Beiträge vom Juli, 2010

Wenn die Geschichte zu Ende ist, mach das Licht aus! (Walden Sixteen)

Samstag, 31. Juli 2010 16:31

lichtung

Sechs Tage hatte er nun die Pforten der Wahrnehmung weit geöffnet und auf sich einprasseln lassen, was sich in und um ihn herum erinnerte. Sein abbes Bein hatte eine Geschichte bekommen und Archibald Mahler, Bär auf Kurs Selbsterfindung, hatte seit heute Nacht eine – fast – komplette Biographie. Ob es tatsächlich so war? Schaun wir mal. Das Leben ist manchmal nichts als ein überlaufender Wörtersee und dann muß man aufpassen, darin nicht abzusaufen. Die letzten Tage waren kühler gewesen, aber das hatte der Bär gar nicht mitbekommen. Regen und Erinnerung, die auf ihn niederprasselten: schwer auseinander zu halten. Heute morgen war die Luft wieder weich und mild. Zeit für die Lichtung, für Schmetterlinge, für Blumen und eine ordentliche Floralmeditation.

Was hatte Jim Morrison einst gesungen? „Bevor ich in den Großen Schlaf sinke, will ich ihn hören, will ich ihn einmal hören: den Schrei des Schmetterlings!(Kein Neil Young heute? Fragt der Setzer!) Wart’s ab und unterbricht mich nicht! Und sie schrieen, die Schmetterlinge. Und keiner konnte sie hören. So ist das mit der Erinnerung! Keiner wird jemals begreifen, was man erlebt hat. Spurenelemente der eigenen Erzählung werden im Rezipienten bestenfalls Spurenelemente seiner eigenen Geschichte aufblitzen lassen. Auf der Zungenspitze des Zuhörers sammeln sich sogleich die Korrektur des fremden Erlebens und das eigene Empfinden und ergeben bestenfalls eine nickende Melange! Sich auf eine Geschichte zu einigen bedeutet immer: Verzicht! Bitterer Geschmack! Doch dies war es nicht, was der Bär auf der Lichtung roch und schmeckte. Heute war alles leicht! Dinge geschehen. Man nennt es den Schmetterlingseffekt. Man sagt sogar, der Flügelschlag eines Schmetterlings könne einen Sturm auslösen: am anderen Ende der Welt. Nicht alle Aufrechtgeher sind dumm. Und hätte man Archibald am Aschermittwoch dieses Jahres erzählt, wo er landen würde, auf die Welt schauend, in die Welt schauend. Lassen wir das!

Everybody’s alone. Da saß er also und genoß die Einsamkeit und genoß eben diese Einsamkeit, weil er wußte, daß es jemanden und noch mehr, viele Jemande gab, die an ihn dachten und wohlwollend seine kleinen Reisen begleiteten und also bedrückte ihn in diesem Moment, als eben jener Gedanke ihn berührte wie der Schlag eines Schmetterlingsflügel, eben dann doch eine Einsamkeit, die sich sehnte nach dem Teilen des Erlebten, wohl wissend, daß es ein Verständnis nicht gibt, aber daß im Erzählen nun mal der Genuß des Sichselbstvergewisserns liegt und so nickte der Bär sich zu und die Sonne schien und schien und die Schmetterlinge umkreisten unermüdlich sein Haupt, die Blumen schickten unermüdlichen Wohlgeruch in seine empfindliche Nase und sein Pelz tankte und speicherte ab die lebensspendende Wärme und sein sich leerendes Hirn kreiselte gedankenlos unter einem friedlichen Sommerhimmel und bemerkte, da sich der Abend über Archibald Mahler niedersenkte, daß er soeben dabei war den längsten Satz seiner bisherigen Weltschaukarriere gedacht zu haben und wurde müde und schaffte es gerade noch in seine Höhle im Walde am Fuße des Schiffenbergs , um dort – Einer geht noch! – entspannt grinsend, nach rituellem Pöterkratzen und dem Genuß zweier Löffel der leckeren, seit sechs Tagen vernachlässigten Heidelbeermarmelade in einen Großen Schlaf zu fallen. Ja! Und er hörte den Schrei des Schmetterlings.

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Selbst Odonkor rennt zu langsam, um die Vergangenheit einzuholen! (Walden Fifteen)

Freitag, 30. Juli 2010 18:06

schauen1

Was jetzt genau in diesem Brief stand? Das geht niemanden etwas an, außer die direkt Beteiligten. Noch nicht einmal die neugierige Erinnerung des Herrn Archibald Mahler hat ein Anrecht auf den kompletten Text der recht intimen und ausschweifenden Äußerungen von Frau Kraushaar. Erwähnenswert jedoch die Konsequenzen, welche Tankred „Tanke“ Florschütz aus der Lektüre des Schriftstückes zog. Er kaufte sich eine Zugfahrkarte. Und er packte Erich Schlackerbein am sogenannten Schlafittchen, legte ihn in einen Schuhkarton (natürlich mit Luftlöchern) und fuhr los. Wie oft er auf der knapp fünfstündigen Reise besagten Brief las – vorwärts, rückwärts, seitwärts – bleibt sein Geheimnis, doch da jedes Lesen mit dem Verzehr einer Büchse Bier gekoppelt war und sein Zustand beim Erreichen des Zieles ein eher schwankender war, ist davon auszugehen, daß er den Text inzwischen auswendig aufsagen konnte. „Herzlich Willkommen in der Universitätsstadt Gießen!“ Zwei schnelle Kaffee und ein Matschbrötchen mit Fleisch von Herrn Donalds Burgerbraterei und runter in die kleine häßliche Stadt. Und ein alter Ossi weiß, was eine kleine häßliche Stadt ist! Tanke fühlte sich auf Anhieb zu Hause. Offensichtlich hatten hier Architekten gewirkt, welche man einst wegen übertriebenen Formalismus aus der ehemaligen Ex-DDR ausgewiesen hatte.

