Schnittlauch, Kerbel, Dill, Brunnenkresse, Salbei, Kümmel, Senf, Liebstöckel, Majoran, Rosmarin, Lavendel, Rosen, Margeriten, Veilchen, Forellen, Speck (zwanzig Sorten), gekochter Schinken (zwanzig Sorten), roher Schinken (zwanzig Sorten), Würste (hundert Sorten), Käse (zweihundert Sorten), Hühner, Enten, Gänse, Hasen, Walnüsse, Haselnüsse, Kirschwasser, Zibärtle, Himbeergeist, Kirschwasser., Riesling, Müller-Thurgau, Spätburgunder, Gutedel, Gewürztraminer, Weißburgunder, Bratwürste, Bratwürste, Bratwürste (zehn Stände), Kartoffeln. Sie essen gerne und gut hier unten. Und jeden Freitag um elf Uhr morgens schlägt die Knöpfleglocke im Turm der schönen Kirche und ruft die Frauen auf, das Kochwasser für die beste Teigware der Welt aufzusetzen. Manche tun es noch heute, die anderen gehen neue Joggingschuhe kaufen. Die Stadt ist reich.

reich2Selbstverständlich steht das älteste urkundlich erwähnte Gasthaus des ganzen Landes hier in der Stadt der Gerne- und Gutesser und selbstverständlich heißt es “Zum Bären”. Ehre, wem Ehre gebührt. Über gelegentliche Aasfressereien sei hinweg gesehen. Und da gibt es: Gambas, gebraten und in Gelee mit kleinem Kräutersalat. Marinierte grüne Spargelspitzen mit Spargelmousse und Parmaschinken. Rahmsuppe von Frühlingslauch mit Schnittlauchecken. Gebratenes Doradenfilet mit Tomaten und Oliven auf sautiertem Gemüse mit Butterkartoffeln. Lammrücken mit Paprikakruste, Bohnengemüse und Bärlauch-Gnocchi. Ziegenfrischkäse, Bergkäse und Roter aus dem Münstertal. Variation von Rhabarber- Mousse. ½ Bund Spargel mit Kräuter-Vinaigrette und Salat von Kirschtomaten und Salatherzen. Marinierte grüne Spargelspitzen mit Spargelmousse und gebratenem Kalbsbries. Spargelteller mit gemischtem Schinken, Sauce Hollandaise und neuen Kartoffeln. ½ Bund Spargel mit Kräutercrêpes, Sauce Hollandaise und gebratenem Lachsforellenfilet. 1 Bund frischer Stangenspargel mit Sauce Hollandaise oder zerlassener Butter, Kratzete oder neuen Kartoffeln. Freiburger Festtagssuppe mit Klößchen, Flädle und Maultäschchen. Weißweinrisotto mit Champignon-Ricotta-Ragout und grünem Spargel. Gebratene Forelle “Müllerin” mit Mandelbutter, Dampfkartoffeln und Blattsalaten. Lachsschnitte mit Bärlauchschaum, Frühlingsgemüse und Dampfkartoffeln. Gebratenes Zanderfilet mit Safransauce, Frühlingsgemüse und Tagliatelle. Kalbsschnitzel „Wiener Art“ mit Bratkartoffeln und Blattsalaten vom Markt. Rinderrücken in Gewürzöl eingelegt mit jungem Gemüse und Butterkartoffeln. Medaillons vom Rind, Kalb und Schwein mit verschiedenen Saucen dazu hausgemachte Spätzle und Salate vom Markt. Nicht erwähnt werden muß: Billig ist es nicht, denn die Stadt ist reich.

reich3Wem der Magen jetzt nicht knurrt! „Das ist ja ein richtiges Schlaraffenland hier.“, bemerkte Archibald, der gerade dabei war zum Gourmetbär zu mutieren. Kurz entschlossen sprang er in die Dreisam und zog sich einen Fisch an Land. Filetiert, pochiert, gewürzt und fertig eingedost. Ernst Albert verspeiste einen Apfel. Der Gast mit dem schmalen Geldbeutel geht auch mal einen Kompromiß ein. Gestärkt folgten sie dem Lauf des Flüßchens. Hinaus aus der reichen Stadt. Vor der Stadt ist in der Stadt. Früher nannte man das Gemeindereform. Herr Lenz blieb den zwei Wanderern weiterhin gnädig gestimmt. Er möge sich darauf aber nichts einbilden.

