Beitrags-Archiv für die Kategory 'Aufbrüche 2015'

A. Mahler macht sich selbstständig/Ungewißheit

Samstag, 24. Januar 2015 19:46

kiel10

Stell Dir vor, Du denkst die Erde sei eine Scheibe. Wenn Du hier in Holtenau ein Schiff besteigst und raus fährst und ruderst und fährst und der Wind weht und bläst aus der Richtung, aus der er heute blasen mag, die Segel knattern, die Riemen knarzen? Du lässt den Wind wehen und Du treibst. Dahin. Dorthin. Vor der windumtosten Nase Ungewißheit. Das Viel oder das Nichts. Was wohnt dort hinten? Dieser Horizont. Diese letzte Linie. Da draußen? Wasser, Wasser, Himmel, Wasser? Die Kante? Der Fall? Endet etwas? Ein Beginn? Ungewißheit. Der Himmel färbt sich rötlich – bleu, die Möwen schreien aufgeregt (wie immer!), aber sie meinen nicht Dich. Nacht naht und Du beginnst zu hören. Es klatscht und gluckert gegen den Rumpf Deines Schiffes und Du hast noch nicht mal eine Taschenlampe an Bord. Vielleicht leiht der Mond heute Deinen angestrengt geschlitzten Augen Licht. Die Erde ist eine Scheibe. Das ist, was Du glaubst! Bist Du dann dumm?

Archibald Mahler sitzt am Fuße des Holtenauer Leuchtturms. Wozu ist der da? Ist das ein Ding, das Abreisenden hinterher blinkt, gute und heile Fahrt wünschend? Weist es dem Heimkehrenden Einfahrt in den längst vergessenen Heimathafen? Oder hält das Blinkding dem Fremden eine gastliche Türe auf? Oder leuchtet die Warnung den fliegenden Holländern vor den heran segelnden Bug? „Weilet weiter draußen, auf Euren verfluchten Kähnen! Hier an den Öfen unserer Gemütlichkeit mag Eure Unruhe oder Eure Gier keinen Platz mehr finden.“ Und der Fliehende? Wendet er seinen Blick ein letztes Mal und sieht froh entschwinden, was er verlassen mag auf ewig? Dieses letzte Zucken eines sich drehenden Lichts? Trübselige Tränen befeuchten seine Augenwinkel dennoch? Und der Rückkehrer? Maschine stop! Alle Kraft rückwärts! Arme ausgebreitet aber auch? Draußen ruft die See! Wie schön! Wie ungewiß! Die Angst! Das ist gewiß!

Man spricht inzwischen schon von weltweiter Lichtverschmutzung. Ein Leuchtturm aber trägt daran keine Schuld. Es sind die Nachahmer! Bald wird man kein Licht mehr erkennen können. Vielleicht schon heute. Herr Mahler, der letzten Sommer eine Karriere als Schleusenwärter anstrebte, möchte lieber kein Leuchttürmer sein. Lieber sich von ungewissen Winden an die Ränder treiben lassen. Selbst wenn die Erde eine Scheibe wäre und man dort hinunter plumpst. Die Ungewißheit!

Die Sonne strahlt über Holtenau. Die Förde lacht breit und einladend. Man könnte – fest im Glauben – fast zu Fuß nach Laboe rüber laufen. Archibald Mahler weiß immer noch nicht, wo sich des Herrn Albert Hotel befinden will. Hier? Dort? Drüben? Da unten? Oder gar nicht? Ungewißheit. Die Irritation hält sich aber in Grenzen. Da erreicht den Bären die Nachricht. Eine der Möwen kreischt ihn persönlich an. „Are you talking to me?“ Ein weißer Hase läge, unweit von hier, am Ufer. Hat der den Leuchtturm übersehen? Hat der Leuchtturm ihn übersehen? Verlor der Hase seine Brille? Ungewißheit! Ansonsten wäre heute nur ein gewöhnlicher Samstag. Kann der Herr Archibald Mahler eigentlich schwimmen?

kiel11

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A. Mahler macht sich selbstständig / Erinnerung

