Wolziger Seelegien / Sechs / Wind

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Biegst du, über den alten Plattenweg von Gönsdorf her kommend, am Dorfplatz von Klein Schauen (Kopfsteinpflaster, Dorfeiche, Feuerwehrhaus mit Storchennest, Kirche, Bushaltestelle) rechts ab, kommst du nach Groß Schauen. Durchquerst du – dich links haltend – den dortigen Dorfplatz (Kopfsteinpflaster, Dorfeiche, Feuerwehrhaus mit Storchennest, Kirche, Bushaltestelle), befindest du dich wieder in einem Kiefernwald. Fahr weiter und geradeaus Richtung SSW. Nach einem oder vielleicht zwei Kilometern stellst du dein Rad ab, nimmst den Trampelpfad linker Hand durch kniehohe Wiesen und Felder, bereitest dich auf einen Großangriff hungriger Stechmücken vor und findest nach einer halben Stunde den Turm.

Archibald Mahler saß auf dem Holzgeländer, welches die oberste Aussichtplattform des Turmes sicherte, geschätzte zwanzig Meter über den Erdboden. Man sollte anmerken, daß im Laufe des Tages ein tückisch böiger Nordost – Wind eingesetzt hatte. Dieser unberechenbare – noch direkt von vorne kommende – Wind drückte Mahler gegen den Pfosten, an den ihn Herr Ernst Albert mit der ihm eigenen Risikobereitschaft (ja, natürlich steigt da der eh schon zu hohe Blutdruck ängstlich an) gesetzt hatte. Herr Mahler war aber zu beschäftigt mit dem großen Schauen, als daß er sich der existentiellen Wackeligkeit seiner Position bewußt werden konnte. Weites Land. Leeres Land. Stilles Land. Keine Aufrechtgeher. Nun gut, die Spuren eines fetten Jeeps unten im Gras sichtbar und den Turm muß ja auch jemand gebaut haben … egal!

Ernst Albert griff behende zu, in jenem Moment als eine seitliche Böe den besten aller Bären schon ergriffen hatte und in den jähen Abgrund schleudern wollte, mußte aber dafür das Notizheft, welches er bei sich führte, um Eindrücke und Hirnskizzen festzuhalten, außer acht lassen und einige lose Blätter segelten Richtung Abgrund oder … nun: irgendwohin. Dummerweise hatte der Wind die ersten Seiten der allerersten Notate, die im ICE kurz hinter Stendal zur Niederschrift gebracht wurden, erfaßt. Keine große Kunst, eher Dokument eines nicht wirklich erfreulichen Zustandes von Leib und Seele, aber nun mal notiert und ein Beginn und der Vollständigkeit halber durchaus von gewisser, auch emotionaler Bedeutung. Dreimal den Turm hoch und runter, Mahler inzwischen windfest verstaut. Etliche Flüche, dumme Selbstbeschimpfungen trug der Wind über den Schauener See. Dem war es gleich. Die Suche blieb erfolglos.

Archibald Mahler bot ein kleines Stückchen Überbrückungsvers an.

Heimat eins

Ich mag nicht mehr vergleichen. / Ich mag dort sein, / wo ich gewesen war. / Bleiben, / wo ich sein werde. / Der Wind weht mich ins / Nirgends. / Überall.

Ernst Mahler dankte, unwirsch noch, doch erfreut über einen Denkanstoß. Übers Reisen, die Heimat, Aufbrüche, Abbrüche und Wiederkehr, Scheitern, die Kunst und die Worte generell galt es noch intensiv nachzusinnen. Aber erst nach Märkisch Buchholz. Ein vierter Abstieg vom Turm, man brach auf.

„Herr Albert, schauen Sie mal, was da im Gras liegt.“

„Wahnsinn, ich glaube es nicht. Vom Turm bis zu diesem Wäldchen, das sind ja fast zweihundert Meter. Unfaßbar!“

„Herr Albert, bitte messen Sie dem Fund Ihrer Notate keine allzu große Bedeutung bei! Dank genügt“

„Ja, Gott sei Dank! Sie, bester Mahler, wären bestimmt nicht so weit geflogen!“

„Wer weiß?“

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Autor: Christian Lugerth
Datum: Donnerstag, 7. August 2014 12:58
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