Beitrags-Archiv für die Kategory 'Im Heckerland'

Über der und über die Stadt

Samstag, 24. April 2010 6:22

Die ersten Meter waren mühsam. Die sogenannte Trödeldemonstration. Ernst Albert schmunzelte. Er dachte an seine Kindheit, wenn sein Vater zu den sonntäglichen Spaziergängen gerufen hatte. Lustlos und von der Befürchtung besessen, der Ausflug zöge sich so lang hin, daß man nicht rechtzeitig zum Erklingen der Titelmelodie von Bonanza nach Hause zurückkehrte, schlurfte man hinter den Erziehungsberechtigten her. “Sehet her, all ihr Passanten! Hier wird Adam Cartwright gezwungen ohne Pferd auszureiten! Skandal!” Doch das legte sich meist schnell. Der Anblick der Natur oder ein Witz des Vaters gewannen bald die Oberhand in Sachen Laune. So auch bei Archibald.

ueber1Die ersten Meter war es steil bergauf gegangen. Hinter der Neuen Höhle erstreckten sich die letzten Ausläufer des schwarzen Waldes. Sie führten die Wanderer direkt an den Rand der Stadt. An den Südhängen dieses letzten Berges hatten die Aufrechtgeher einst mächtige Festungsanlagen gebaut, wovon noch Reste erkennbar waren, alte Mauern, alte Türme, Aussichtspunkte. Von dort, wo die Aufrechtgeher einst geduldig nach den ersehnten Feind spähten, sahen die Wanderer heute, wie wohl bei kaum einer anderen Stadt, wie Natur und Siedlung sich ineinander verwoben. Wald, Weinberge, Strassen, Häuser – fließende Übergänge allerorten. Hinter der Stadt eine im Morgennebel zu ahnende Ebene, zu riechen ein Fluß und dahinter neue Berge, lichter, wärmer als der schwarze Wald in ihrem Rücken. Archibald erkletterte einen Zaun. Und wenn Archibald hinabschauen kann, ist er wieder obenauf. Revolte und Befreiungsaktionen waren erstmal verschoben.

ueber2Sie bogen um die Ecke. Archibald schluckte. Der Anblick überraschte ihn. Der gefiel ihm aber, dieser Turm. Dieser fast durchsichtige, so gar nicht abweisende, filigrane Turm, der die größte Kirche der Stadt zierte. Nun gut, Schönheitsfehler inklusive, denn die Spitze des Turmes war in ein riesiges häßliches Gerüst gehüllt und der reine, gerüstfreie Anblick bestand – um präzise zu bleiben – zu großen Teilen aus hymnischen Schilderungen des Herrn Ernst Albert. Auch so eine Unsitte der Zweibeiner. „Eigentlich ist das ja so. Und dann siehst das so aus! Mußt Du Dir vorstellen!“ Ist aber nicht! Jeder guckt eigenverantwortlich. Gestern ist Postkarte. Doch der zweibeinige Begleiter verstummte recht schnell. Auch er genoß es über die alte Stadt zu blicken. Wer in einer häßlichen kleinen Stadt lebt, muß seine Augen ab und an auf Erholungsurlaub schicken. Ruhe trat ein und Archibald konnte nachdenken. Seltsam! Da setzen sich die Aufrechtgeher in Jahrzehnte währender Arbeit, ach, Jahrhunderte hat es wohl gedauert, ein göttliches Gotteshaus ins Zentrum ihrer schönen alten Stadt, um dann später mit ihren Fossilsaft saufenden Blechmilben ununterbrochen dieses Denkmal zu umrunden, bis der empfindliche Sandstein, aus dem es errichtet wurde, porös wird und bröselt. Und wenn sie hinten fertig sind mit dem Restaurieren, müssen sie vorne wieder anfangen. Der neue Götze frißt die alten Götzen.

ueber3Der Tag schritt voran. Unten hupte man sich gegenseitig wach. Oben Visionen von einem Frühstück. Der Morgengesang der Vögel verstummte. Man machte sich an den Abstieg. Falsch, man machte sich an die Abfahrt. Nein, keine Faulheit. Man will dem Bären etwas bieten. Und das Hinuntersteigen geht bekanntlich auf die Knochen. Ehemals abbes Bein nicht vergessen! Die Bergstation. Kein Aufrechtgeher weit und breit, welcher das blaue Gefährt bediente. Aber Hinweistafeln. Viele Hinweistafeln. Buchstaben und Anweisungsbilder. Geld in Schlitze werfen, Papiere in andere Schlitze stecken, Türen auf, Piepton, Türen zu und Archibald schwebte auf glitzernden Eisen hinab in die Stadt. Fand er klasse. Ganz unrevolutionär. Unten rauschte es an allen Ecken und Enden. Man brauchte dem Rauschen nur zu folgen. Das taten sie.