Mittwoch, 21. Januar 2015 19:34

kiel09

Aufräumen. Gut. Erste Frage: Was befindet sich in einem Gedankenschrank? Erinnerungen, sonst nichts. Alle Gedanken – ob gelesen, vorgelesen, aufgeschnappt, geträumt, geklaut, notiert, archiviert und – sehr selten bis unmöglich – erstmalig gedacht – alle Gedanken werden im Moment des Gedachtwerdens zu nichts als Erinnerung. Und dann, beim Einsortieren in den Gedankenschrank? Was bleibt da über? Bewertung wohl. Erinnerung? Kaum. Erinnerung ist ein Fluß. Versuche einen Fluß in den Schrank einzusortieren. Und dann beschrifte die Schranktür mit einem Inhaltsverzeichnis. Geschafft? Die Erinnerung ist ein Fluß. Die Erinnerung ist kein Hoheitsgewässer. Versuche den Fluß an eine Wand in Deinem Zimmer zu nageln! Und? Du wirst einen Klempner rufen müssen. Vielleicht sogar die Feuerwehr! Hefte Dir Erinnerung ans Jackett. Und? Du wirst naß. Mancher ertrinkt sogar. Die Erinnerung ist kein Orden. Ich erinnere richtig? Du erinnerst falsch? Keiner erinnert nix! Die Erinnerung ein Fluß.

„Vielleicht kann man ihn queren, den Fluß!“ So denkt Archibald Mahler. Er sitzt am Ufer des Nord – Ostsee – Kanals. Südseite. Wik. Ihn friert. Nordwestwind. Wo ist der ehrenwerte Herr Ernst Albert? Der hat doch dieses Hotelzimmer. Vier Sterne. Beheizt. Badewanne. Fünfter Stock. Hatte er zumindest damals. Vor vier Jahren. Auf dem Kanal schieben sich haushohe Containerschiffe vorbei. So wohltuend langsam. Geräuschlos. Ein wenig stinkend. Ein Kanal ist aber kein Fluß. Ein Kanal ist eine Wasserstraße. Ein Staat, ein König, ein Land müssen gewähren, daß der Bürger, der Untertan, selbst der Steuerhinterzieher die Wasserstraße kostenfrei queren dürfen. Das kommt Archibald Mahler entgegen, der ohne einen Heller Richtung Förde aufgebrochen war. Die nächste Frage: Transportieren auch kostenfrei querbare Wasserstraßen Erinnerungen? Und: Was nix kostet? Ist das was wert? Der Bär besteigt die Fähre. Das Warnsignal ertönt. Die Fähre legt ab. So wohltuend langsam. Keineswegs geräuschlos. Ordentlich wunderbar stinkend.

„Was wohl der Budnikowski mit seiner gestrigen Botschaft meinte?“ Archibald Mahler blickt auf den Kanal mit Freude und Nachdenklichkeit. Hilfe! Ich brauche jemanden! Nicht schlecht. Vor allem beim Erinnern. „So war das doch!“ Blödsinn! „Wie war das eigentlich?“ Keine Ahnung! Von Steuerbord her nähert sich ein Boot. Name? Lotse! Die nächste Nachricht des Herrn Budnikowski? Schaden kann der nicht. Kein Lotse. Auf den Suchen. Nach der Quelle des Flußes voller Erinnerungen. Nach dem beheizten Hotelzimmer. Die Fähre legt an. Holtenau? Hä?

lotse

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A. Mahler macht sich selbstständig / Aufräumen

Dienstag, 20. Januar 2015 18:39

kiel08

Da sitzt Archibald Mahler am Rande des Kleinen Kiel. Er will aufräumen. Im Gedankenschrank. Das junge Jahr trägt schon jetzt schreckliche Augenringe. Müll türmt sich auf schlammiger Wiese. Zeigefinger strecken sich in die Luft und bohren sich mit wachsender Freunde oder Ratlosigkeit in die Augen der Gegenüber. Aufgeräumt werden sollte. Erst der Gedankenschrank. Die Welt wird warten. Mahler hört, wie man im hiesigen Radio ein altes Gedicht verliest. Bedenkenswert!

Kriegslied

‘s ist Krieg! ‘s ist Krieg!

O Gottes Engel wehre,

Und rede Du darein!

‘s ist leider Krieg –

und ich begehre

Nicht schuld daran zu sein!