„Mensch, Tanke!“ „Tschäki?“ Zu ihren Füßen floß die Lahn. Der Biergarten füllte sich. In zwei Stunden mußte Deutschland gegen Polen gewinnen. Man hatte schließlich ein Sommermärchen zu hyperventilieren. Das Gespräch war zäh. Solche Gespräche sind immer zäh. Der Versuch eine Zeitreise zu unternehmen, schlägt meist fehl. Schakkeline ging es nicht gut. Wer bei Tante Hedwig Unterschlupf suchen mußte, die vor 30 Jahren über Gießen ins Gelobte Land ausreisen durfte, der hatte offensichtlich nicht das Große Los gezogen. Oder es verloren? Oder weggeworfen? Man weiß es nicht. Der Jaguarfahrer vom November Neunundachtzig war wieder in den Hafen der Ehe zurückgefahren. Danach gab es noch einen Mercedes-, einen BMW- und zwei Toyotafahrer. Und der letzte der Toyatafahrer hatte wohl herzbrecherische Fähigkeiten besessen. Tanke spürte keinerlei Genugtuung. Im Gegenteil. Das war der Moment, in dem Erich Schlackerbein, Bär im Karton mit Luftlöchern, nicht mehr Herr seines Schicksals war. Falls er das bis jetzt jemals gewesen war. „Gucke mal, Tschäki. Wie de damols einfach so abgehaun bist, da haste was nüsch ganz fertsch gemocht. Hier! Der Kleene Kerle hat mir oft sehr geholfn. Sein linkes Bein schlackert zwar, aber er hat Klasse. Pass auf Dich auf, Mädel! Schade!“ Ein Schuhkarton und der letzte Bär von Sonneberg wechselten den Besitzer. An der rechten Außenlinie raste Odonkor entlang und der Rest war Neuville. Tankred Florschütz stand auf. Tschäki blieb sitzen. Ein Minicar fuhr Tanke zum Bahnhof. „Schland! Schland!“ Das konnte ihm heute gestohlen bleiben. Und nicht nur heute. In der Hauptstadt wartete jemand auf ihn.

Last Dance. Die hupende und beflaggte Feiermeute hatte sich verlaufen, eine heiße Nacht neigte sich ihrem Ende zu, ein Hauch von Morgenlicht zeigte sich über dem Brandplatz in der kleinen häßlichen Stadt, wo Jacqueline Kraushaar auf den Stufen des Alten Schlosses saß, einen Schuhkarton auf ihren Knien, einen kleinen Stoffbären in der Hand. „Im Osten geht die Sonne auf, im Westen geht sie unter! Iss doch so? Mensch gugge mal, Dein Bein. Da hab ich aber nur die halbe Arbeit geleistet. Scheiße, gelle! Schau mich nich so vorwurfsvoll an! Quatsch! Wasse immer alle nur wollen? Das hält doch. Hier! Bitte! Oh, mein Gott!“ Aua! Auch über dem Wald zu Füßen des Schiffenbergs ging die Sonne auf und Archibald Mahler, Recherchebär, hatte das sichere Gefühl, daß es nun mit der Vergangenheitsaufarbeitung auch gut sei. Den alten Schmerz hatte er noch in bester Erinnerung. Aber er spürte ihn nicht mehr. Er kratzte sich am Pöter. Und tiefer! Links! Das Bein war dran! Keine Beschwerden! Er sah, wie Schakkeline die Marktlaubengasse entlang ging. Wann? Gestern? Oder heute?

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Gewisse Türen sollte man besser nicht öffnen, aber das ist leicht dahergesagt! (Walden Fourteen)

Donnerstag, 29. Juli 2010 17:46

schauen3

Das Telefon klingelte. Tankred Florschütz hob ab. Es meldete sich ein Gregor Giesser. Er rufe an im Auftrag eines Herrn Oskar Derbrunnen. Der habe vor eine neue Partei zu gründen. Eigentlich eine uralte Partei, aber darum ginge es jetzt nicht. Jedenfalls brauche man die Blauen Bände, komplett und alle anderen Veröffentlichungen, die sich direkt oder indirekt auf die Theorien des Trierer Rauschebarts Karl M. bezögen. Weil, man habe vor in der neuen Parteizentrale eine kleine Bibliothek einzurichten. Und die Büros der Parteispitze benötigten auch den ein oder anderen Regalmeter Theorieliteratur. Und man habe gehört, er habe da doch noch einiges im Keller. Die eigenen Bestände habe man damals – sicher ist sicher –  ja vollständig entsorgt und geschreddert. Florschütz legte auf. Das klang nach einer finanziell attraktiven Entrümpelung. Am nächsten Tag fuhr ein Kleinlaster vor und der Speicher wurde geleert. Bücher bewahrt man nicht im Keller auf. Man überreichte einen Umschlag, gut gefüllt. „Mensch Genosse, is ja wie beider Mofija!“ Der Übergeber der Scheine reagierte humorlos, schmiß die Fahrertür ins Schloß und  bog ein in die Schönhauser-Allee, Richtung Rosa-Luxemburg-Platz. Neben der Kasse des Antiquariats „Florschütz & Buchstaben / An- und Verkauf von Lesbarem“ saß Erich Schlackerbein, inzwischen siebzehn Jahre alt und freute sich. Weil er sich immer freute, wenn sein Chef sich freute. Und der hatte allen Grund zur Freude. Fette Einnahme heute und in wenigen Minuten sollte die Fußballweltmeisterschaft beginnen. Im eigenen Land.