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Von Tierhortung, John Muir und wie Ernst Albert eine Revolte verhindert

Donnerstag, 22. April 2010 11:47

tierhortung„Die Kinder Gottes.“ Das gefiel Archibald. „Dieser alte Mann nannte uns tatsächlich die Kinder Gottes?“ Ernst Albert hatte aus einem Reisebericht vorgelesen, den er in der Neuen Höhle entdeckt hatte. Der Reisebericht erzählte von den Bergen und Wäldern auf der anderen Seite des Meeres, dort wo die Bären noch das Sagen haben und der Wanderer aufpassen muß, wenn er in ihr Terrain eindringt. Wladimir Anatol Karamasow, dessen Urahnen vor unendlicher langer Zeit von Kamschatka via die Beringsstraße ins gelobte Land eingewandert waren, meldete sich zu Wort. „Richtig! John Muir war ein guter Aufrechtgeher. Er hatte einst auch gesagt, daß wir Bären uns aus demselben Staub entwickelt haben wie er und seine Artgenossen, und daß wir alle die gleiche Luft atmen, das gleiche Wasser trinken. Also hätten auch wir Bären Anspruch auf eigenes Land. Leider kam er etwas zu spät in die Berge, die für die meisten zweibeinigen Siedler nur das letzte Hindernis waren auf dem Weg in die Stadt, in der man später eine Zeit lang angeblich Blumen in den Haaren tragen würde. Da war der letzte meiner Grizzlyvorfahren schon erlegt und zum Schlafsack verarbeitet worden. Die kümmerlichen Reste meiner Verwandtschaft leben jetzt wieder, oben im Norden, in der Nähe der Beringstrasse, zwar noch auf dieser Seite, aber man weiß ja nie. Aber die Verhältnisse in Kamschatka sind auch nicht besonders bärenfreundlich. Die Freiheit ist ein rares Gut, dort wo der Aufrechtgeher herrscht. Ach!“ Wladimir, in dessen wuchtigem Körper sich eine feine Seele von Kleist’scher Dimension verbarg, seufzte.

Was war das? Archibald vernahm Stimmen. „Genau! Alles Gefängniswärter! Alles Schließer! O Freiheit, wo bist Du?“ Die Stimmen begannen zu singen. „Zieht, Gedanken, auf goldenen Flügel! Zieht, Gedanken, ihr dürft nicht verweilen! Zieht, Gedanken, lindert der Knechtschaft Qual! Warum hängst du so stumm an der Weide, goldene Harfe des göttlichen Wladimir? Spende Trost, süßen Trost uns im Leide und erzähle von glorreicher Zeit! Singe, Yogi, in Tönen der Klage von dem Schicksal geschlagener Bären, als Verkünder des Ewigen uns sage: bald wird Archibald uns vom Joch des Tyrannen befreien!” Der Chor der gefangenen Bären. Ein trauriges und erhabenes Lied war auf Archibald heruntergetropft. Er durchsuchte die Neue Höhle, ein erstes Mal, denn es gibt sonst keinen Grund als Gast  in oder gar auf die Schränke zu schauen. Und was er sah ließ sein Bärenblut gefrieren. Artgenossen aller Größen und Gattungen zusammengequetscht zwischen Schrank und Zimmerdecke. Ein Anblick, der einem Solitär wie Archibald Mahler, Bär vom Brandplatz im Auslandseinsatz, eher an ein Massengrab gemahnte, denn an eine Wohnstatt für stolze Bären. Offensichtlich ein Fall von ernsthafter Tierhortung! Der Sammelwahn der Aufrechtgeher! O Kinder Gottes! War es der Geist des Moses, der in den Bären fuhr, als er mit dem Aufschrei “Folget mir und wir enden die babylonische Gefangenschaft! Let my people go, Vermieterin der Neuen Höhle!“, die Schrankwand hinaufstieb? „Wladimir und Yogi, ihr Dulder! Ihr Wegseher! Ihr Suppenkasper! Wie könnt ihr das zulassen? Schande über unser Geschlecht!“ Wut und Empörung ließen seine ansonsten ruhige Bärenstimme sich überschlagen. Sein ehemals abbes Bein begann zu schmerzen. Die Anoperationsnarbe pochte im Rhythmus der Marseillaise!