Was sollt ich machen, wenn im Schlaf mit Grämen

Und blutig, bleich und blaß,

Die Geister der Erschlagenen zu mir kämen,

Und vor mir weinten, was?

Wenn wackre Männer, die sich Ehre suchten,

Verstümmelt und halb tot

Im Staub sich vor mir wälzten und mir fluchten

In ihrer Todesnot?

Wenn tausend tausend Väter, Mütter, Bräute,

So glücklich vor dem Krieg,

Nun alle elend, alle arme Leute,

Wehklagten über mich?

Wenn Hunger, böse Seuch und ihre Nöten

Freund, Freund und Feind ins Grab

Versammelten und mir zu Ehren krähten

Von einer Leich herab?

Was hülf mir Kron und Land und Gold und Ehre?

Die könnten mich nicht freun!

‘s ist leider Krieg – und ich begehre

Nicht schuld daran zu sein!

(Matthias Claudius)

Derweilen sendet Kuno von Lippstadt – Budnikowski eine Botschaft mit der Post.

Kuno

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A. Mahler macht sich selbstständig / Versuch 6

Samstag, 17. Januar 2015 21:39

kiel07

„Viele versprechen Berge und machen dann Maulwurfshügel.“ Griechisches Sprichwort. Ja und Ja und Danke schön! Der Bär schüttelt seiner inneren Stimme die mahnende Pfote! Archibald Mahler hatte den Plan gehabt. Gut, ein paar ordentliche Impulse, nicht wirklich überzeugend, jedoch drei bis vier vage Zielbeschreibungen. Eine Geschichte erzählen und der schnappatmigen Welt nicht mehr hinterher zu tappern. Und dann drehen wieder ein paar Idioten durch. Durchdrehen? Wenn es denn so einfach wäre. Hutu – Milizen drehten nicht durch. IS dreht nicht durch. Die Wachmannschaften in Birkenau drehten nicht durch. Charles Manson drehte nicht durch. Boko Haram dreht nicht durch. Männer, die ihre Töchter in Keller sperren, drehen nicht durch. Massenvergewaltiger im Kosovo und weltweit drehten nicht durch. Hoyerswerda drehte nicht durch. Geschweige denn Beate Zschäpe und Andreas Baader. Es ist die Dunkelheit. Ein nicht tot zu kriegender, aber gerne tötender Bestandteil aller. Aller. Leider. Die Hoffnung? Ein Volk, deren Großväter vor  anderthalb Menschenleben noch Gashähne aufdrehten, behauptet sich auf dem Wege zur nachhaltigen Erkenntnis zu befinden. Sicher? Dann mal vorwärts. Nicht einfach, aber man muß es sich einfach machen, sonst wird es schwer. Des Bären Hirn rotiert wütend bis plötzlich nach Tagen eines unendlichen Regensturms die Sonne aufgeht. Am Ende des Lichttunnels. Kiel?

„Freiheit ist das Recht, anderen zu sagen, was sie nicht hören wollen.“ Ja und Ja und Danke schön! Der Bär schüttelt seiner inneren Stimme die mahnende Pfote! Danke auch Sir George Orwell! We remember Big Pig Dschugaschwilli! Wer sagt aber wem was und wann und wo außer im so mutigen Sozialmedium? Zu Hause? Anne Arbeit? Auffe Straße? Inne Betten? In den Schulklassen? In den dunklen Ecken? In den Familien? Nachts? Wer wechselt als erster die Straßenseite? Der viel besungene Mut? Den Kopf ab zum Gebet? Den Hut ab vor dem Vereinsaustritt! Des Bären Hirn rotiert wütend bis plötzlich nach Tagen eines unendlichen Regensturms die Sonne aufgeht. Am Ende des Lichttunnels. Kiel?

Dem Archibald Mahler ist weiterhin wirr und so tastet er sich in Richtung eines Entschlusses. Deshalb. Die Geschichte vom Anderbär. Vom Feldberg. Vom Feldbär. Von der Reise der Bären nach sich selber. Deswegen wollte er in den nördlichen Wind. An die See. In seinem Gedankenschrank sieht es einfach übelst ungeordnet aus. Da muß der Mahler mal ran. Ab morgen wird aufgeräumt. Von der Förde aus. Aber davor lassen wir nochmal ein Motorrad durch die Wand knallen. Dann Kiel.