Thema: Im Heckerland | Kommentare deaktiviert | Autor: Christian Lugerth

Die Toten in der Stadt oder Die Geburt des Geschichtenerzählers Ernst Albert

Montag, 26. April 2010 18:37

Der Alte Friedhof. Ein verwunschener Ort. Im Schatten altehrwürdiger Bäume, zwischen ungemäht wuchernden Wiesen und Sträuchern: Grabmäler, Skulpturen, Kreuze. Hundert, zwei-, dreihundert Jahre alt und mehr. Inschriften, manche sorgfältig restauriert, manche zerfressen und nicht zu entziffern, dem Verfall preisgegeben. Geschichten überall. Es raunt und es wispert. Die Toten erzählen die schönsten Geschichten. Man muß ihnen nur zuhören. Archibald tut das.

tod2Es kommt alles ans Licht. Früher. Meist später. Oft auch zu spät. Aber es kommt ans Licht. Der Totenkopf erzählt: Es lebten einst ein alter Schmiedemeister und seine junge Frau. Glücklich war die Ehe nicht, der Mann war alt und müde vom Leben, die Frau war jung und voller Verlangen und Ungeduld. So begann sie ein Techtelmechtel mit dem Gesellen. Da beider Blut mehr und mehr in Wallung geriet, beschlossen sie den alten Meister aus dem Weg zu räumen. Mit Hilfe des Geliebten rammte die junge Frau dem schlafenden Gatten einen Nagel in den Schädel. Das noch kräftig wuchernde Haupthaar des Schmieds verdeckte die Wunde, niemand schöpfte Verdacht, selbst als die Frau und der Geselle bald darauf heirateten. Jahre später mußte das Grab geöffnet und geräumt worden. Die Cholera zog durch die Lande und man brauchte Platz. Der Spaten des Totengräbers gab Laut. Metall schlug gegen Metall. Der Nagel im exhumierten Schädel war deutlich zu sehen. Der Frevel war ans Licht gekommen. Die Schuldigen wurden zu Tode verurteilt.

tod1Rechtzeitig kehrt machen kann Heil bringen. Manchen gelingt es. Die meisten schaffen es nicht. Die schlafende Jungfer erzählt: Ein junger Mann und eine junge Frau fanden aneinander Gefallen. Der junge Mann war nur zu Besuch in der alten Stadt gewesen, aber Amors Pfeil saß tief ihm im Gewebe und bald holte er seinen Koffer und stellte diesen in der Kammer der jungen Frau ab. Die junge Frau aber war krank. Sie brauchte berauschende Blätter, viele, starke, täglich. Der junge Mann wollte sie davon befreien und verbrannte die berauschenden Blätter. Die Frau war dankbar und gesundete. Der junge Mann aber reiste gerne. Er hatte seinen zwei besten Freunden versprochen den Sommer mit ihnen in einem fernen Wüstenland zu verbringen. Er reiste ab. Die Frau erkrankte wieder, schrieb Briefe an vereinbarte Orte, bat um schnelle Rückkehr. Die Briefe blieben liegen in den Postämtern entlang der Reiseroute des jungen Mannes. Avignon. Malaga. Algeciras. Tanger. Marrakesch. Im fernen Wüstenland erkrankte der junge Mann schwer im Gedärm. Jetzt vermißte er die junge Frau. Abgemagert und schwach schleppte er sich tausende von Kilometern zurück. Zu spät. Tot war die Liebe. Die junge Frau setzte ihn und seinen Koffer vor die Tür. Wohin nun? Der junge Mann betrat den Alten Friedhof. Hier wollte er weinen. Man sah ihn von nun an öfters. Hin und wieder legte er frische Blumen auf das Grab eines jung gestorbenen Adelsfräulein. Er verweilte dort ein wenig und las die Briefe der jungen Frau, die aus den fernen Postämtern zurückgekommen waren. Nach einem Jahr. Dann wandelte er zwischen den Gräbern und rezitierte. Hehre Worte.