Seit nun elf Jahren saß Tankred Florschütz in seinem kleinen Zweiraumantiquariat in der Kuglerstraße im Hauptstadtbezirk Prenzelberg. Wie war er hier gelandet? Er hatte fleißig gesammelt, damals in Sonneberg, er und sein treuer kleiner Begleiter. Er hatte gearbeitet und gearbeitet, Buch auf Buch gehortet, gelegentlich wieder dem Teufel Alkohol die Hand gereicht, Fenster geputzt, Briefe ausgetragen, Hunde spazieren geführt und wollte eigentlich nur eines: vergessen. Es gelang ihm. Und dann wieder nicht. Frauen? Es gab mal eine Nacht. Mal mit jener. Mal mit der. Sonst die Hand. Doch an den Mauern der kleinen Stadt klebte Schakkeline. Unnachgiebig. Er suchte nicht wirklich nach ihr, all die Jahre. Die meisten Tage waren leicht. Aber als man ihm erzählte, man habe sie in der Hauptstadt gesehen? Als wäre kein Tag ins Land gezogen: der Schmerz. Wie er Tage später im Ostbahnhof aus dem Zug stieg, beschimpfte er sich als hirnrissigen, sentimentalen Idioten. Stundenlang lief er durch die große Stadt, fluchte, lachte, trank. Dann stand er vor diesem kleinen Laden im Prenzlauer Berg. Er las: ‘Antiquariat aus Altersgründen preiswert abzugeben. Nur an Ossis!’. Dann ging alles ganz schnell. Und er war Ladenbesitzer. „Gelle, Herr Schlackerbein! Mir zwee Beede! Unternehmer!” Verschweigen wir nicht: ‘de Tschäki’ hat den Laden kein einziges Mal betreten.

“Sollsch! Oder sollsch nüsch?” Seit einigen Tagen trug Tankred einen Brief mit sich herum. Manchmal vergaß er ihn, doch – der Wahrheit die Ehre – manchmal brannte der Umschlag Löcher in die Innentasche seiner alten Lederjacke. Die Absenderin des Schriftstückes war eine gewisse Jacqueline Kraushaar, offensichtlich inzwischen ohne Dorst. Wie lange war das alles her? Aber die Erinnerung hat die Eigenschaft aus altem Filmmaterial binnen weniger Sekunden eine veritable Liveübertragung herbei zu zaubern. “Sollsch?” Erich Schlackerbein zuckte mit den Schultern. Mit so etwas kannte er sich nicht aus und war also auch nicht in der Lage Herrn Tankred Florschütz einen Tip zu geben. „Horche mal her, mein Scheener! Ich mochs!“ Der Buchhändler nestelte seine Lesebrille aus der Hemdtasche, riß den Umschlag auf und so begann der Brief: „Lieber Tanke! Ich lebe noch! Ich sitze hier bei meiner Tante Hedwig in Gießen auf dem Balkon, trinke Kaffee, dazu gibt es Halloren-Kugeln und ich denke, daß ich….“ Mein Gott! Give me strength. Und am Fuße des Schiffenbergs blickte Archibald Mahler, zur Zeit Autobiographiebär, hinaus in seinen Wald und wunderte sich über nichts mehr. Die Wundertüte Erinnerung!

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Hab ich das jetzt unlängst weggeschmissen oder ist es nur verloren gegangen? (Walden Thirteen)

Dienstag, 27. Juli 2010 22:27

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„Am Ende eines jeden Lebens kommt die Müllabfuhr! Wohlsein!“ Ein ganzes Jahr saß der Bär namens Erich Schlackerbein nun schon auf dem Plattenschränkchen des Herrn Tankred Florschütz im sechsten Stock eines Plattenbaus in Sonneberg-Wolkenrasen mit Blick auf die wenige hundert Meter entfernte innerdeutsche Grenze, die nun seit einigen Wochen gar keine Grenze mehr war, sondern eine Art Narbe der Erinnerung in einem neuen, alten Land. „Am Ende eines jeden Lebens kommt die Müllabfuhr! Prösterchen, mein Freund!“ Es war höchste Zeit sich Sorgen zu machen um Herrn Florschütz. Selbst angesichts der durchaus heilenden Wirkung eines ordentlichen Rausches in Zeiten des Abschieds und Verlustes: irgendwann muß gut sein. Der Bär hatte noch keine großen Erfahrungen mit Zweibeinern gemacht. Für ihn war es normal, daß sein Herbergsvater den Tag hadernd und fluchend begann, dann mit Nietenjacke und Schlafanzughose angetan zur Trinkhalle aufbrach, den restlichen Tag zwischen Kühlschrank, Fernsehapparat, Plattenspieler und Kloschüssel hin und her pendelte, um den angebrochenen und nie begonnenen Tag greinend, weinend, schwankend und schließlich auf dem Sofa einschlafend zu beenden. Heute jedoch passierte etwas. Da lief wieder dieses Lied. Der Bär Schlackerbein mochte es. Es klang ein bißchen wütend, ein bißchen fröhlich und das Klavier schepperte. Natürlich wußte er nicht, daß es sich um ein Klavier handelte, aber daß da was schepperte, das bekam er schon mit. Und das passierte: Tankred Florschütz stand auf, schwankte auf den Plattenspieler zu, hob ihn in die Luft, das Kabel riß er aus der Wand, er öffnete das Küchenfenster und zwanzig Meter tiefer zerschellte ein Lied inklusive Abspielgerät.