Ernst Albert bremste den Bären. Gut, ein letzter Rest des alten aufrührerischen Geistes vom Dreyeckland lag in dieser Stadt noch in der Luft. Wyhl. Dreisameck. Schwarzwaldhof. Reichsadler. Radio Dreyecksland. Aber diese Reste existierten eher in homöopathischen Dosen. Und außerdem hielt Ernst Albert nicht viel davon, Nachbarn und Fremden die eigene Anschauung von Freiheit und gesellschaftlichem Miteinander mit missionarischem Eifer aufs Auge zu drücken. Und dann auch noch mit Gewalt. Man müsse nur gen Afghanistan blicken. Archibald tobte. Er sprach vom Feuer, das diesen Gefängnisschrank seiner Meinung nach in Schutt und Asche legen müßte. Er sprach von Barrikaden, Selbstbestimmung, den freien Räumen und der sofortigen Einrichtung einer Volxküche für die gewiß darbenden Genossen auf dem Schrank. Ernst Albert erwiderte, man habe für diese Neue Höhle hier überhaupt kein Mandat und holte den Revoltebären auf den Boden zurück. Er dachte dabei an seine eigenen jungen Jahre und hatte ein sehr schlechtes Gewissen. Man wird alt. „Komm, mein Freund. Das müssen die hier untereinander ausfechten. Laß uns gehen! Ich zeige Dir die Stadt.“ Ernst Albert zerriß es das Herz, als sich Archibald mit gereckter Faust von den gehorteten Schrankbären verabschiedete. “Der Kampf geht weiter!”

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Vom Reichtum, geistiger Armut und der Gnade des Vergessens

Mittwoch, 21. April 2010 9:31

vulkanasche„Laughing just to keep from crying.“ Das hatte einst der göttliche Rory Gallagher in seinem noch göttlicheren ‚Bullfrog Blues’ gesungen. Und was waren das nun für Geräusche, die Ernst Albert von sich gab, als er, mit der lokalen Zeitung wedelnd, in die neue Höhle gestürmt kam? Weinen? Lachen? Wüten? „Unfaßbar! Unfaßbar! Einfach unfaßbar!“ Ernst Alberts erklärtes Lieblingswort bei aufkeimendem Zweifel an der geistigen Verfaßtheit seiner Mitzweibeiner riß Archibald aus seiner Floralmeditation. „Höre, mein Bär. Ich zitiere wörtlich, wortwörtlich: ‚Nicht nur die Reisebranche hat Probleme durch das Flugverbot: Auswirkungen gibt es beim Handel mit Import-Früchten. Die Kapstachelbeeren aus Kolumbien..’ Ich wiederhole: ‚Die Kapstachelbeeren aus Kolumbien werden knapp, sagte ein Sprecher der Merkur Frucht. Ähnliches könnte für Rosmarin, Mangos und Sternfrüchte gelten. Sie kommen für Lokale und Feinkost-Läden per Flieger nach F.’ Unfaßbar! Was sind das nur für Krankheimer? Mein Gott! Jetzt brauch ich ein Bier. Von der Brauerei schräg gegenüber.“ Die Zeitung flog in eine Ecke. Wüste Verwünschungen ausstoßend verließ er die Neue Höhle. Es war für Archibald nicht klar zu verstehen, wen Ernst Albert zuerst erschießen wollte: den Leiter des Fruchtmarktes, den gänzlich Geisteskranken, der so eine gequirlte Kacke abdruckt oder alle perversen Schwachmaten, die hier in diesem Land Kapstachelbeeren aus Kolumbien kaufen. Auf alle Fälle wünschte er jedem von ihnen einen dreiwöchigen Erholungsurlaub auf Haiti an den Hals.

Yogi ‚Yellowstone’ Parkinson hatte sich zu Archibald gesellt. Gemeinsam betrachtete man den Auslöser der Wutrede des Herrn Ernst Albert. Yogi las – ja, er konnte richtig gut lesen für einen Bären – und vergaß im selben Moment. Und dies sei auch der Vorteil seiner, von den Zweibeinern gefürchteten, Unpäßlichkeit, bemerkte Herr Parkinson nach Beenden der Lektüre. Er als Hausbär im Heckerland sehe darin aber nur Vorteile. Denn ohne die permanente Gnade des Vergessens ließe sich ein Leben unter den wahnsinnigen Zweibeinern auch gar nicht gelassen gestalten. Rein mit den nötigen Informationen und direkt wieder raus damit. Zack! Die Zeitung flog über den Balkon, segelte auf den Fußgängerweg unten am Flüßchen und landete vor den Reifen eines Radrasers. Dieser mußte bremsen. Er mußte sogar absteigen. Verzweifelt blickte er hinauf in den kondensstreifenfreien Himmel. Etwas hatte seine Fahrt unterbrochen. Wütend scharrte er mit seinen Radlerhufen, ballte die Faust und suchte einen Schuldigen.