tod3Vieles ist zu ersetzen. Manches wird nicht einmal vermißt. Ersatz ist ein böses Wort. Weil es weh tut. Aber die Geschichten davon sind schön. Auch und gerade, wenn sie schmerzen. Ernst Albert, der vor wenigen Minuten noch den eloquenten Fremdenführer gegeben hatte, war mit Betreten des Alten Friedhofs recht wortkarg geworden. Archibald hatte nichts dagegen. Es gab viel zu sehen. Er entdeckte ein kopfloses Grabmal. Ein Fragment. Er bestieg es. Er spielte rum. Er schlüpfte in die Rolle eines Toten. Ernst Albert lachte. Er rezitierte. „Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten, die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt. Versuch ich wohl, euch diesmal festzuhalten? Fühl ich mein Herz noch jenem Wahn geneigt? Ihr drängt euch zu! Nun gut, so mögt ihr walten, wie ihr aus Dunst und Nebel um mich steigt; mein Busen fühlt sich jugendlich erschüttert vom Zauberhauch, der euren Zug umwittert.“ Archibald verstand nicht ganz. Woher sollte er auch wissen, daß Ernst Albert hier an diesem Ort, kopflos und herzschwer – sein Koffer stand vor einer geliebten Tür , er war zu spät gekommen und auch ansonsten recht dumm gewesen – den Beschluß gefaßt hatte, all seine Studien abzubrechen und zum Musentempel zu gehen, um Geschichten zu erzählen, Löcher der Erinnerung zu stopfen, Fragmenten Leben einzuhauchen und hehre Worte des Herrn Geheimrat JWvG zu sprechen. „Ich hab Hunger. Komm, Bär! Aufbruch! Genug sentimentalisiert!“

Thema: Im Heckerland | Kommentare deaktiviert | Autor: Christian Lugerth

Das Wasser in der Stadt

Sonntag, 25. April 2010 18:41

wasser1Das Rauschen des Flüßchen Dreisam draußen vor der Neuen Höhle, Archibald war es inzwischen zu einer Art hochgeschätzter Muzak geworden. Er entstieg dem Zauberkasten, der ihn den Berg hinab in die Stadt hatte gleiten lassen und da war es wieder, das Rauschen des Flüßchen. Dreisam und überall. Ein Strahlen flitzte über das Bärengesicht. Dies wiederum erfreute Ernst Albert und so gab er den Fremdenführer. Er erzählte dem Bären, daß die hier ansässigen Zweibeiner zwar gerne mal mißtrauisch und unfreundlich seien, aber auch recht gescheit. So hätten sie schon vor bald siebenhundert Jahren Wasser vom Flüßchen Dreisam abgezapft, in einem eigens angelegten Bach durch die Straßen der Stadt geleitet und sich so das Wasser, welches der schwarze Wald ihnen schenkte, zu Nutzen gemacht. Mühlen, Schmieden, Schlachtereien, Färbereien und Gerbereien siedelten sich entlang dieses Baches an. „Und da, wo Du jetzt sitzt, hängten noch vor siebzig Jahren die Fischer ihre Fischkästen mit lebenden Forellen, Weißfischen, Hechten und Aalen in den dahin eilenden Bach. Mitten in der Stadt!“ Archibald war begeistert. Frischfisch quasi Downtown? „Früher, Archibald, früher! Heute kauft man hier Ansichtskarten, esoterische Kinderbücher und Matratzen, gefüllt mit japanischem Reisstroh. Die Zeiten haben es eilig und müssen sich wohl ändern! Schade!“ Man zog weiter. Früher Sonnenschein und ermutigendes Rauschen! Weiterhin wohlgelaunt!

wasser2Wenig später saß Archibald auf einer Waschmaschine. (Präzise bleiben! Kleine Erinnerung des Setzers!) OK! Er saß auf einem der ungezählten Brunnen, welche jedem noch so kleinem Platz der Stadt ein plätscherndes Zentrum geben. Und wo heute der Besucher entweder gerührt die Digitalkamera zückt oder die überhitzten Handgelenke ins kühle Naß tunkt, schöpften früher die Frauen der Stadt das Trink- und Brauchwasser für ihre Familien oder die Bauern aus der Ebene vor der Stadt, die tagsüber ihr Gemüse den Städtern zum Kauf angeboten hatten, ließen Ochs und Eselein ein letztes Mal Wasser schlotzen vor der Heimkehr. Der Wasserhahn war noch nicht erfunden gewesen. Archibald mochte das sehr. Rechts und links von ihm prasselte es in den Brunnen. Der Fremdenführer E. A. hob wieder an zu sprechen. „Das Haus in unserem Rücken ist ein Kloster. Auch wenn Dir hier die Ohren sausen, ich spreche hier von Adelhausen. Entschuldigung! Kleiner Witz! In diesem Kloster ist zu sehen ein außergewöhnliches Kruzifix. Der Kopf des gekreuzigten Heilands ist extrem nach unten geneigt und er senkt sich weiter. Die Sage geht, sinke der Kopf vollends auf die Brust, gehe die Welt unter.“ Unter diesen Umständen bat Archibald um Aufbruch. „Jetzt, wo Herr Lenz gerade beginnt seinen Auftrag ernst zu nehmen: Hallo! Untergang, nein danke!“ Ernst Albert beruhigte den Bären. „Mein kleiner Freund! Keine Angst! Die Herren Mönche sägten einst am Nacken des Erlösers herum. So gab er der Gravitation nach!“ „Warum?“ „Angst essen Seele auf und machen Kasse voll!“