Time fades away. So hieß das Lied. Einiges an Zeit war Tankred Florschütz im letzten Jahr durch die Finger geglitten, auf Nimmerwiedersehen. Und Tschäki war nicht zurückgekommen. Einmal hatte er Tschäkis Mutter auf der Straße getroffen. Beide wechselten die Straßenseite, gleichzeitig. „Horsche mal her, Schlackerbein. Weeste, mein Scheener, alles kannste in de Mülltonne nei kloppen, Herzen, VEBs, dä Liebe, n ganzes Land, aber eines darfste da nie neihaun: nämlich Dich selber!“ Also stand er von seinem Sofa auf, rasierte sich, wusch sein bügelfreies Campinghemd aus und ging runter zur Trinkhalle, kaufte sich ein Kiste Sprudel – „Sare mal, biste grank?“ – und sah seine Zukunft. Sperrmüll! Es wurde weggeworfen. Manisch! Die Neue Zeit war angebrochen und die Anker wurden nicht gelichtet, sondern ins Meer geworfen. Ohne Kette. Alles lag auf der Straße. Möbel, Küchengeräte, Bücher, Bücher, Bücher, Amiga–Schallplatten, Nußknacker und Pyramiden aus dem Erzgebirge, Trabireifen, Fernseher Marke Chromalux,  Radios aus Stassfurt, Plaste und Elaste, sogar ganze Batterien von Einweckgläsern mit Spreewaldgurken. “Nee! Sglaubsch jetz nich!”  Da lehnte sie an einem Laternenpfahl – Nein, nicht de Tschäki! –  eine Schwalbe, eine Simson KR 51/2, Baujahr 1984 in saharabraun. “Zu verschenken!”

Die Schwalbe war, nach einigen Handgriffen, vollkommen fahrtüchtig. Zwei wesentliche Ergänzungen erfuhr das Gefährt. Am Gepäckträger hatte Tankred Florschütz eine Art Anhängerkupplung angeschweißt sowie einen kleinen Sitz plus Kissen. Und dort thronte, mit einer Gummispinne festgezurrt: Erich Schlackerbein. „Mensch, der Kleene Kerle, der hats een ganzes Johr mit mir ausgehalten! Und hat sich nich davon gemocht!“ Und so kurvten die Zwei auf ihrer Schwalbe – Kurvte die Schakkeline noch im Jaguar? – durch Sonneberg, sammelten, was so rumlag und luden es in den Anhanger, den ihre Schwalbe geduldig hinter sich herzog. Erstmal Blaue Bände ohne Ende, natürlich auch den kompletten Engels, den ein oder anderen Lenin (auch komplett) und auf manchem Speicher lagen sogar noch die vollständigen Hinterlassenschaften des Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili herum. Fragte man Tankred Florschütz, was er denn mit diesem Schrott wolle, antwortete er, er habe Buchhändler gelernt, er habe sogar die Abschlußprüfung bestanden und irgendwie müsse man ja anfangen mit dem eigenen Geschäft und dem Kapitalismus und wer weiß, ob nicht irgendwann in zehn oder zwanzig Jahren Menschen wieder ab und an in diesen Büchern rumstöbern wollten. Weggeworfen sei schnell! Und dann hat man vergessen, wo und wie und wann! Und er vergewisserte sich, ob Genosse Herr Erich Schlackerbein noch an seinen Platz saß, denn den wollte er nicht verlieren. Auf gar keinen Fall!

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Und dann wollte auch die Liebe keine Paraden und Parteitage mehr (Walden Twelve)

Montag, 26. Juli 2010 17:48

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Da saß er also vor dem laufenden Fernseher in einem Pausenraum des ‚VEB Kombinat Spielwaren Sonneberg’, kurz: SONNI. Das Testbild fiepte von der Mattscheibe. Tankred Florschütz war eingenickt. Auf dem grünbräunlichen Linoleum-Fußboden lag ein kleiner Bär. Er war dem Schläfer aus den Händen geglitten. Es roch intensiv nach Wofasept, dem allgegenwärtigen Putzmittel. Der Bär mußte niesen. Das erste Mal in seinem Leben. Herr Florschütz bemerkte dies nicht und schnarchte weiter. Das Bellen eines Schäferhundes weckte ihn. Der Wachdienst drehte seine Runde und machte die Lichter aus. Tankred Florschütz sprang auf, griff nach dem Teddy. Im Türrahmen stand der Wachmann. Na wunderbar! Nachts unerlaubterweise in die Produktionsräume des ‚VEB Kombinat Spielwaren Sonneberg’, kurz: SONNI, eingedrungen und sich auch noch am Volkseigentum vergriffen. „Ei gugge da, da is ja noch eener. Dachte schon, alle ham heut Nacht ribergemacht. Na, och n kleines Andenken an unseren alten Saustall organisiert? Der iss aber Nscheener! Jetzt aber schnell hehme, Genosse! Dann will ich nüscht gesehn homm!“ Der Schäferhund knurrte und zeigte Zahn. „Na biste ruhisch, Walter!“ Der kleine Bär in der Hand des schlaftrunkenen jungen Mannes wußte von diesem Moment an, daß diese vierbeinigen Kläffer ihm wohl nie besonders symphatisch werden würden.

Hatte es gestern noch fast den ganzen Tag genieselt, so zeigte sich heute die Sonne und es war für die Jahreszeit außerordentlich mild. Tankred Florschütz stand vor der Pforte des ‚VEB Kombinat Spielwaren Sonneberg’, kurz: SONNI, und wartete. Er war kurz bei sich zu Hause gewesen, hatte  sein neues Fahrrad Marke Diamant bestiegen und war in die Rosa-Luxemburgstrasse 5 in Sonneberg-Bettelhecken gefahren, hatte dort sturmgeläutet, doch keiner hatte geöffnet. Eine Nachbarin hatte ihre Haustüre geöffnet und Herrn Tankred Florschütz mitgeteilt, daß Fräulein Jacqueline Kraushaar–Dorst heute Nacht nicht nach Hause gekommen sei. Man wäre selber erst morgens um vier ins Bett und bis dahin sei die Dame nicht zurückgekehrt und die Vorhänge wären immer noch zugezogen. Keine Veränderung. Zumindest hier. Also wartete er vor der Pforte auf das Eintreffen der Spätschicht, in seiner Hand ein Einkaufsbeutel aus  dem guten Stoffe Dederon, in diesem Beutel ein kleiner Bär, der etwas verwirrt. Verschlafene, übermüdete, noch trunkene Werktätige schlurften durch das Werkstor. Erstmal in die Kantine, ein Kaffee, vielleicht ein Schnäpschen. Wer war denn schon alles drüben gewesen? Einige nickten Tankred Florschütz zu. Da stand er ja wieder, der langhaarige Kater. Mensch, muß Liebe schön sein! Dann war die Straße vor der kleinen Spielwarenfabrik leer. Der Pförtner, zu dem er sich umgedreht hatte, zog die Schultern hoch und neigte den Kopf bedauernd nach rechts. Nein, die geliebte Schakkeline ist heute nicht zur Arbeit erschienen.