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A. Mahler macht sich selbstständig / Versuch 5

Dienstag, 13. Januar 2015 19:18

kiel06

Keine Garantie wenn Du mit dem Licht reist, daß Du nicht doch im Dunkeln landest. Der Tunnel am Ende des Lichts? Genau so wenig, wie eine gut gemeinte Geste nicht – kaum ist der geflickte Bleistift in die Luft gehalten – angezweifelt, zerredet, zerfleddert, mißbraucht wird. Das ist der Gang der Dinge, sollte aber niemanden davon abhalten, gelegentlich den Kopf zu senken und zu schweigen. Minuten nur vielleicht. Mehr geht eh nicht. Oder zumindest zu warten, bis der Sarg versenkt oder die Urne verbrannt. Bis man wieder schreit und zappelt: Ich! Ich! Ich! Das Talent zu hassen, ist nicht allen gegeben. Gott sei Dank. Nur welchem denn bitte?

Archibald Mahler rutschte den hellen Strahl entlang, sein Pöter brannte vor Hitze und Glück und während er Zeit und Raum durcheilte, drehte sich die Welt stoisch weiter, die Tellerränder, die letzten Sonntag in Paris einige Stunden lang etwas abgeflachter erschienen als gewöhnlich, wuchsen erneut in den Himmel und die Ahnungslosen wanderten wieder durch ihre alten Täler. Ei verbibbsch! Aber sie müssen es dürfen dürfen. Conditio sine qua non kein Volk. „Nu Fatti, nu sache mol? Was heestn das schon widder! Gonditor?“ „Nu Muddi, swird woorscheinlich wieder son Muselmanendioleggt sein! Egoal: Ich bin ooch dr Prinz Tschorles!“ „Wende meenst! Jetz aber fix heeme. De Fraunkirsche iss schon komplett finster!“

Und wie reist man nun durch Zeit und Raum? Für die Querung der einzelnen höherdimensionalen Räume nutzt man verschiedene Techniken: Mit Transitionen durchqueren man den fünfdimensionalen Hyperraum; dazu entmaterialisiert ein Raumschiff im Normalraum, springt in den Hyperraum und materialisiert an einem anderen Punkt im Normalraum, der viele Lichtjahre entfernt liegen kann. Höhere Reichweiten und geringeren Energieverbrauch bei gleichzeitig geringerer Belastung für Mensch und Maschine bietet der sogenannte Linearflug. Bei diesem entmaterialisiert das Raumschiff nicht vollständig aus dem Normalraum, sondern fliegt in einer Halbraumzone zwischen dem ein Normalraum und dem Hyperraum im Linearflug direkt mit Sicht auf das Ziel zu. Auf diese Weise werden auch die für den Hyperraum benötigten umständlichen Sprungberechnungen vermieden. Andere Antriebsformen für den intergalaktischen Flug wie das Dimetranstriebwerk ermöglichen Sprünge von Galaxienmittelpunkt zu Galaxienmittelpunkt. Oder so ähnlich. Aber es funktioniert und es geschieht, weil es geschah. Des Bären Raumgleiter sind seine Buchstaben und des Bären Hyperraum ist sein Leben.

Jetzt ist Archibald Mahler vorläufig angekommen. Nur wo? Ein Hauch von Wiedererkennen rührt ihn an. Das Erdreich hier ist vollgesaugt mit Himmelsnaß bis über die Grenze der Aufnahmefähigkeit hinaus. Eine Möwe schreit und die Fähre nach Oslo tutet. Also müßte es etwas vierzehn Glock geschlagen haben. Ein heftiger Wind greift nach den Wipfeln der vom Dauersturm gemüdeten Bäume und Herr Mahler schaut sich mal um. Aus einer Kneipe klingt ein vertrauter Sprech.

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Liberte! Egalite!! Fraternite!!! COURAGE!!!!!