Einige Meter über ihm saßen zwei Bären, einer aus Mittelhessen, der andere aus Wyoming und übten sich in der Kunst der Floralmeditation. Verschimmelte Kapstachelbeeren aus Kolumbien fielen vom Himmel. Der Pedalritter weinte. Ernst Albert kam lachend des Weges und schenkte ihm eine Flasche des lokalen Bieres. Es sollte ein guter Tag werden, denn Ernst Albert hatte etwas vergessen. Und außerdem ist heute der allmonatliche Rory Gallagher – Gedenktag. Prost!

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Archibald entdeckt, entwickelt und praktiziert die empirische Floralmeditation

Dienstag, 20. April 2010 12:00

meditationDie Nachmittagssonne hatte schläfrig gemacht. Archibald träumte vor sich hin. Er träumte von den Zweibeinern. Sie saßen auf Fahrrädern. Man hatte ihnen die Daumen abgesägt und die verstümmelten Hände am Lenker festgebunden. So konnten sie nur noch geradeaus fahren und nicht mehr klingeln. Man hatte die Bremsen an ihren Maschinen abmontiert. Diese benötigten sie nicht, denn sie benutzten ihre Geräte nicht, um Entfernung Geld sparend und Gesundheit fördernd zu überwinden. Nein, ihre Art der Fortbewegung war Botschaft, war Geste, war Ausdruck und Manifestation von moralischer Überlegenheit. „Ich arbeite hart an mir und der Verbesserung der ganzen Welt. Jeder meiner Tage ist Kampf und Beweis.“ Dadurch genossen sie gewisse Vorrechte. Rechtsverkehr, Linksverkehr, egal. Sie durften überall fahren. Fahrbahn. Radweg. Gehweg. Fußgängerzone. Ein Botschafter muß die Möglichkeit haben, überall all zu missionieren und Präsenz zu zeigen. Ampeln? Leuchttürme des Bösen. Lobbysäulen der Autoindustrie. Klingeln? Nicht notwendig. Nur der verhärmte, spießige, unsensible Mensch spürt nicht, daß sich auf dem Weg von hinten ein Missionar mit 25-45 km/h nähert. Bei Dunkelheit Licht anmachen? Die Strahlkraft des guten Willens per se erleuchtet den Pfad des Gerechten. Und nannte man die Fahrer des Rades früher nicht Pedalritter? Und so trugen sie in Archibalds dunkelgrünen Träumen Lanzen unter ihren Armen, keck und fordernd in Fahrtrichtung gestreckt. Wer unserer Kirche nicht mag beitreten: hinweg! Bevor sich der Stab der moralischen Überlegenheit in den Rücken einer 80-jährigen Rollatorschieberin bohren konnte, die das selbstgerechte Tempo leider nicht mehr mitgehen konnte oder gar wollte, erwachte der Bär. Ihn fröstelte.

Der Höllentaler hatte ihn geweckt. So nennen die Einheimischen einen kalten Wind, der nach Einbruch der Dunkelheit von den Höhen des sittenstrengeren schwarzen Waldes hinab in die freizügige Stadt weht und die Menschen von den Plätzen und Gassen in ihre Häuser und hinter die Fenster treibt. „Ruhet!“, scheint der Wind zu rufen. „Ruhet endlich!“