Seit zwei Wochen hatte der Bär nun einen Ehrenplatz in des Tankred Florschütz Einraumwohnung mit Kochnische im sechsten Stock eines Plattenbaus in Sonneberg-Wolkenrasen mit Blick auf die wenige hundert Meter entfernte innerdeutsche Grenze, die seit vierzehn Tagen nun keine semipermeable Membran mehr war, sondern nach beiden Seiten offen. Der Bär saß oben auf dem kleinen Schränkchen, in dem sich der sorgsam gehütete Schatz des Tankred Florschütz befand. Sieben Westschallplatten!

The Rolling Stones: Beggars Banquet / Emerson, Lake & Palmer: Pictures At An Exhibition / Neil Young: Time Fades Away / Deep Purple: Machine Head / The Clash: London Calling / Udo Lindenberg: Ball Pompös / Bob Dylan: Blood on the Tracks (heilig, heilig!)

Ein Schatz, der innert weniger Tage einen rasanten Wertverlust erlitten hatte. Doch der Bär hatte  seit einigen Tagen einen Namen. „Mensch Erich Schlackerbein, da sitzen mir zwee Beede und warten auf de Tschäki. Geteiltes Leid, mein Scheener. Du hast ja och mitgekriecht, was für zärtliche Hände die Tschäki. Ne? Och, Scheiße!“ Und dann weinte der verlassene Mann oder trank Schnaps oder beides zugleich. Und hörte traurige Lieder. Love in Mind.

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Wer zu spät kommt! Wenn es so einfach gewesen wäre einst im November! (Walden Eleven)

Sonntag, 25. Juli 2010 17:10

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Tankred Florschütz war jemand, der meist zu spät kam. Nicht daß wir uns falsch verstehen, er war kein unpünktlicher Mensch, ganz im Gegenteil. Auf Tankred Florschütz war Verlaß, aber eilig hatte er es nie. Wenn Gleichaltrige schon zum zweiten Mal heirateten, um sich den Anspruch auf eine Zweiraumwohnung zu sichern, wuchs auf Tankreds Oberlippe der erste Flaum. Wenn seine Freunde das erste Kind mit dem neuen Trabi von der Polytechnischen Oberschule abholten, dachte Tankred über den Erwerb seines ersten Fahrrads nach. Auf seinem Nachttischlein lag Alfons Zitterbacke neben Tschingis Aitmatows ‘Dshamilja’ und Franz Fühmanns “22 Tage”.  Im Prinzip war er auch an jenem Abend pünktlich. Wie immer. Er stand vor der Pforte des ‚VEB Kombinat Spielwaren Sonneberg’, kurz: SONNI. Niemand da, doch alle Lichter brannten. Er betrat das menschenleere Fabrikgelände. Aus einem der Pausenräume drang lautes Rufen und Johlen. Ein Fernseher lief dort alleine vor sich hin. Sah Tankred Florschütz die Ausstrahlung eines Science–Fiction-Filmes? Welchem abgedrehten Regisseur war das denn eingefallen? Menschen tanzten auf dem ‚Antifaschistischen Schutzwall!’ herum, sangen, lachten, lagen sich in den Armen und schlugen mit Hämmern und Äxten auf das Mauerwerk ein. Die Ordnung schaute tatenlos zu. Spinner! Er betrat die Fertigungsabteilung.

Auf dem finalen Produktionstisch der „Nähstube Endfertigung“ lag ein kleiner namenloser Bär, der gerade im Begriff war zu erfassen, daß es ihn überhaupt gibt. Flackerndes Neonlicht Marke Narva erhellte den Raum. Die frisch eingesetzten Glasaugen schmerzten. Wer, wo, was und wie bin ich? Die üblichen Fragen beim Hineingleiten in eine neue Existenz. Die Welt gehörte ihm, denn war da sonst wer? Nein! Nein? Doch! Ein freundlich grinsender Langhaariger beugte sich über ihn. Nietenjacke, Nietenhose, bügelfreies Campinghemd, Chapka auf dem Kopf. „Mensch guck aber och, Du bist vielleicht Nscheener! Sachemol, Du weeßst och nich, wo meine Tschäki iss?“ Tankred Florschütz wollte eigentlich, wie jeden Abend seit nun etwa drei Monaten, seine geliebte Schakkeline von der Schicht abholen. Sie, schon dreimal geschieden, doch er – Wir wissen, es dauert alles etwas länger bei ihm! – zum ersten Mal in seinem Leben in Flammen stehend. Ein jähes und bitteres Gefühl von plötzlich eintretender Einsamkeit jagte Tankred die Wirbelsäule entlang. Seltsam! Er hob den kleinen Bären vom Tisch. „Mensch Kerle, das doarf doch nich woahr sein! Dein eenes Bein schlackert!“ Ambulance Blues.