Sonntag, 11. Januar 2015 20:52

kiel05

So kommt man nicht vom Fleck. Archibald Mahler sitzt heute den ganzen Tag vor dem Bilderapparat und guckt Paris. Und ist beeindruckt. Gar nicht mal von der Masse. Aber auch. Was bär sonst im Bilderapparat sieht, ist gerne mal Chimäre. Gelegentlich jedoch hat ein Ereignis die Kraft durch die Plexiglasscheibe hindurch in den Raum, durch die Haut in den Betrachter, durch die Pupillen in Herz und Hirn vorzudringen. Unten links auf der Plexiglasscheibe des Bilderapparates konnte man lesen drei Stunden lang: „Paris trauert“. Die Kameras jedoch fingen ein diese Millionen von Aufrechtgehern (im folgenden AG) aller Farben, Formen, Religionen und Atheismen, denen neben der Trauer ein positiv trotziges und mutiges Strahlen in den Gesichtern funkelte. Diese große historische Stadt besann sich auf stolz auf ihre Geschichte. Als so einiges begann. Liberte! Egalite! Fraternite! Und: COURAGE!!!! Einunddreißig Buchstaben voller Kraft und Archibald Mahler dachte, daß Bleistifte, die in die Luft gestreckt werden, eine der schönsten Gesten sei, welche die AG seit langem er – oder besser gefunden haben, zwischen all diesen Leichen der Zeichner, Schreiber, Juden, Putzfrauen und Polizisten in und um Paris. Außerdem wurde die Übertragung von zwei weiblichen AG moderiert. Das fand der Bär sehr angenehm. Siehe seine Einlassungen von gestern.

Trotzdem: Archibald Mahler kommt nicht vom Fleck. Er ist zwar voller Freude darüber, daß zumindest an diesem Tag das Wort, das Bild, die Kunst geehrt wird und (hoffentlich) begriffen wird als der Kern jeglicher Zivilisation. So ist es! Heute darf ein Bär auch mal ein pathetisches Schauern über seinen sonst eher mürrischen Pöter juckend gleiten lassen. Genehmigt! Dann hört Mahler, wie die Worte einer Frau aus dem Bilderapparat springen. Die Worte sprechen von der tiefen Trauer und davon, daß die Frau dennoch keiner Finsternis gestatten will auf ihr Leben in Paris und anderswo zuzugreifen. Lieber stehe sie auf und reise mit dem Licht. Weiter! Und vor allem ohne Angst! Und Bär Mahler denkt, wie weltmeisterlich souverän eine solche Haltung verglichen mit den rachegeil gefletschten Zähnen des Amerika vom September 2001 ist. Und so selbstbewußt locker, wie in den Tagen als Algerien Frankreich, in Gestalt des göttlichen Zidane, den so schrecklich nebensächlichen Pöhlereipokal helenefischerfrei überreichte.

Ab sofort denkt Archibald Mahler nicht mehr tiefer nach, blickt nach oben, begreift, daß nur die Freiheit das Licht sein kann und muß, setzt sich einen goldenen Helm auf und fährt los. Und nicht allein. Und weil er nicht blöd ist, weiß er, daß die drei Reisenden auf dem Bildchen zu seinen Pranken ihre Reise nicht überlebt haben. Und der Bär, dem (hoffentlich) die Kugeln nichts anhaben können, denkt sich, daß dies noch ein Grund mehr sei loszufahren. Wieder. Heute sowieso. Vive la France!

easyrider

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A. Mahler macht sich selbstständig / Versuch 4

Samstag, 10. Januar 2015 19:45

kiel04

Das Photo da oben. Die letzten 72 Stunden auch. Als hätte Archibald Mahler einen Plan gehabt. Das Photo aber war schon geschossen gewesen. Geschossen? Geschossen! Das Photo da oben wurde geschossen. Geschossen schon vor mindestens zweihundert Stunden. Geschossen, als man begann vor 72 Stunden 72 Stunden lang zu schießen, zu schießen und zu schießen. Der Schuß des Photos war nicht geplant, er erfolgte vor – schon gesagt – vor mindestens zweihundert Stunden. Die Schüsse der letzten zweiundsiebzig Stunden waren sicherlich geplanter und wann die Stunde ihrer Geburt? Wann? Mein Gott! Seit Oh Jahwe, Oh Buddha, Oh Allah und Oh Hanuman, du Gott aller Affen! Die Tempel, ach, die elenden Tempel! Was war noch der PLAN des Herrn Archibald Mahler gewesen?

