Beiträge vom 30. April 2010

Archibald ist müde, hört von der Sprache des Schauens und macht weiter

Freitag, 30. April 2010 16:31

testahausWatauineiwa nannten die Yaghan-Indianer in Feuerland ihren wichtigsten Gott. Sie stellten ihn sich vor als einen alten Mann im Himmel, der sich nie verändert und der nichts mehr fürchtet und verabscheut als Veränderungen. Archibald Mahler, Bär vom seit Ewigkeiten nicht mehr gesehenen Brandplatz, ging es heute ähnlich. Die Nachwirkungen des Rothaus-Symposiums vom Vortag, ein Höhlenwechsel und ein Temperatursturz von zweistelliger Größenordnung rüttelten an seiner legendären Bärenruhe. Die Seele und die Anoperationsnarbe forderten ein Innehalten. Gewiß, wieder blickte er hinab auf die alte Stadt und wieder war es grün, üppig, fast schon maßlos. Er fragte sich, ob die Stadt so reich sei, weil sie so grün ist, oder ob die Stadt so grün sei, weil sie so reich ist. Doch letztlich war ihm das gleichgültig. Er war müde und erschöpft, erschöpft von all der Bewegung, all den neuen Eindrücken der letzten Wochen.

Bruce Chatwin hatte in einem seiner Reisebücher über die Yaghan-Indianer berichtet. Sie lebten einst am Ende der Welt, in Feuerland und auf den Falklandinseln, bis die weißen Zweibeiner vorbeigesegelt kamen, ihnen erst ihr Land, ihre Sitten und ihren Stolz stahlen, um sie dann zu massakrieren. Restlos alle, denn die Ureinwohner hatten sich geweigert ihren alten Göttern abzuschwören und hatten folgerichtig einigen der Bibelbrüder, die ihnen die neue Lehre in den Kopf prügeln wollten, selbigen vom Hals getrennt. Was von den Feuerlandindianern blieb, war das Kompedium eines jungen Weltenfahrers, der sich die Mühe gemacht hatte, die alte Sprache der Yaghan zu sammeln und zu dokumentieren. Ernst Albert, der ebenfalls auf der Dachterrasse saß, legt das Buch zur Seite und sprach zu seinem etwas mißmutigen Bären: „Was für eine Sprache! Weijna! Das bedeutet nicht nur ‚reisen’, nein, sondern auch: ‚locker oder leicht zu biegen sein wie ein gebrochener Knochen oder wie eine Messerklinge’, oder ‚herumwandern oder herumirren wie ein heimatloses oder verirrtes Kind’, oder aber ‚locker angebunden sein wie das Auge in seiner Höhle oder ein Knochen in seiner Gelenkpfanne’, oder auch ’schwingen, sich bewegen, existieren oder sein’. Toll! Keine Sprache des Besserwissens, sondern eine Sprache des Schauens.“

Eine Sprache des Schauens! Das mochte Archibald, seines Zeichens seit Aschermittwoch fleißiger Weltschauer. Sein Blick fiel auf die Reste eines alten Baumes. Ein riesiger Stamm ragte gute fünfzehn Meter in die verregnete Luft, astlos, nadellos. Es war einer jener Mammutbäume, die die Indianer an den Küsten des Pazifiks als lebende Wesen und gütige Götter verehren. Wie war er in die alte Stadt gekommen? Was war ihm nach seiner Ankunft widerfahren? Hatte er sich geweigert, zu schwingen und sich zu bewegen, als ein Sturm über ihn hinwegraste? War er zu alt und zu groß geworden, um sich auf fremde Weisung hin zu beugen und zu ducken? War er ein weiteres Opfer des manchmal unangebrachten Stolzes? Etwas Gewaltiges muß ihn gefällt haben. „Übrigens: Yaghan-Indianer wurden sie von den weißen Aufrechtgehern getauft. Sie selbst nannten sich Yamana, was soviel heißt wie ‚leben, atmen, glücklich sein, von einer Krankheit genesen oder gesund sein’. Ala!“ Ernst Albert hatte sich, seit sie im Süden weilten, zu einem kleinen Schlaumeier entwickelt. „Muß wohl an der Luft hier liegen!“, dachte Archibald, kratzte sich am Hintern und dachte noch ein wenig über die Geschichte des alten Baumes nach. Und darüber daß jedes Innehalten auch der erste Schritt einer neuen Wanderung ist. Und da sah er: Neben den Riesenstumpf hatte man einen kleinen jungen Baum gepflanzt. Es geht weiter!

Thema: Anregende Buchstaben, Im Heckerland | Kommentare deaktiviert | Autor: Christian Lugerth