In Coburg tanzte der Bär und lange getrennte Brüder und Schwestern miteinander und die Nacht war ein Tag. Die Veste blickte hinunter auf eine nicht endenwollende Schlange stinkender und hupender Trabis und in den Kneipen flossen Bier und Schnaps ohn Unterlaß. Jacqueline Kraushaar–Dorst war heiser, lachte, weinte, schrie, schwieg, trank. „Tschäkki! Komm, mir müssen hemme!“ „Die nächste Runde geht auf mich. Schöne Schwester aus dem Osten, bist Du schon mal in einem Jaguar gefahren?“ „Tschäki, des kannste nich mochen. Komm, mach hinne!“  Die Rücklichter eines Jaguar XJS Cabrio verschwanden in einer nebligen, kalten, doch äußerst historischen Novembernacht. In besonderen Momenten kann man auch bei solchen Wetter das Verdeck herunterlassen. Eine trunkene Frau küßt einen Mann aus dem Westen. Ihre Haare fliegen durch die Nacht. Schnitt. Wald in Mittelhessen. Was man so alles erlebt hat, wovon noch gar nichts wußte. Archibald kratzte sich am Bärenpöter. „Mehr, liebe Erinnerung, mehr.“ Morgen ist auch noch ein Tag, lautete die Antwort.

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Geben wir dem Zufall Sinn und Form und nennen es Geschichte! (Walden Ten)

Samstag, 24. Juli 2010 16:36

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Selbstredend ist der Erinnerung nicht zu trauen. Sehr gelehrte Aufrechtgeher sprechen von der sogenannten „Quellenamnesie“. Der sich Erinnernde vermengt tatsächlich Erlebtes mit später Rezipiertem: Berichte, Bücher, Filme, Fremderzählungen. Das Hirn rührt sich seine eigene Melange zusammen und ernennt diese Wahrnehmung zur Wahrheit. Diese Wahrheit kann also nicht mehr sein als nur ihr eigener Teilaspekt. Dürfen wir diese Teilwahrheit nun eine Lüge nennen? Nein, denn Erinnerung befindet sich in einem permanenten Prozeß der Überarbeitung. Tagtäglich wird umgeschrieben, gelöscht, verworfen, neu formatiert. Das Gedächtnis ist kein Archiv, auch wenn manche Zeitgenossen dies hartnäckig behaupten mögen, das Gedächtnis ist meist Mittel die Gegenwart zu bearbeiten und lebbar zu machen. Unser Gedächtnis wird jeden Tag neu geboren! Archibald Mahler, Bär vom Brandplatz und bald mehr, blickte in den Wald hinaus und erinnerte sich:

Weltspielwarenstadt! So nannte man vor hundert Jahren Sonneberg, eine kleine Stadt in Thüringen, in der damals zwanzig Prozent aller auf der Welt verkauften Spielwaren hergestellt wurden. Jacqueline Kraushaar–Dorst war das ziemlich gleichgültig. Jacqueline, oder wie ihre Kolleginnen und Freunde sie nannten, die Schakkeline oder einfach nur „de Tschäki“, arbeitete als Näherin im ‚VEB Kombinat Spielwaren Sonneberg’, kurz: SONNI. SONNI war das, was von der einst florierenden Spielwarenindustrie in Sonneberg übriggeblieben war. Ein November war ins Land gezogen, in jenes Land, das im Jahre Neunzehnhundertneunundachtzig unbremsbar seinem Untergang entgegensteuern sollte. Tschäki saß vor einem Tisch in der „Nähstube Endfertigung“. Auf dem Tisch lagen – wenn die Versorgungslage es zuließ und so für die Produktion ausnahmsweise Holzwolle, Stoff, Garn und Glasaugen gleichzeitig zur Verfügung standen – Köpfe, Arme, Rümpfe und Beine von Stoffbären der Marke ‚Teddy Brumm’. Frau Kraushaar–Dorsts Aufgabe war es aus diesen Teilen, die durchaus auch sehr unterschiedliche Qualitätskriterien aufweisen konnten, einen hübschen, freundlichen und strapazierfähigen Bären zusammenzunähen. Und dies schien ihr heute zu gelingen. Ihre Vorarbeiterinnen hatten ganze Arbeit getan, die Materiallage – Agonie hin, Gorbatschow her – war eine positive. „Ei guck, der wird en Scheener!“ Doch, der Historie sei es geschuldet, die Schakkeline hörte Radio.

„Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD erfolgen […]“ „Wann tritt das in Kraft?“ „Das tritt nach meiner Kenntnis […] ist das sofort, unverzüglich.“ „Gilt das auch für Berlin-West?“ „Die ständige Ausreise kann über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD bzw. zu Berlin-West erfolgen.“ Die Tür zur Nähstube flog auf. „Mensch, mach hinne Tschäki! Mer foahrn nieber! Nach Goburgch!“ Die sonst sehr gewissenhafte Näherin war gerade dabei das linke Bein des zukünftigen Bären anzunähen. Ein, zwei schnelle Stiche und das war es dann auch. „Wahnsinn! Wahnsinn“ Revolution Blues. Auf einem Tisch im von allen guten Geistern verlassenen VEB Kombinat Spielwaren Sonneberg – kurz: SONNI – lag ein Bär. Ein gelungenes Exemplar. Hübsch, freundlich, doch – Oh Egon! Das linke Bein! – leider nicht allzu strapazierfähig. War das so? Natürlich war das so! Oder eben ganz anders!

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Keinen Plan zu machen, heißt noch lange nicht keinen Plan zu haben (Walden Nine)

Freitag, 23. Juli 2010 14:03

schlimme_nacht

Gegen Abend hatte leichter Regen eingesetzt. Archibald wollte nicht noch einmal feucht werden und kletterte in seiner luxuriösen Waldwohnanlage zwei Stockwerke höher. Zwischen den dicken Wurzeln der mächtigen Eiche fühlte er sich sicher. Die Felsen, welche von den Wurzeln eingeschlossen waren, gaben die Wärme des heißen Tages ab, er legte sein Bärenhaupt auf den alten Schal und blickte hinaus in den Wald. Der leichte Wind fuhr raschelnd durchs Geäst und die Regentropfen trommelten leise auf das Blattwerk, weit über ihm. Unten blieb es trocken und warm. So kann es bleiben. Er schlief ein.