Archibald Mahler ist ein Bär und Solitär und kein Aufrechtgeher und demnach muß er jetzt keinen Kommentar abgeben. Er will lediglich nach Kiel die Tage. Das gibt es Ratsherrn – Pils. Und Fischbrötchen. Er will da hoch, obwohl es stürmt, Bäume umfallen und die Züge nicht fahren. Fähren schon gar nicht. Und die See da „kocht“ ab Stärke 11. Die Welt kocht eh und seit 72 Stunden mal wieder ganz besonders hoch. Also kein Kommentar. Nur ein Gedanke, bevor der Bär, der sich von Kugeln nichts anhaben lassen will, einen nächsten Aufbruch wagen mag, will und muß. Ach so, fast vergessen: das Photo. Wegen dem Buch hier. Jetzt beim dritten Betrachten: Wie schwer das Buch auf dem Schoß des Bären lastet!! Weia!!

Zurück zum Gedanken! Was ist die Plage? Die Dauerbeleidigten? “Ich bin das Opfer. Für immer und ewig!” Eventuell. Der ewig zu kurz Gekommene, wie er meint? Oh, trauriger Determinismus. Ist eventuell nicht die Religion der große Stolperstein, sondern das Geschlecht? Der dauerbeleidigte Mann gar? Die Ehre? Vielleicht! Mahler denkt nur mal und mahler nach. Die Wut rammt das Messer in die Brust des Gegenüber. Der Haß schießt in den Rücken. Vielleicht ist es so. Archibald Mahler aber will keine Antwort. Wo gibt es die auch zu kaufen, wohlfeil und so gelungen – geklungen, um damit auch noch Geld zu verdienen? Seine kleine Sehnsucht erbittet Schweigen. Ante Portas jedoch rauschen die Kaskaden der Experten durch den Äther, die Bächlein der Expertenbezweifler antworten. Archibald Mahler würde jetzt gerne einen Bleistift in die Luft halten. In Paris. Aber er ist nur ein kleiner Tastaturbär. Sonst nichts. Doch er wird bald aufbrechen. Heute nicht. Morgen gewiß. Was soll man tun? Der Beginn der Reise verzögert sich ein drittes Mal. Und solange spricht Herr Archibald Mahler ein kleines Mantra vor sich hin: „Allah ist groß. Allah ist mächtig. Ohne Hut ist er ein Meter sechzig. Und nicht nur der.“ Und denkt dann, daß Charlie Brown, der seinen Kopf trauernd in seine Hände stützt, eine gute, angenehm angemessene Antwort ist. Eine erste.

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A. Mahler macht sich selbstständig / Versuch 3

Donnerstag, 8. Januar 2015 19:34

kiel03

Hat man die Chance gleich vier Männern eine Frage stellen zu dürfen, könnte es eine Antwort geben. Das denkt Archibald Mahler, der zweimal schon den Aufbruch wagte und dennoch keinen Schritt nach vorne tat, was heißt gen Norden, was ihn aber nicht wirklich entmutigte. (OK! Stand heute und jetzt am Abend eben!) Jedoch das Bedenkenswerte, also das Bemerkenswerte am Bedenkenswertem, ist daß diese vier Männer – Abbild sowieso und nicht mehr – einer sind nur. Der Herr Buchhalter Pessoa – das ist der kleine sitzende schwarze Mann vorne – lebte ein ganzes Leben in Lissabon in Portugal und blieb dort, tat sein Tagwerk und reiste nie. Ein ganzes langes Leben lang pendelte er täglich gewissenhaft zwischen Einraumwohnung und Kontor hin und her. Abends dann, an der heimischen Schreibmaschine, spaltete er sich auf oder ab und dann saßen die Herren Alvaro do Campos (der Grüne?), Alberto Caito (in der Mitte und anthrazit!) und Ricardo Reis (der Blaue rechts dann wohl!) vor, hinter und neben Fernando Pessoa und durchreisten im Auftrag ihres Schöpfers alle inneren und äußeren Welten des Erdballs. Und dies kann der Portugiese: – zumindest tat er es Jahrhunderte lang – die Meere besegeln und etliche Welten entdecken. Aber irgendwann kam die Zeit, da segelte er müde und geschlagen in seine kleines Land zurück, kehrte indigniert Resteuropa seinen Rücken zu, blickte hinaus auf Tejo und Atlantik und reiste nur noch im Kopf durch die Länder seiner Sehnsucht, während herrlich traurige Lieder wie heimatlose Möwen ihn umschwirrten.

