Wolziger Seelegien / Zehn / Erfahrung

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„Unter Dornenbogen / O mein Bruder klimmen wir blinde Zeiger gen Mitternacht.“

Obige Zeile aus einem Trakl – Gedicht als fernes Echo im Kopf. Rechter Hand das Ortsschild: ‚Märkisch Buchholz / Landkreis Dahme – Spreewald’. Zweihundert Meter weiter, auch rechts: Grabsteine, frisch behauen, ungenutzt noch. Eine Sandstein – Stele, beschriftet: ‚Naturstein Weber / Grabmale – Baumaterialien’. Ernst Albert mußte kopfschüttelnd lachen. Weber, so hieß der Mann, der Ernst Albert vor mehr als zwanzig Jahren, damals an jenem Musentempel in Süddeutschland, mit dem Dichter in Berührung gebracht hatte. (Lieber Manfred, ich hoffe es geht Dir gut. Man arbeitet, verliert sich aus den Augen, liest gelegentlich noch vom Anderen. Gutes. Trauriges. Belangloses. Perdu!) Linker Hand die Kirche, ein Platz, ein kleiner Edekamarkt. Nachfragen. „Ja, die Franz – Fühmann – Begegnungsstätte, gleich hier links die Straße runter, fünfhundert Meter bis zur Alten Schule. Das Grab? Das Grab die andere Richtung, einen Kilometer über den Kanal, dann links. Sieht aber nich so dolle aus, das Grab. Die Tochter. Will wohl nicht so recht.“ Das antwortete die freundliche Verkäuferin. Bedanken und Wasser kaufen, viel Wasser an diesem glühenden Tag.

Auf einer Bank im Schatten der Kirche Rast. Die Hitze hat den mitgeführten Proviant – Brot, Käse, Äpfel – zu einer amorphen Masse verschmelzen lassen. Das Fell des Bären jedoch blieb verschont.

„Wollen Sie noch mal anrufen, Herr Albert?“

„Einmal noch! Gut!“

Ernst Albert hatte in den letzten Tagen mehrfach versucht, unter einer Nummer des Franz – Fühmann – Freundeskreises jemanden zu erreichen, der ihm das ehemalige Wohnhaus des Dichters zeigen könnte und vor allem jene Garage, in der er sich zurückzog, um zu schreiben. M. Weber hatte ihm Fotos dieses Ortes gezeigt. Die damalige Faszination ist ihm heute noch präsent und spürbar. Keiner ging ans Telefon. Kein Anrufbeantworter sprang an.

„Wieder nix. Egal!“

Wenig später vor der Alten Schule in Märkisch Buchholz. Eine Hinweistafel: ‚Franz Fühmann – Begegnungsstätte / geöffnet Donnerstag 14.30 h – 16.30 h’. Es war Mittwoch. Zwei Stunden Gedenken die Woche. Wenig für einen Wichtigen! Aber wer entscheidet dies schon? Die Straße runter: der kleinste Biergarten der Welt. Drei Tischlein, zwölf Stühle unter einer Eiche.

„Wo, Herr Albert, setzt ihre Erinnerung ein?“

Und Albert erzählte dem Herr Mahler, Bär sowie aufmerksamer und kompetenter Zuhörer, wie ihn vor vierundzwanzig Jahren das erste Mal der heimtückische und bösartige Kreuzschmerz heimgesucht hatte, ihn Wochen und mehr aus allen Bahnen geworfen hatte und wie ihm, als er in den – zwischenzeitlich schon aufgegebenen – Beruf zurück humpelte, sein damaliger Intendant – jener Weber – vorschlug Fühmanns ‚Sturz des Engels / Erfahrungen mit Dichtung’ – ein grandioses Werk über eine lebensbegleitende und –durchforstende Erfahrung mit und durch die Gedichte Georg Trakls…

„Waren Sie nicht letzten Herbst auch in Salzburg, Herr Albert?“

„Natürlich! Der Kapuzinerberg! Der Kreuzweg! Aber davon später!“

…wie ihm also der Weber vorgeschlagen hatte, den ‚Sturz des Engels’ als Monolog zu arbeiten. Und er erinnerte sich, wie er damals – aufgerieben vom Liegen, vom der würdelosen Humpelei, von Medikamenten, von Befürchtungen – dieses Rilke – Zitat (aus Malte Laurids Brigge) im Vorwort  zum ersten Mal gelesen hatte:

„Denn Verse sind nicht, wie die Leute meinen Gefühle (die hat man früh genug), – es sind Erfahrungen. Um eines Verses willen muß man viele Städte sehen, Menschen und Dinge, man muß die Tiere kennen, man muß fühlen, wie die Vögel fliegen, und die Gebärde, mit welcher die kleine Blumen sich auftun am Morgen. Man muß zurückdenken können an Wege in unbekannten Gegenden, an unerwartete Begegnungen und an Abschiede, die man lange kommen sah, – an Kindheitstage, die noch unaufgeklärt sind, an die Eltern, die man kränken mußte, wenn sie einem eine Freude brachten, und man begriff sie nicht… Und es genügt auch noch nicht, daß man Erinnerungen hat. Man muß sie vergessen können, wenn es viele sind, und man muß die große Geduld haben, zu warten, daß sie wiederkommen. Denn die Erinnerungen selbst sind es noch nicht.“

Selbstmitleidiges Gefühle beim Lesen damals wahrscheinlich, fern jeglichen Begreifens, Ahnung vielleicht. Heute einige Meilen die Straße weiter runter gereist zumindest: Erfahrungen. Hoffentlich. Der Wirt des kleinsten Biergartens der Welt brachte die angeforderte Rechnung. Großes Bier. Zwei Brühwürste. Brot. Drei Euro zehn.

„Fahren wir zum Friedhof, Herr Albert!“

„Herr Mahler, gerne bin ich Ihr Chauffeur!“

Mittagshitze, biergeweicht, und ein neues Echo aus Trakls Feder in Ernst Alberts Schädel:

„Der Wahrheit nachsinnen / – viel Schmerz.“

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Autor: Christian Lugerth
Datum: Donnerstag, 21. August 2014 14:23
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