Am nächsten Morgen: ein neues Fenster. Hier hatte Archibald noch nicht Welt geschaut. Er dachte an Eva Pelagias Worte, als sie sich gestern zur Heimreise fertig gemacht hatte und ein letztes Mal vom Balkon blickte: „Verrückt, als ich vor zwei Tagen hier ankam, war dieser Baum noch kahl. Und jetzt! Schau mal!“ Archibald hatte eine Idee, und da er zuletzt öfters mal über das sichtbar machen von Zeit meditiert hatte – eine Erscheinung eintretenden Alters wahrscheinlich – legte er los. Und sagen die Zweibeiner nicht gerne mal: „Man kann das Gras wachsen hören.“? Der Bär aber wollte die Blätter wachsen sehen. Er schloß die Augen. Eine Minute. Er öffnete die Augen. Keine Veränderung. Kein Fortschritt. Nichts. Rein gar nichts. Er schloß die Augen. Zwei Minuten. Er öffnete die Augen. Keine Veränderung. Kein Fortschritt. Nichts. Er schloß die Augen. Fünf Minuten. Er öffnete die Augen. Keine Veränderung. Kein Fortschritt. Nichts. Fast nichts. Er schloß die Augen. Zehn Minuten. Er öffnete die Augen. Keine Veränderung. Kein Fortschritt. Nichts. Fast nichts. Kaum. Oder doch? Er schloß die Augen. Jetzt mal richtig, Archibald! Eine Stunde. Er öffnete die Augen. Tatsache! Schau mal! Veränderung. Fortschritt. Eva Pelagia ist eine kluge Frau. Und Herr Lenz macht wohl – endlich – seine Hausaufgaben. (Bitte sofort einen Heiermann ins Phrasenschwein! Gruß vom Setzer)

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Ja, was laufen die denn?

Montag, 19. April 2010 18:46

liegestuhlEva Pelagia und Ernst Albert waren nach dem Frühstück aufgebrochen. „Willst Du mitkommen?“ Archibald hatte dankend abgelehnt. Er bot sich an, den heute morgen auf den Balkon gestellten Liegestuhl zu bewachen. Und die Süßwaren müssen bei diesen Temperaturen auch betreut werden, am besten kauend. Immer noch keine Kondensstreifen am Firmament, die göttliche Ruhe hielt an, nur unten am Fluß rannten die Zweibeiner auf und ab. Noch oder schon wieder? Archibalds Zunge schob eine mit Weincreme gefüllte Schokoladenkugel von der rechten in die linke Backe – das kann schon mal bis zu einer Minute dauern – und in dieser Zeit dachte er darüber nach, warum die Gattung der Aufrechtgeher – natürlich nur jene von ihnen, welche in wohlhabenden Gegenden leben – die einzige auf Gottes Erdboden ist, die rennt und rast, und das freiwillig. Abgesehen von jungen Hunden vielleicht. Der Rest der Welt rennt und rast meist nur aus zwei Anlässen: Jagd oder Flucht. Vielleicht noch Armut. Jäger aber scheinen diese Läufer – im übrigen meist Weibchen – nicht zu sein, sonst wären sie nicht so bunt angezogen, daß man sie schon aus zwei Kilometer Entfernung herankeuchen sieht. Und die meisten von ihnen tragen zudem so viel Speck an ihrem Körper mit sich herum, daß sie wahrscheinlich nicht mal eine dreibeinige Schildkröte einholen würden. Und arm scheinen sie nun ganz und gar nicht zu sein. Doch wovor flüchten sie dann? Es gibt schlaue Zweibeiner – zumindest denken sie, daß sie es wären – die behaupten, wenn man von irgendwo weg renne, dann renne man zu sich selbst. Was immer das auch sei, das „Selbst“. Darüber wollte sich Archibald heute nun wahrlich keine Gedanken machen. Wenn noch drei zu vertilgende Schokokugeln in der Schachtel warten, sollte man sich auf diese konzentrieren. Die Thesen überzüchteter Wohlstandsknaben mögen heute bitte Gegenstand ihrer eigenen und sich selbst beweihräuchernden Denke und Existenzquengelei bleiben. Hugh! Was Archibald aber noch auffiel: die Läufer schienen blind zu sein oder sie wirkten, als rannten sie durch einen Tunnel, in dem sie wahrscheinlich nichts wahrnahmen als ihren eigenen Atem und den knirschenden Rhythmus ihrer Füße. Vielleicht läßt sie eben diese  Selbstvergewisserung, die im Gleichmaß verborgen liegt, innerlich jubilieren? Dies sieht man ihnen aber wiederum nicht an. Sie wirken gequält, getrieben. Oder haben Zweibeiner, welche in schönen Umgebungen aufgewachsen sind, keine Augen mehr für die Schönheit, die sie umgibt? Entweder weil sie meinen, diese steht ihnen zu, oder weil ihre Hirne und Herzen stumpf geworden sind? Archibald, der das Glück hatte, erst seit ein paar Tagen an diesem Flüßchen sitzen zu dürfen und sich seines Anblicks zu erfreuen zu können, verstand dies nicht. Eine letzte Kugel sprang auf seine Bärenzunge.