Letztes Jahr hatte der ehrenwerte Herr Ernst Albert im Musentempel Mittelhessen ein Theaterstück bearbeitet, welches eine alte Geschichte aus Lissabon erzählte und der Bär hört heute noch diese traurig – lebensfrohen Lieder, die damals Tag und Nacht die Höhle in der Kleinen Häßlichen Stadt durchwehten. So schön. Sind Bären nicht auch an Land gesetzte Seefahrer ohne eigenes Schiff? Ist Archibald Mahler nicht ein Portugiese, eigentlich? So denkt er gerade mal und bleibt hocken, weil die Heizung so wohltuend blubbert und für das Wochenende oben an der Küste fürchterliche Orkane, Sturmfluten und umfallende Bäume angesagt sind. Ich bleibe hier, sagt er sich, und lasse wie der Meister Pessoa Abspaltungen meiner Eigenheit durch die Welt tappern. Wie könnten die dann heißen? Otto Pasulke? Karl – Heinz Hoppenstedt? Jeremias Heinrich?

„Ich höre?“ Kiel hatte angerufen. „Bär! Willst Du nur von Fischbrötchen quatschen oder sie wirklich kauen? Bär! Willst Du Dich in Aufrechtgeherbadezimmern lauwarm föhnen oder willst Du in Strande die feuchte Wucht eines Sturmes auf Deinem Pelz spüren? Bär! Weißt Du noch wie die Möwen kreischten? In Laboe! Und Deine Angst damals?“ Archibald Mahler legt auf. Er will nachdenken. Er hat immer noch keine ordentliches Reisebudget zur Verfügung. Möglichkeiten? Im überdachten Mittelhessen bleiben? Das beheizte Mittelleid kultivieren? Mittelmäßig verharren oder wilder Aufbruch, einen Taxifahrer als Geisel nehmen, als blinder Passagier über regennasse Autobahnen hoch und weiter? Was schrieb Stendhal? „Die Welt ist gleichsam ein Buch, von dem man nur die erste Seite gelesen hat, wenn man nichts als seine Heimat kennt?“ Und was schrieb Ilse Aichinger? „Wenn einer eine Reise tut, so kann er nichts erzählen. Das fiel mir schon ziemlich früh auf. Die unglaubliche Sprachlosigkeit Gesellschafts – oder auch Einzelreisender. (…) Dann gibt es Lichtbildervorträge. ‘Hier siehst Du mich! ‘ – aber wen sieht man, zwischen Eisbergen oder an Dattelpalmen gelehnt? Wieder nur sich selbst!“ Der Beginn der Reise verzögert sich ein drittes Mal.

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A. Mahler macht sich selbstständig / Versuch 2

Dienstag, 6. Januar 2015 16:48

kiel02

Das ist also das Buch. Das Buch ist ein schönes Buch. Ein wunderbares Buch. Das hatte der Herr Budnikowski gelegentlich schon erwähnt gehabt, aber jetzt hat der Mahler mehr als nur rein geschnuppert und ist froh. Wer solche Bücher geschenkt bekommt, ist vielleicht ein netter Bär. Vielleicht! Schon der Anfang des Buches! „Es war einmal ein Juckreiz!“ Und aus dem Juckreiz erwächst ein Bär. Und der bricht auf und begegnet Blumen und der Stille, trifft den Saumseligen Salamander, den Vorletzten Vorzeige – Pinguin und viele andere, steht vor dem Kompass – Baum, reitet auf einem Schildkröten – Taxi durch den Wald, in dem sich alle verirren und kommt an bei dem Bär, der er sein sollte und wahrscheinlich sogar ist. Vielleicht!