wasser3Und dann rauschten da allenthalben noch die Bächle. Eine Art Alleinstellungsmerkmal der Stadt, lange bevor man ihr den Dummnamen ‘Green City’ verordnete. Schon im Mittelalter hatten die gescheiten Aufrechtgeher vor Ort ihre Straßen mit kleinen Rinnen versehen und sie mittels eines Stollens mit Wasser aus dem Flüßchen Dreisam geflutet. In Sachen Brandschutz war das damals eine richtige Weltidee. Während ringsherum im Mittelalter die Städte Feuer fingen: hier wurde überlebt. Abgebrannt sind die Anderen. Das ist heute noch so. Klein, aber historisch nicht unbedeutend, nun dieses Bächle neben dem Archibald Mahler als Hobbylimnologe Platz genommen hatte. Er saß auf einer Treppe, die einst, im vierten Jahr der Regierung des Alten aus Bergedorf,  in einen Vergnügungskeller für Langhaarige geführt hatte. Damals tanzte dort Archibalds Fremdenführer so manche Nacht, ausdauernd, trunken, den indischen Heilkräutern zugewandt, einem Weibe in die Stadt gefolgt. Ein roter Punkt im Leben des Herrn Ernst Albert. Vorbeigerauscht. Vergangenheit. Vorbeigerauschte Vergangenheit. Wie das Wasser. Vorbeigerauscht? Pustekuchen revisited! Da hinten in den Meeren, wo alles Wasser landet, steigt es wieder auf, verwolkt sich, kehrt zurück und regnet Dir auf das Haupt. Manchmal! „Komm, Archibald! Laß uns auf den Alten Friedhof gehen!“

Thema: Im Heckerland, Küchenschypsologie | Kommentare deaktiviert | Autor: Christian Lugerth

Über der und über die Stadt

Samstag, 24. April 2010 6:22

Die ersten Meter waren mühsam. Die sogenannte Trödeldemonstration. Ernst Albert schmunzelte. Er dachte an seine Kindheit, wenn sein Vater zu den sonntäglichen Spaziergängen gerufen hatte. Lustlos und von der Befürchtung besessen, der Ausflug zöge sich so lang hin, daß man nicht rechtzeitig zum Erklingen der Titelmelodie von Bonanza nach Hause zurückkehrte, schlurfte man hinter den Erziehungsberechtigten her. “Sehet her, all ihr Passanten! Hier wird Adam Cartwright gezwungen ohne Pferd auszureiten! Skandal!” Doch das legte sich meist schnell. Der Anblick der Natur oder ein Witz des Vaters gewannen bald die Oberhand in Sachen Laune. So auch bei Archibald.

ueber1Die ersten Meter war es steil bergauf gegangen. Hinter der Neuen Höhle erstreckten sich die letzten Ausläufer des schwarzen Waldes. Sie führten die Wanderer direkt an den Rand der Stadt. An den Südhängen dieses letzten Berges hatten die Aufrechtgeher einst mächtige Festungsanlagen gebaut, wovon noch Reste erkennbar waren, alte Mauern, alte Türme, Aussichtspunkte. Von dort, wo die Aufrechtgeher einst geduldig nach den ersehnten Feind spähten, sahen die Wanderer heute, wie wohl bei kaum einer anderen Stadt, wie Natur und Siedlung sich ineinander verwoben. Wald, Weinberge, Strassen, Häuser – fließende Übergänge allerorten. Hinter der Stadt eine im Morgennebel zu ahnende Ebene, zu riechen ein Fluß und dahinter neue Berge, lichter, wärmer als der schwarze Wald in ihrem Rücken. Archibald erkletterte einen Zaun. Und wenn Archibald hinabschauen kann, ist er wieder obenauf. Revolte und Befreiungsaktionen waren erstmal verschoben.