Doch da war noch etwas, was der Bär sah. Und dies rührte ihn. In der Nähe der Neuen Höhle war ein Haus, in das die alten und kranken Aufrechtgeher gebracht wurden, wahrscheinlich weil sie nicht mehr so schnell rennen konnten wie die Jungen oder weil sie keine Lust mehr hatten schreiend bunte Klamotten zu kaufen. Viele dieser Alten – Aufrechtgeher konnte man die meisten gar nicht mehr nennen – schoben Eisengestelle vor sich her, die mit kleinen Rollen versehen waren. An den Gestellen hielten sie sich fest und bewegten sich so vorwärts, sehr, sehr langsam. Und so schoben und schlurften sie zwischen den agilen Läufern am Ufer des Flüßchens entlang, blieben meist nach wenigen Schritten stehen, schöpften Atem und schauten. Und wie sie schauten. Manche von ihnen, als sähen sie den Fluß das allererste Mal, manche schauten und schauten und man hatte das Gefühl, sie begreifen gar nicht, was sie da sehen. Andere wiederum streichelten den Fluß mit ihren Augen, als würden sie sich von ihm für immer verabschieden und einige sahen ihn gar nicht mehr, denn sie waren erblindet, aber sie hörten ihn und wie! Archibald war diesen alten Zweibeinern sehr dankbar. Er, der er immer noch nicht genau wußte, woher er kam, wohin er ging, wie alt er überhaupt war, er lernte von ihnen, daß es etwas gab, etwas wie die Zeit, jene Zeit, vor man nicht davonrennen kann. Die Packung war leer.

Ernst Albert kam zurück, mit etwas traurigem Herzelein. Er hatte Eva Pelagia zum Bahnhof gebracht. Er sah seinen Faulbären. Er sprach:  “Freund, dies noch heute: Zieht es Dich in den nächsten Tagen wieder einmal vor die Türe, beachte: Es ist ungefährlicher eine sechsspurige Autobahn im Rest der Republik zu queren, als einen Fahrradweg in dieser Stadt. Hugh!“ Und er holte sich ein lokales Bier aus dem Kühlschrank. Schokokugeln waren ja alle.

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Zwei Täler, alte Tafeln und der Survivalbuddhismus

Sonntag, 18. April 2010 21:51

kappel1Der Weg teilte sich. Links führte er in das Große Tal, rechts hinauf in das Kleine Tal. Angesichts der neuen Wanderschuhe an Eva Pelagias Füßen und der Tatsache, daß ein im Wandern ungeübter Bär Mitglied der dreiköpfigen Gruppe war, beschloß man rechts abzubiegen. Ernst Albert schlug eine Abkürzung vor. Das tut er eigentlich immer. Der steile Pfad führte durch dichten Wald, erklomm atemraubend einen Hügel und, oben angekommen, öffnete sich der Blick hinab in das Kleine Tal. Man erblickte die Rückseite des Hausberges der Stadt, von dem ihre Anwohner und deren Gäste gerne ins Land schauen. Archibald war außer Atem, aber entzückt. Er bat um eine Pause. Man gewährte sie ihm. Und schon saß er in der Astgabel eines stattlichen Baumes, der in das Kleine Tal hinab blickte. Wie schnell ein Bär einen Baum erklimmen kann, davon kann jeder Lumberjack im fernen Kanada ein Lied singen, der vor einem schlechtgelaunten Bär auf einen Baum geflohen war, um ihn dann Sekunden später neben sich sitzen zu sehen. Schwer lastet dann die Pranke des Viechs auf der Schulter des Zweibeiners. „Hier bleibe ich, ich kann nicht anders.“ So dachte Archibald. Aber schon knurrten die Mägen. Ist nicht auch zentraler Sinn aller Wanderei die Einkehr und die Belohnung des bergauf, bergab gejagten Körpers? Ernst Albert mußte einen Planungsfehler eingestehen. Das Kleine Tal war leider komplett gastromiefrei. Pläne aber sind dazu da geändert zu werden. Und hatte nicht Ernst Albert vor Tagen in einem Buch, welches die Attraktionen der Umgebung zum Thema hatte, gelesen, daß sich im nahegelegenen Großen Tal mindestens zwei der regionalen Küche verpflichtete Gasthäuser befanden? Man änderte die Richtung.