Er erwachte von der Stille. Die Stille einer Nacht im Wald, mondlos finster. Die Stille, die entsteht, wenn alles nach einer wochenlangen Hitzeperiode aufatmet, wenn die zurückgekehrte Kühle wieder den Schlaf zuläßt. Die Stille, die wirkt, als habe Gott der Herr den Stecker rausgezogen, weil ihm das ganze hektische Getriebe der Zweibeiner auf die Nerven geht. Doch in Archibald fand sie nicht statt, die Stille. Im Gegenteil, in ihm pochte es und vibrierte es, eine ihm gänzlich unbekannte Unruhe hatte ihn erfaßt. Hatte er geträumt? Er erinnerte sich nicht.  Hatte er Angst, alleine, hier draußen? Nein! Seine Anoperationsnarbe juckte und zuckte, was sie immer tut, wenn das Wetter sich ändert und ein größeres Tief naht. Was war ihm? Was faßte ihn an? Zartrosa fielen einzelne Finger des Morgenlichts auf den Waldboden. Es dämmerte. Und irgendwann dämmerte es auch Archibald Mahler, dem Bären, dem noch eine Geschichte fehlte.

Natürlich, das abbe Bein. Wollte er nicht schon seit Monaten die Geschichte davon erzählt haben? Gewiß, ein wenig spekuliert hatte er einst im Märzen, doch sich dann letztlich aus der Verantwortung der präzisen und ordentlichen Erinnerung geschlichen. Und nun, hier in der Stille, die auch einem kleinen Bären unerbittlich den Spiegel vor die Nase hält, besuchten ihn seine Gespenster. Hatte er nicht mit Ernst Albert in den letzten Wochen und Monaten kleine Reisen unternommen, hinab ins Heckerland, an den See und sogar in den untergegangenen Osten und war dort staunend auf den Pfaden der Erinnerung gewandelt? Hatte er nicht mit offenem und interessiertem Ohr all den Geschichten gelauscht, die sein Herr und Meister ihm erzählt hatte, sich seiner Ursprünge vergewissernd? Und er machte einen Plan, obwohl er, als er losgegangen war, sich fest vorgenommen hatte keinen Plan zu machen und sich vertrauensvoll den Überraschungen und Wendungen, die ein Tag so vorweisen kann, zu überlassen. Doch wenn der Plan wächst aus der Planlosigkeit, ist es ein guter Plan! Hat wahrscheinlich irgendwann mal der Geheimrat gesagt. Er würde schauen, in die Blätter und er würde warten bis die alte, längst überfällige Geschichte vom abben Bein aus den letzten Zipfeln der Erinnerung aufsteige. Und dann würde er sie festhalten, ein für allemal. A journey through the past. Und das ist das Schöne am Urlaub: Man ist früh erwacht,  man hat nachgedacht, darüber wurde es hell, doch die Müdigkeit kehrt nochmals zurück und man schläft wieder ein, ohne schlechtes Gewissen, bis zum Mittagsmahl. Und so tat es dann auch Archibald.

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Auch ein Rechtsanwalt wird nicht verhindern können, daß es gelegentlich regnet (Walden Eight)

Donnerstag, 22. Juli 2010 12:44

mahlzeit

Der erste Urlaubstag ist gerne mal eine fürchterliche Enttäuschung. Das Zimmer zur Meerseite blickt auf eine Baustelle, das Meer selbst ist ein Algenteppich, das Frühstücksbuffet ist ein trockenes Brötchen mit Erdbeergelee und das freundliche, angeblich deutschsprechende Personal schaut Dich mit dem Arsch nicht an und macht in seiner Landessprache blöde Witze über Deine weiße Haut und die unvorteilhaften kurzen Hosen von Tante Hedwig, die nach Meinung der geliebten Gattin unbedingt mit auf die Insel reisen sollte, weil irgendwer muß ja auf die verzogene Brut aufpassen, die gerade flunschziehend feststellt, daß ihre Prepaid-Handys hier im Ausland nicht funktionieren. Und natürlich hat einen niemand gewarnt. Herr Rechtsanwalt, übernehmen Sie! Nein, ganz so schlimm war es nicht, hier im Wald am Fuße des Schiffenberg vor den Toren der kleinen häßlichen Stadt. Aber ein bißchen mopperte es schon im Herzen unseres Herrn Archibald Mahler, Ferieneremit und Beerenliebhaber. Warum?

Beerenliebhaber, das ist das Stichwort, mein Ingo! Beerenliebhaber! Als Hausbär und gelegentlicher Weltenbetrachter, und dies seit nun etwas mehr als fünf Monaten, ist man in Sachen Flora und Fauna leider nur mit oberflächlichem Wissen gesegnet. Und so durfte der Bär im Wald feststellen, daß zum einem hier vor Ort keinerlei Heidelbeeren wachsen – die müßten jetzt eigentlich reif sein – und ebenso in Sachen Preiselbeeren – Reifegrad siehe oben – Fehlanzeige! Am Rande des Waldes allerdings Brombeersträucher ohne Ende, reich bestückt, aber so was von grün und unreif. Das dauert noch mindestens drei Wochen bis zur Verzehrreife. Gut, gestern eine letzte Walderdbeere, schrumpelig und bräunlich. Und, Potzrembel die Waldfee: wer ist Schuld? Doch ein Bär ist kein Aufrechtgeher und somit ist die Beschwerde und die permanente Klage des Zurückgesetzten und von der bösen Welt Betrogenen nicht sein Metier. Ganz im Gegenteil. Selbst ist der Bär!