ueber2Sie bogen um die Ecke. Archibald schluckte. Der Anblick überraschte ihn. Der gefiel ihm aber, dieser Turm. Dieser fast durchsichtige, so gar nicht abweisende, filigrane Turm, der die größte Kirche der Stadt zierte. Nun gut, Schönheitsfehler inklusive, denn die Spitze des Turmes war in ein riesiges häßliches Gerüst gehüllt und der reine, gerüstfreie Anblick bestand – um präzise zu bleiben – zu großen Teilen aus hymnischen Schilderungen des Herrn Ernst Albert. Auch so eine Unsitte der Zweibeiner. „Eigentlich ist das ja so. Und dann siehst das so aus! Mußt Du Dir vorstellen!“ Ist aber nicht! Jeder guckt eigenverantwortlich. Gestern ist Postkarte. Doch der zweibeinige Begleiter verstummte recht schnell. Auch er genoß es über die alte Stadt zu blicken. Wer in einer häßlichen kleinen Stadt lebt, muß seine Augen ab und an auf Erholungsurlaub schicken. Ruhe trat ein und Archibald konnte nachdenken. Seltsam! Da setzen sich die Aufrechtgeher in Jahrzehnte währender Arbeit, ach, Jahrhunderte hat es wohl gedauert, ein göttliches Gotteshaus ins Zentrum ihrer schönen alten Stadt, um dann später mit ihren Fossilsaft saufenden Blechmilben ununterbrochen dieses Denkmal zu umrunden, bis der empfindliche Sandstein, aus dem es errichtet wurde, porös wird und bröselt. Und wenn sie hinten fertig sind mit dem Restaurieren, müssen sie vorne wieder anfangen. Der neue Götze frißt die alten Götzen.

ueber3Der Tag schritt voran. Unten hupte man sich gegenseitig wach. Oben Visionen von einem Frühstück. Der Morgengesang der Vögel verstummte. Man machte sich an den Abstieg. Falsch, man machte sich an die Abfahrt. Nein, keine Faulheit. Man will dem Bären etwas bieten. Und das Hinuntersteigen geht bekanntlich auf die Knochen. Ehemals abbes Bein nicht vergessen! Die Bergstation. Kein Aufrechtgeher weit und breit, welcher das blaue Gefährt bediente. Aber Hinweistafeln. Viele Hinweistafeln. Buchstaben und Anweisungsbilder. Geld in Schlitze werfen, Papiere in andere Schlitze stecken, Türen auf, Piepton, Türen zu und Archibald schwebte auf glitzernden Eisen hinab in die Stadt. Fand er klasse. Ganz unrevolutionär. Unten rauschte es an allen Ecken und Enden. Man brauchte dem Rauschen nur zu folgen. Das taten sie.

Thema: Im Heckerland | Kommentare deaktiviert | Autor: Christian Lugerth

Von Tierhortung, John Muir und wie Ernst Albert eine Revolte verhindert

Donnerstag, 22. April 2010 11:47

tierhortung„Die Kinder Gottes.“ Das gefiel Archibald. „Dieser alte Mann nannte uns tatsächlich die Kinder Gottes?“ Ernst Albert hatte aus einem Reisebericht vorgelesen, den er in der Neuen Höhle entdeckt hatte. Der Reisebericht erzählte von den Bergen und Wäldern auf der anderen Seite des Meeres, dort wo die Bären noch das Sagen haben und der Wanderer aufpassen muß, wenn er in ihr Terrain eindringt. Wladimir Anatol Karamasow, dessen Urahnen vor unendlicher langer Zeit von Kamschatka via die Beringsstraße ins gelobte Land eingewandert waren, meldete sich zu Wort. „Richtig! John Muir war ein guter Aufrechtgeher. Er hatte einst auch gesagt, daß wir Bären uns aus demselben Staub entwickelt haben wie er und seine Artgenossen, und daß wir alle die gleiche Luft atmen, das gleiche Wasser trinken. Also hätten auch wir Bären Anspruch auf eigenes Land. Leider kam er etwas zu spät in die Berge, die für die meisten zweibeinigen Siedler nur das letzte Hindernis waren auf dem Weg in die Stadt, in der man später eine Zeit lang angeblich Blumen in den Haaren tragen würde. Da war der letzte meiner Grizzlyvorfahren schon erlegt und zum Schlafsack verarbeitet worden. Die kümmerlichen Reste meiner Verwandtschaft leben jetzt wieder, oben im Norden, in der Nähe der Beringstrasse, zwar noch auf dieser Seite, aber man weiß ja nie. Aber die Verhältnisse in Kamschatka sind auch nicht besonders bärenfreundlich. Die Freiheit ist ein rares Gut, dort wo der Aufrechtgeher herrscht. Ach!“ Wladimir, in dessen wuchtigem Körper sich eine feine Seele von Kleist’scher Dimension verbarg, seufzte.