kappel2Welche Freude! Am Eingang zum Großen Tal eine liebevoll geschnitzte Holztafel, die vermeldete, das erste Gasthaus sei nur wenige Kilometer entfernt. Gewiß, solche Angaben gilt es immer zu bezweifeln, gerne schummelt der Wirt und rückt das ersehnte Ziel etwas näher an den Fuß des Wanderers. Wer kehrt schon auf halber Strecke um, wenn der Wurstsalat ruft? Die kleine Fahrstraße schlängelte sich das Große Tal hinauf, auf den Wiesen ringsum verstreut Gehöfte und man genoß es, obwohl es ein Sonntag war, ziemlich alleine zu sein. Auf halber Strecke dann eine kleine Siedlung, dort wiederum eine Bushaltestelle, eine Bank und daneben eine Tafel mit offiziellen Verlautbarungen der für das Große Tal zuständigen Gemeinde sowie der den Wanderern höchst willkommene Hinweis auf ein zweites Gasthaus. Es trug den ehrenvollen Namen Herder. Wurstsalat und gedenkendes Innehalten, Wandererherz was begehrst du mehr? Die Sonne tut ihr Bestes, ein kühlender Wind rauscht den Rücken des Hausberges hinab und man erreicht das Ziel. Ein lapidarer, handbeschriebener Zettel, geheftet an die Eingangstür, vermeldet, daß man seit nun fünf Jahren in die Gaststätte nur eingelassen werde, wenn man sich am Vortag telefonisch angemeldet hat. Dem verschlossenen Haus des erhofften Wurstsalates gegenüber sitzt ein Einheimischer. Weder erwidert er den Gruß der Wandergruppe, noch gönnt er ihnen ein erläuterndes Wort. Aber war die Rede nicht von zwei Häusern der Gastlichkeit gewesen? Man kehrte um, um festzustellen, daß man schon vor einer halben Stunde an einem Hause vorbei geschritten war, dem, bis auf eine Laterne der lokalen Brauerei, alles von der Fassade entfernt worden war, was auf Bier, Wein, Wurst und Spätzle hingewiesen hatte. Archibald setzte sich auf die Treppe zur einstigen Terrasse. Und so fand das erste ‚Sit in’ eines Bären, das sich gegen die unzulängliche Informationspolitik der Lokalen in Sachen Wurstsalat wendete, wenige Kilometer südlich der badischen Gemeinde Kappel statt. Denn, und Herder publiziert es: “Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider Deinen Nächsten!”

kappel3Natürlich zieht sich ein jeglicher Abstieg. Man hatte den einvernehmlichen Entschluß gefaßt in die Stadt zurückzukehren. Keine Vorwürfe waren zu hören, obwohl ein erfahrener Wandersmann seine Höhle nie ohne ein geschmiertes Brot verlassen sollte. Die zwei mitgenommenen Äpfel waren Trostpflaster, mehr nicht und schnell verzehrt. Neben dem Wege murmelte ein Bächlein, beruhigend, doch forellenfrei. Archibald spürte das Grummeln der schlechten Laune im leeren Gedärm. Ein Bärengott erhörte dies. Und schon war Archibald über einen Zaun gesprungen. Bienenhäuser, Bienenstöcke und kein Imker in Sicht. Diesmal legte sich die Hand eines Zweibeiners auf die Schulter eines Bären. „Du alter Deppenbär. Da mußt Du noch zwei Monate warten, bis die Bienen anfangen richtig zu arbeiten. Alles leer.  Entspanne Dich, die paar Meter bis in die Stadt wirst Du auch noch schaffen. Sei ein Bär und übe Dich in Survivalbuddhismus.“ Archibald begann sich ob seines kleinen Schwächeanfalls zu schämen. War er denn einer der Zweibeiner, die im Supermarkt das noch nicht erworbene Getränk in sich reinschütten, um an der Kasse nur noch die leere Verpackung einscannen zu lassen? Richtiger Hunger fühlt sich anders an. Archibald wußte das eigentlich. Er blickte hinauf in den strahlendblauen Himmel. Göttliche Ruhe. Keine Kondensstreifen. Asche auf sein Haupt.

