Wie wir den Nachbarn im Osten besuch(t)en 3
„Wie ist es so drüben in Doitschland, Budnikowski?“
„Hektisch, Mahler! Hektisch! Als hätte man schon wieder verloren! Irgendwas verloren. Und bei Ihnen da drüben, beim Nachbarn?“
„Nachdenklich, Budnikowski, nachdenklich. Vermutlich hat man etwas gewonnen!“
„Das müssen Sie mir erklären! Zollfrei selbstredend!“
„Sie sind in Doitschland und wollen zuhören?“
„Mahler, ich werde es versuchen!“
„Nun denn. Vor kürzester Zeit noch wurde hier, wo wir sitzen, die nächtliche Ostsee von Flutscheinwerfern erhellt, Kanonenboote patrouillierten, jede Luftmatratze war ein potentielles Fluchtfahrzeug und hinter uns, da wo dieser unschuldige Holzsteg in den unschuldigen Sand gelegt wurde, schulterte man Kalaschnikows und Schäferhunde zerkläfften hysterisch die windige Luft. Und jetzt sitzen wir hier und scherzen und vor uns latschen sie barfuß von Ost nach West oder von West nach Ost, keiner muß sich ausweisen und befummeln lassen und nur ab und an setzt sich ein älterer Mensch auf den Holzsteg hinter uns und wenn Du willst, kannst Du in seinen Augen sehen, wohin seine Gedanken reisen.“
„In ein Gestern, das gar nicht fern?“
„Genau. Mich berührt das. Immer wieder.“
„Glauben Sie, daß es sich hier drüben in Doitschland bei der Dankbarkeit um eine sich im Aussterben befindliche Tugend handelt?“
„Man möchte es manchmal befürchten, Budnikowski!“
„Zielvorgabe, Rettungsschirm, Bierhoff, Zarenhof, Kandidatenkür, Mentalpampers?“
„Eine sehr beliebige Zusammenstellung, aber Zusammenhänge mag es geben. Kennen Sie Wolfgang Hilbig?“
„Nein!“
„Ein deutscher Dichter.”
„Mahler, was zeichnete ihn aus?“
„Einmal verbrannte er alle seine Texte – Gott sei Dank fand man Abschriften – und auch sonst wurde er zu seinen Lebzeiten nicht wirklich mit Anerkennung überhäuft.“
„DDR?“
„Auch ein nicht unwesentlicher Teil von Doitschland. Aber er ging fort.“
„Wollen Sie etwas rezitieren?“
„Aus dem Jahre 1965. Bitte:
>nach dem zweiten / krieg<
nach dem zweiten
krieg vergaß man beim aufräumen
einige vokabeln
aus der welt zu schaffen
noch immer nicht
sind aus der deutschen sprache verbannt
wörter wie
unverbrüchlich
unzertrennlich
uneinnehmbar
unbesiegbar.
rundfunk und presse. ach arme
beine zu allengutendingen- “
„Die Grenze ist weg! Oder?“
„Die Sichtbare! Es bleibt ein Nachhall!“
„Immer?“
„Immer! Gott sei Dank!“
„Sonst wird man faul im Kopf! Gell! (längere Pause) Mahler?“
„Ja, Herr von Lippstadt – Budnikowski?“
„Wollen wir Schiff fahren?“