Vorletzte Fragen in diesen Tagen / Fünf

engel11

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Mehr Stille, ein Träumen, das Gehen

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Es ist ein Ding mit der Stille. Ob herbei gesehnt, gefaßt gar und an ihr gerochen, unvermittelt bricht sie ein in den zappeligen, unruhigen Geist und beißt zu. Aufrecht sitzt der eben noch im Schoße einer von Lichterpest und Blechkistengebrumm unbehelligten Nacht Schlafende aufrecht auf dem Bette, erwacht vom eigenen Herzschlag, der gegen die Innenwände seines Schädels pocht und es rauscht wie tausend Toilettenspülungen das Blut durch seine Ohren, die gewohnt an ständiges Wummern, Plappern, Klacken und Heulen, ob der plötzlichen Ruhe irritiert nun nach innen hin lauschen. Inwendiger Schrecken.

So ging es vor allem dem Ehrenwerten Ernst Albert in der ersten Nacht in Engelthal, wobei – dies muß erwähnt werden – die doch etwas in die Jahre gekommene preiswerte Schaumstoffmatratze und der unter all den Zumutungen und Misthäufen gealterte und gebeugte Rücken das Ihrige dazu beitrugen. Aber vielleicht waren die altehrwürdigen Schlafunterlagen auch Reminiszenz und strenger Wink in Richtung alter Klosterzellen, da man auf nacktem Holz nächtigte und so dem zur Einkehr bereiten Sünder stündlich vor Augen führte, daß nur die Gnade des Herrn ihn am Leben hält und Leiden Gottesdienst sei und er von Anfang an und jederzeit … Doch halt, so weit sind wir noch lange nicht!

Der Bär aber segelte derweil gelassen durch – wenn auch etwas wirre – Träume. Den 9. März ging Mahler durchs Gebirg. Die Gipfel und hohen Bergflächen verschneit, taumelnd er, fiel und lag mit der Nase im Schnee. Eines Pfarrers Kutsche brachte ihn, schlotternd doch gerettet in ein Dorf namens Waldbach, er nahm Quartier, erwachte, von Träumen und Nöten gepeinigt, badete nächtens im Brunnen des Dorfes – ihm träumte vom Bronnen im Innenhof des Pfarrhauses – schrie, paddelte, erwachte im nächsten Traum, geläutert, gestärkt knieend neben dem Lager eines fiebrigen Mädchens, das geritten vom Wahn und gepiesackt von Dämonen und er mit zittriger Hand legte der Maid, die er nun selber war, kühlende Kräuter auf die in Sorge und Schmerz gekrauste Stirne, faltete seine, fremde Hände, als der Pfarrer, Oberle genannt, nein O Berlin, Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin, riesige Arenen, leergefegt, der Lütten Stan verloren im Mittelkreis eine Seifenblase jonglierend, hämisch grinsend auf seine zerbrochene Rolex blickend, an Stelle der Eckfahnen ragten riesige angenagte Karotten aus dem fauligen Grün, in den Netzen der Tore hingen Lachse zum Trocknen aufgereiht und der Pfarrer, Oberlin so war sein Name, packte Archibald Mahler, den Träumer, am Schlafittchen und sprach: „Sind Sie Theologe?“ „Ja!“ „Gut nächsten Samstag!“ „Ja, predigen werde ich!“ So schrie der Bär tonlos und schlotterte, als habe ihn ein Rudel von Wölfen eingekreist, ihm den letzten Lachs zu entreißen, der in mehrere Lagen Klopapier eingeschlagen war und er erwachte.

Der Ehrenwerte Ernst Albert hatte nach dem Bär gegriffen – er wußte nicht um seinen Zustand – und ihn in den bereit gelegten Wanderbeutel gepackt. Da lag er nun neben Apfel, Wasserflasche, Käsebrötchen und Müsliriegel, einem Buch über Leben und Wirken im Kloster sowie dem “Lenz” von Georg Büchner. Und folgender Reim aus diesem Werk fiel ihm aus der Seite 11 (Reclamausgabe) direkt vor seine Buchstabennase:

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Lass in mir die heil`gen Schmerzen

Tiefe Bronnen ganz aufbrechen;

Leiden sei all mein Gewinst,

Leiden sei mein Gottesdienst.

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Es dauerte bis Mahler die Gespinste abgeschüttelt hatte. Was ihm half war das Gleichmaß der Schritte des Mannes, der den Beutel mit ihm, dem Proviant und den Worten durch den Wald trug. Welch Balsam für die Sinne, fern allen Gelärmes der Aufrechtgeher nur gelegentlich einen Vogelruf, den Wind in den Wipfeln und die Schritte hören zu dürfen. Der Fuß tritt auf, hebt sich, tritt auf, unzählige Mal, unterbrochen bestenfalls vom Schlurpsen und Patsch, wenn der Fuß in eine Pfütze trat oder sich aus Schlamm löste. (Zum Zustand der Wege in diesen nassen Tagen später mehr.) Der Atem das Metronom. So kehrt man gerne zurück in den Tag und findet sich plötzlich in dieser Kiste, Klause, Zelle, meterhoch über dem Waldboden schaukelnd? War er nun schon ein oblatus, gar im Zustand des seipsos offere, ein monachos in der eremos, ein gyrovagentus, der seine Bleibe gefunden? Kurz und gut fragte Mahler bzw irgendwas sprach aus ihm: „Sind wir schon am Ziel unserer Pilgerschaft? Ist dies die Zelle des Eremiten Archibald, des Hingegebenen?“

Wenn es denn so einfach wäre. Ernst Albert saß auf einem Baumstamm, blickte auf den schaukelnden Bär, biß in einen Apfel und blätterte in dem Buch über Mönche und Regeln, welches er im Zimmer Zwohundertsieben vorgefunden hatte. „Mahler, das wußte ich gar nicht wieviel verschiedene Orden und Stifte es gibt!“ Und er begann zu lesen: “Basilianer, Basialaner, Aleppiner der Melkiten, Augustiner, Augustiner Chorherren, Prämonstratenser, Kreuzherren, Dominikaner, Johanniter, Trinitarier, Merzedarier, Serviten, Alexianer, Barmherzige Brüder, Piaristen, Assumptionisten, Benediktiner, Zisterzienser, Trappisten, OLivetaner, Kamaldulenzer, Franziskaner, Kapuziner, Terziaren, Silvestriner, Kallumbrosamer, Jesuiten und …!“ Mit einem lauten und drängenden „Weia!“ unterbrach Mahler des naseweisen Ernst Albert Vorlesung. „Du hast recht! Lassen wir uns Zeit!“, die Antwort. Man brach auf und der Bär, glücklich aus seiner voreiligen Klausur befreit, war froh die ganze Aufmerksamkeit wieder dem Gleichmaß der Schritte widmen zu können.

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Autor: Christian Lugerth
Datum: Sonntag, 22. März 2020 18:12
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