Was war das? Archibald vernahm Stimmen. „Genau! Alles Gefängniswärter! Alles Schließer! O Freiheit, wo bist Du?“ Die Stimmen begannen zu singen. „Zieht, Gedanken, auf goldenen Flügel! Zieht, Gedanken, ihr dürft nicht verweilen! Zieht, Gedanken, lindert der Knechtschaft Qual! Warum hängst du so stumm an der Weide, goldene Harfe des göttlichen Wladimir? Spende Trost, süßen Trost uns im Leide und erzähle von glorreicher Zeit! Singe, Yogi, in Tönen der Klage von dem Schicksal geschlagener Bären, als Verkünder des Ewigen uns sage: bald wird Archibald uns vom Joch des Tyrannen befreien!” Der Chor der gefangenen Bären. Ein trauriges und erhabenes Lied war auf Archibald heruntergetropft. Er durchsuchte die Neue Höhle, ein erstes Mal, denn es gibt sonst keinen Grund als Gast  in oder gar auf die Schränke zu schauen. Und was er sah ließ sein Bärenblut gefrieren. Artgenossen aller Größen und Gattungen zusammengequetscht zwischen Schrank und Zimmerdecke. Ein Anblick, der einem Solitär wie Archibald Mahler, Bär vom Brandplatz im Auslandseinsatz, eher an ein Massengrab gemahnte, denn an eine Wohnstatt für stolze Bären. Offensichtlich ein Fall von ernsthafter Tierhortung! Der Sammelwahn der Aufrechtgeher! O Kinder Gottes! War es der Geist des Moses, der in den Bären fuhr, als er mit dem Aufschrei “Folget mir und wir enden die babylonische Gefangenschaft! Let my people go, Vermieterin der Neuen Höhle!“, die Schrankwand hinaufstieb? „Wladimir und Yogi, ihr Dulder! Ihr Wegseher! Ihr Suppenkasper! Wie könnt ihr das zulassen? Schande über unser Geschlecht!“ Wut und Empörung ließen seine ansonsten ruhige Bärenstimme sich überschlagen. Sein ehemals abbes Bein begann zu schmerzen. Die Anoperationsnarbe pochte im Rhythmus der Marseillaise!

Ernst Albert bremste den Bären. Gut, ein letzter Rest des alten aufrührerischen Geistes vom Dreyeckland lag in dieser Stadt noch in der Luft. Wyhl. Dreisameck. Schwarzwaldhof. Reichsadler. Radio Dreyecksland. Aber diese Reste existierten eher in homöopathischen Dosen. Und außerdem hielt Ernst Albert nicht viel davon, Nachbarn und Fremden die eigene Anschauung von Freiheit und gesellschaftlichem Miteinander mit missionarischem Eifer aufs Auge zu drücken. Und dann auch noch mit Gewalt. Man müsse nur gen Afghanistan blicken. Archibald tobte. Er sprach vom Feuer, das diesen Gefängnisschrank seiner Meinung nach in Schutt und Asche legen müßte. Er sprach von Barrikaden, Selbstbestimmung, den freien Räumen und der sofortigen Einrichtung einer Volxküche für die gewiß darbenden Genossen auf dem Schrank. Ernst Albert erwiderte, man habe für diese Neue Höhle hier überhaupt kein Mandat und holte den Revoltebären auf den Boden zurück. Er dachte dabei an seine eigenen jungen Jahre und hatte ein sehr schlechtes Gewissen. Man wird alt. „Komm, mein Freund. Das müssen die hier untereinander ausfechten. Laß uns gehen! Ich zeige Dir die Stadt.“ Ernst Albert zerriß es das Herz, als sich Archibald mit gereckter Faust von den gehorteten Schrankbären verabschiedete. “Der Kampf geht weiter!”

