Beiträge vom 22. April 2010

Von Tierhortung, John Muir und wie Ernst Albert eine Revolte verhindert

Donnerstag, 22. April 2010 11:47

tierhortung„Die Kinder Gottes.“ Das gefiel Archibald. „Dieser alte Mann nannte uns tatsächlich die Kinder Gottes?“ Ernst Albert hatte aus einem Reisebericht vorgelesen, den er in der Neuen Höhle entdeckt hatte. Der Reisebericht erzählte von den Bergen und Wäldern auf der anderen Seite des Meeres, dort wo die Bären noch das Sagen haben und der Wanderer aufpassen muß, wenn er in ihr Terrain eindringt. Wladimir Anatol Karamasow, dessen Urahnen vor unendlicher langer Zeit von Kamschatka via die Beringsstraße ins gelobte Land eingewandert waren, meldete sich zu Wort. „Richtig! John Muir war ein guter Aufrechtgeher. Er hatte einst auch gesagt, daß wir Bären uns aus demselben Staub entwickelt haben wie er und seine Artgenossen, und daß wir alle die gleiche Luft atmen, das gleiche Wasser trinken. Also hätten auch wir Bären Anspruch auf eigenes Land. Leider kam er etwas zu spät in die Berge, die für die meisten zweibeinigen Siedler nur das letzte Hindernis waren auf dem Weg in die Stadt, in der man später eine Zeit lang angeblich Blumen in den Haaren tragen würde. Da war der letzte meiner Grizzlyvorfahren schon erlegt und zum Schlafsack verarbeitet worden. Die kümmerlichen Reste meiner Verwandtschaft leben jetzt wieder, oben im Norden, in der Nähe der Beringstrasse, zwar noch auf dieser Seite, aber man weiß ja nie. Aber die Verhältnisse in Kamschatka sind auch nicht besonders bärenfreundlich. Die Freiheit ist ein rares Gut, dort wo der Aufrechtgeher herrscht. Ach!“ Wladimir, in dessen wuchtigem Körper sich eine feine Seele von Kleist’scher Dimension verbarg, seufzte.

Was war das? Archibald vernahm Stimmen. „Genau! Alles Gefängniswärter! Alles Schließer! O Freiheit, wo bist Du?“ Die Stimmen begannen zu singen. „Zieht, Gedanken, auf goldenen Flügel! Zieht, Gedanken, ihr dürft nicht verweilen! Zieht, Gedanken, lindert der Knechtschaft Qual! Warum hängst du so stumm an der Weide, goldene Harfe des göttlichen Wladimir? Spende Trost, süßen Trost uns im Leide und erzähle von glorreicher Zeit! Singe, Yogi, in Tönen der Klage von dem Schicksal geschlagener Bären, als Verkünder des Ewigen uns sage: bald wird Archibald uns vom Joch des Tyrannen befreien!” Der Chor der gefangenen Bären. Ein trauriges und erhabenes Lied war auf Archibald heruntergetropft. Er durchsuchte die Neue Höhle, ein erstes Mal, denn es gibt sonst keinen Grund als Gast  in oder gar auf die Schränke zu schauen. Und was er sah ließ sein Bärenblut gefrieren. Artgenossen aller Größen und Gattungen zusammengequetscht zwischen Schrank und Zimmerdecke. Ein Anblick, der einem Solitär wie Archibald Mahler, Bär vom Brandplatz im Auslandseinsatz, eher an ein Massengrab gemahnte, denn an eine Wohnstatt für stolze Bären. Offensichtlich ein Fall von ernsthafter Tierhortung! Der Sammelwahn der Aufrechtgeher! O Kinder Gottes! War es der Geist des Moses, der in den Bären fuhr, als er mit dem Aufschrei “Folget mir und wir enden die babylonische Gefangenschaft! Let my people go, Vermieterin der Neuen Höhle!“, die Schrankwand hinaufstieb? „Wladimir und Yogi, ihr Dulder! Ihr Wegseher! Ihr Suppenkasper! Wie könnt ihr das zulassen? Schande über unser Geschlecht!“ Wut und Empörung ließen seine ansonsten ruhige Bärenstimme sich überschlagen. Sein ehemals abbes Bein begann zu schmerzen. Die Anoperationsnarbe pochte im Rhythmus der Marseillaise!

Ernst Albert bremste den Bären. Gut, ein letzter Rest des alten aufrührerischen Geistes vom Dreyeckland lag in dieser Stadt noch in der Luft. Wyhl. Dreisameck. Schwarzwaldhof. Reichsadler. Radio Dreyecksland. Aber diese Reste existierten eher in homöopathischen Dosen. Und außerdem hielt Ernst Albert nicht viel davon, Nachbarn und Fremden die eigene Anschauung von Freiheit und gesellschaftlichem Miteinander mit missionarischem Eifer aufs Auge zu drücken. Und dann auch noch mit Gewalt. Man müsse nur gen Afghanistan blicken. Archibald tobte. Er sprach vom Feuer, das diesen Gefängnisschrank seiner Meinung nach in Schutt und Asche legen müßte. Er sprach von Barrikaden, Selbstbestimmung, den freien Räumen und der sofortigen Einrichtung einer Volxküche für die gewiß darbenden Genossen auf dem Schrank. Ernst Albert erwiderte, man habe für diese Neue Höhle hier überhaupt kein Mandat und holte den Revoltebären auf den Boden zurück. Er dachte dabei an seine eigenen jungen Jahre und hatte ein sehr schlechtes Gewissen. Man wird alt. „Komm, mein Freund. Das müssen die hier untereinander ausfechten. Laß uns gehen! Ich zeige Dir die Stadt.“ Ernst Albert zerriß es das Herz, als sich Archibald mit gereckter Faust von den gehorteten Schrankbären verabschiedete. “Der Kampf geht weiter!”

Thema: Im Heckerland | Kommentare deaktiviert | Autor: Christian Lugerth