Es wurde dann doch noch eine schöne Höhleneinweihungsfeier. Es hatte ein bißchen gedauert, bis Archibald das Verschlußprinzip des Heidelbeermarmeladenglases durchblickt hatte. In einem ersten Anfall von Zorn und Ungeduld war er versucht das Glas einfach gegen einen der Felsbrocken zu donnern. Aber da war der Ökobär in Archibald vor. Und so eine Scherbe in der Pfote, hier am Ende der Welt, ohne die verehrte Frau Doktor Eva Pelagia in greifbarer Nähe? Niemals! Die Einsamkeit des Waldes hat insofern den Vorteil, daß niemand sah wie Herr Mahler das Glas zwischen seine Bärenoberschenkel klemmte und hundertmal mit den Pfoten abrutschte beim Versuch den Deckel aufzudrehen. Die Sonne stand im Zenit, als ein leises Plopp den Schatz freilegte. Und da saß er nun der Bär, hielt seine Gier an der kurzen Leine, dippte ein Holzstückchen in die süße Versuchung und schleckte sich genüßlich durch den restlichen Tag. Wie das im Gaumen perlte! Die reine Weltheidelbeermarmelade! Ein einsamer Wanderer blickte verwundert ins Gebüsch. Was stöhnt da so lustvoll? Der Himmel über den Baumwipfeln verfinsterte sich. See the sky about to rain!

Thema: Walden | Kommentare deaktiviert | Autor: Christian Lugerth

Mit der gehörigen Ruhe findet sich das beste Angebot in letzter Sekunde (Walden Seven)

Mittwoch, 21. Juli 2010 15:47

hoehlensuche

„Bär, Nichtraucher, eher kontemplativer Typ, gelegentlicher Aasfresser sucht sehr ruhige Ferienhöhle. Bachnähe, trotzdem aber trocken und schöne Aussicht Bedingung. Bezug ab sofort. Mietpreis verhandelbar. Kann auch mit Haikus zahlen oder Geschichten. Zurufe an Archibald Mahler, Bär vom Brandplatz, aber z.Z. im Wald!“ So hätte sie aussehen können, die Annonce. Aber wer bitte sollte das lesen? An alle Bäume im Wald einen Zettel hängen? Außerdem gibt selbst ein Bär ungern zu, daß er nicht schreiben kann. Oder sollte er laut rufend durch den Wald tappern, Text siehe oben. Von wegen kontemplativer Typ! Lieber kein Aufsehen erregen als Neuling im Gehölz. Er war froh, daß die Rabenclique am Waldrand geblieben war. Da haben es die Aufrechtgeher einfacher. Die ohne Geld finden sowieso keine Höhle und die mit viel Geld lassen sich eine Höhle suchen von sogenannten Unbeweglichkeitsmaklern. Archibald aber ist Bär und darüber sehr froh und deshalb blieb ihm nichts anderes übrig, als den Wald gewissenhaft zu durchstreifen und sich auf seine gute alte Nase zu verlassen. Und es war angenehm kühl.

Das mochte er, auch wenn die Anspannung des Suchens und der Ungewißheit groß war: das Gedämpfte. Die Schritte vom weichen Boden gedämpft, der Wind streichelt sanft durchs Blattwerk, das Tageslicht zerlegt sich in einzelne Strahlen, bevor es den Waldboden erreicht und blendet nicht, das Zwitschern der Vögel verliert sich im Geäst und fern, ganz fern gelegentlich das Dröhnen einer Blechmilbe. Dann hörte er Musik. Zweibeineralarm!  „One two! One two! Check! Check! Twäng! Tröt! Schepper!“ Irgendwo wurden Instrumente gestimmt, man ließ ein Lied anklingen. Schöne Musik! Ein musikalischer Sommer! Archibald setzte sich auf einen umgestürzten und bemoosten Baumstamm. „Klasse!“, dachte er. „Wald mit Radioanschluß! Wie zu Hause bei Ernst Albert und Eva Pelagia!“ Er schloß die Augen. Und er sah sich, wie er im Wald saß, die Augen geschlossen und ein fernes Lied hörte. Im Wald am Fuße des Schiffenbergs vor den Toren der kleinen häßlichen Stadt. Motion picture.

Da krächzten die Raben. Potzrembel die Waldfee! Der Abend nahte und immer noch keine Bleibe. Archibald sprang auf und drehte sich einmal um die eigne Achse – Wohin nun, wohin? – und er sah. Er sah einen Abhang. Ein heftiger Regen hatte Teile des Abhanges weggespült und große Felsbrocken waren hinuntergerollt, hatten sich ineinander verkeilt und so waren entstanden: Höhlen. Kleinere, größere, dunkel, aber trocken. Über allem thronte eine riesige Eiche, deren Wurzeln zu Teilen von Wind und Wetter freigelegt waren. Noch mehr Höhlen. „Zimmer frei?“ Vorsichtig schlich er näher, blickte in die eine, in die andere lockende finstere Vertiefung. Nichts regte sich. Er richtete sich auf, nach guter alter Grizzlyart und ließ seinen wildesten Schrei in den Abendhimmel steigen! Die Vögel verstummten. Nichts regte sich. Sehr gut! Archibald setzte einen Mietvertrag auf. Mit sich selbst! Der Abdruck seiner Pfote besiegelte die Vereinbarung! „Die erste Nacht verbringe ich im Erdgeschoß!“ Der Bär freute sich über seine Entschlußfreudigkeit und vergaß nicht vor dem Einschlafen, welches blitzartig erfolgte, Frau Adler und allen ungenannten Bärengöttern zu danken. Ein guter Tag!

Thema: Walden | Kommentare deaktiviert | Autor: Christian Lugerth