Thema: Im Heckerland | Kommentare deaktiviert | Autor: Christian Lugerth

Vom Reichtum, geistiger Armut und der Gnade des Vergessens

Mittwoch, 21. April 2010 9:31

vulkanasche„Laughing just to keep from crying.“ Das hatte einst der göttliche Rory Gallagher in seinem noch göttlicheren ‚Bullfrog Blues’ gesungen. Und was waren das nun für Geräusche, die Ernst Albert von sich gab, als er, mit der lokalen Zeitung wedelnd, in die neue Höhle gestürmt kam? Weinen? Lachen? Wüten? „Unfaßbar! Unfaßbar! Einfach unfaßbar!“ Ernst Alberts erklärtes Lieblingswort bei aufkeimendem Zweifel an der geistigen Verfaßtheit seiner Mitzweibeiner riß Archibald aus seiner Floralmeditation. „Höre, mein Bär. Ich zitiere wörtlich, wortwörtlich: ‚Nicht nur die Reisebranche hat Probleme durch das Flugverbot: Auswirkungen gibt es beim Handel mit Import-Früchten. Die Kapstachelbeeren aus Kolumbien..’ Ich wiederhole: ‚Die Kapstachelbeeren aus Kolumbien werden knapp, sagte ein Sprecher der Merkur Frucht. Ähnliches könnte für Rosmarin, Mangos und Sternfrüchte gelten. Sie kommen für Lokale und Feinkost-Läden per Flieger nach F.’ Unfaßbar! Was sind das nur für Krankheimer? Mein Gott! Jetzt brauch ich ein Bier. Von der Brauerei schräg gegenüber.“ Die Zeitung flog in eine Ecke. Wüste Verwünschungen ausstoßend verließ er die Neue Höhle. Es war für Archibald nicht klar zu verstehen, wen Ernst Albert zuerst erschießen wollte: den Leiter des Fruchtmarktes, den gänzlich Geisteskranken, der so eine gequirlte Kacke abdruckt oder alle perversen Schwachmaten, die hier in diesem Land Kapstachelbeeren aus Kolumbien kaufen. Auf alle Fälle wünschte er jedem von ihnen einen dreiwöchigen Erholungsurlaub auf Haiti an den Hals.

Yogi ‚Yellowstone’ Parkinson hatte sich zu Archibald gesellt. Gemeinsam betrachtete man den Auslöser der Wutrede des Herrn Ernst Albert. Yogi las – ja, er konnte richtig gut lesen für einen Bären – und vergaß im selben Moment. Und dies sei auch der Vorteil seiner, von den Zweibeinern gefürchteten, Unpäßlichkeit, bemerkte Herr Parkinson nach Beenden der Lektüre. Er als Hausbär im Heckerland sehe darin aber nur Vorteile. Denn ohne die permanente Gnade des Vergessens ließe sich ein Leben unter den wahnsinnigen Zweibeinern auch gar nicht gelassen gestalten. Rein mit den nötigen Informationen und direkt wieder raus damit. Zack! Die Zeitung flog über den Balkon, segelte auf den Fußgängerweg unten am Flüßchen und landete vor den Reifen eines Radrasers. Dieser mußte bremsen. Er mußte sogar absteigen. Verzweifelt blickte er hinauf in den kondensstreifenfreien Himmel. Etwas hatte seine Fahrt unterbrochen. Wütend scharrte er mit seinen Radlerhufen, ballte die Faust und suchte einen Schuldigen.

Einige Meter über ihm saßen zwei Bären, einer aus Mittelhessen, der andere aus Wyoming und übten sich in der Kunst der Floralmeditation. Verschimmelte Kapstachelbeeren aus Kolumbien fielen vom Himmel. Der Pedalritter weinte. Ernst Albert kam lachend des Weges und schenkte ihm eine Flasche des lokalen Bieres. Es sollte ein guter Tag werden, denn Ernst Albert hatte etwas vergessen. Und außerdem ist heute der allmonatliche Rory Gallagher – Gedenktag. Prost!

Thema: De re publica, Im Heckerland | Kommentare deaktiviert | Autor: Christian Lugerth