Archibald Mahler ist begeistert. Aber die Begeisterung bringt ihn keinen Schritt weiter, keinen Zentimeter nach vorne, bringt ihn nicht vor den salzigen Wind da oben, nicht an das Ufer, wo der weite Blick über die Ostsee schweift und selbstredend schiebt die Begeisterung ihm kein Fischbrötchen zwischen die hungrigen Zähne. Das ersehnte Gekreische der Möwen hallt lediglich durch die Vorzimmer seiner Erinnerung. Hilft alles nicht und keiner sowieso. Warum? Ganz simpel. Der Bär, der nicht da war, also der Genosse Pelz aus dem wunderbaren Buch, ist zwar inzwischen angekommen oder endlich und überhaupt, aber Mahler, ein anderer Bär, der noch nicht da ist, hat noch den Weg vor sich und nur weil der eine Bär kann der andere Bär noch lange nicht und der Anderbär vom Feldberg ist noch ein Thema auf dem Weg. Zusammenfassung: Der Mahler muß alleine da hoch reisen. Eine weitere schmerzliche Erkenntnis! Archibald Mahler bleibt erstmal auf seinem Pöter sitzen. „Wie komme ich nach Kiel?“ Da liegt noch ein Buch. Vorne auf dem Buch sind vier Männer drauf. Auf dem Deckel! Einer der vier muß doch einen guten Tipp parat haben, denkt der Bär und singt sich ein Mutmachlied zur Reise. Aber dann wird es schon wieder dunkel. Der Bär bereut eine lange Sekunde lang – eine knappe Sekunde lang – daß er dieses Jahr auf den Winterschlaf verzichtet. Ein kleines Nickerchen aber? Der Beginn der Reise verzögert sich ein zweites Mal.

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A. Mahler macht sich selbstständig / Versuch 1

Sonntag, 4. Januar 2015 20:49

kiel01

Das Reiseziel war ja schon verkündet worden. Trotzdem – zur Sicherheit – hatte Mahler das Reiseziel nochmals auf einen Pappkarton gekritzelt. Zur Sicherheit? Aus purer Not und fast Verzweiflung eher. Was ist geschehen? Na ja, der Herr Albert mußte mal wieder hoch in den Norden, um den Musentempel an der Förde zu bespaßen. Ob der Herr Bär wieder mitreisen wolle? Empörtes Geschnaufe. Es sei ein neues Jahr ins Land gezogen, man sei außerdem schon im sechsten Jahre nun gemeinsam unterwegs, es sei also hohe Zeit, daß sich was drehe und es sei einem Bären seines Status und seiner – wenn auch nur im kleinsten Kreis – Bedeutung, nicht mehr zuzumuten lediglich auf Aufrechtgehertickets durch das Land zu stromern und der Herr Albert solle ruhig schon mal los. Er käme schon hinterher. So oder ähnlich schnaufte und raunte der Bär. Ob man ihm wenigstens etwas Geld da lassen solle? Nicht nötig, man sei jetzt alt genug und erfahren und danke auch, aber nein, lautete die Antwort. Die Tür fiel ins Schloß, denn der ICE nach Kiel muß erreicht werden.

Also sitzt Mahler grübelnd, hält den Pappedeckel in die Luft, der Reisehut singt ihm ein Lied von der Straße, der Bär jedoch hat keinen Groschen am Pelz und wie soll denn bitte nun die Förde erreicht werden? Der abgereiste und generell vielgereiste Herr Albert hatte ja des öfteren davon berichtet, wie weit ihn einstens der Daumen im Wind gebracht hatte. Meilen und Meilen und noch mehr Kilometer. Aber ein Bär, welcher an einer Autobahnauffahrt steht und es ist auch noch kalt? Mahler zieht sich in dem Moment, da ihn dieser Gedanke ereilt, entschlossen verärgert an seiner eigenen Nase und spricht: „Was bist Du für ein Pimpelbär, der hier von Kälte jammert, wo dieser Winter ein Häschen bestenfalls? Zuviel Kontakt zu Aufrechtgehern scheint Dir gehörig zu schaden.“ Doch bevor man sich allzu strenge selber geiselt, ertönt eine mahnende Stimme, welche daran erinnert, daß ein Bär, der seinen Winterschlaf schwänze und stattdessen durch die Republik trampen wolle, schon ein Kuriosität darstellen könnte. Also beschließt Archibald Mahler eine zweite Meinung einzuholen. Man sucht ja nach eigener und ureigener Selbstständigkeit. Und liegt da nicht das Buch, die Gabe des Budnikowski, zu seinen Pranken? Unbesehen? Der Beginn der Reise verzögert sich ein erstes Mal.

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