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Archibald erklimmt den Denkberg

Samstag, 17. April 2010 9:05

denkbergNichts gegen Artgenossen und einen kleinen Schwatz. Im Austausch der Gedanken und Erinnerungen findet man zu sich selbst, vergewissert sich seiner Herkunft, definiert seine Ziele und sein Wollen, stellt sich im besten Falle auch seinen unerfüllten Träumen und Lebenslügen. Doch die Gefahren allzu heftigen Austausches liegen, und dies gerade für Solitäre aller Art, auf der Hand. Wiederholung, mantrahaftes Klagen und Jammern, Schuldzuweisungen, das Besingen der Ungerechtigkeit der Welt im Großen und Besonderen, kurz und gut: die permanente Feier des wackeligen Egos und seiner absurden Ängste. Der Gedanke, frisch und klar angedacht, kann sich durchaus während des Sprechens zu einer gewissen Größe entwickeln, vielleicht sogar erst im Ausdruck seiner selbst entstehen, doch meist ist der Normalfall die Verwässerung des ursprünglich Angedachten, das Angleichen an das Gängige, furchtsames Verschweigen oder orientalische Ausschmückung von Erlebtem. Das Reden und Plappern verknotet das Hirn eher, als daß es dieses klärt. Zwei Wesen und das Mißverständnis hält Einzug in das Gebäude.

Archibald hatte sich auf den höchsten Gegenstand in der Neuen Höhle zurückgezogen. Sein Kopf glühte. Die ganze Nacht hindurch, geschlagene sieben Stunden, dreizehn Minuten und achtundvierzig Sekunden lang, hatte er den zwei lokalen Bären sein Leben und Wirken unterbreitet. Man hatte ihm am Ende seiner Erzählungen sogar applaudiert und ihn unmißverständlich aufgefordert, seine Erlebnisse auch in Zukunft festzuhalten, weiterzugeben und mit seinen Artgenossen zu teilen. Archibald Mahler, z. Z. Bär in Oberau, fühlte sich durchaus geehrt, aber war vor allem erschöpft und leer. Doch da war noch etwas, was ihn auf seinen Denkberg getrieben hatte. Eva Pelagia hatte ihren Besuch angekündigt und Ernst Albert hatte, gleich nach dem Aufstehen, zu diversen Reinigungsgeräten gegriffen, um die Neue Höhle in den Zustand höchster Ordnung und Reinlichkeit zu versetzen, was einerseits Auftrag der wahren Besitzern der Neue Höhle war, als auch Ausdruck der Wertschätzung der Avisierten. Und wenn Archibald etwas fürchtete und verabscheute, waren es diese alle Arten von Staub und Dreck einsaugenden Monster. Oh, Reinigungwahn der Aufrechtgeher! Dieses überdrehte, hysterische Geräusch des Saugers ließ sein Fell zu Berge stehen und alte Traumata feierten fröhliche Urstand. Da juckte es wieder, das abbe Bein.

Andererseits: das Sitzen auf dem Berg, das Hinabschauen, das Überblicken, die reinere Luft der Höhe. Das erfüllte ihn mit Freude. Vielleicht war es an der Zeit, Ernst Albert zu bitten, ihn demnächst auf einen der schwarzen Berge dort draußen mitzunehmen, um hinausblicken zu können in dieses Heckerland. Und Archibald dachte ernsthaft über den Erwerb von Wanderschuhen nach. Berg heil!

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Am Ufer des Flusses ein Verhör unter Brüdern

Freitag, 16. April 2010 12:44

neue_freundeWas er denn da mache? Wie er überhaupt da hin gekommen sei? Wer er überhaupt sei? Ob ihm nicht klar sei, daß er ungesichert auf einem Dach sitze? Man würde ihm auch gerne darauf hinweisen, daß die Nachbarn zwischen 13 und 15 Uhr es nicht so gerne sähen, wenn man Welt schaue. Sei ihm auch klar, daß die Luft noch recht kalt sei, trotz Sonnenscheins, und gerade im Lenz ein Infekt sehr lästig ist? Des weiteren sei für den Nachmittag Regen vorhergesagt und die Türe zum Dachbalkon nicht ausreichend gesichert. Da genüge ein kleiner Windstoß und wer würde eventuell auftretende Schäden ersetzen? Und auch die unten am Ufer des Flüßchen sich rennend um ihre Gesundheit kümmernden Zweibeiner wünschten etwas mehr Privatheit und weniger Betrachtung. Wenn da einer erstaunt nach oben schaue und dann gegen eines der vielen Hinweisschilder pralle? Habe er eine angemessene Haftpflichtversicherung? Schutz sei immer gut. Ob ihm dies alles klar sei und wie er es denn fände, wenn er sich erstmal bei den zuständigen Hausbären vorstelle?

Da hatte Archibald einiges zu hören bekommen. Woher sollte er auch wissen, daß er sich in einer Gegend befand, in der die dort ansässigen Aufrechtgeher viel Zeit damit verbringen, Hinweise, Anweisungen, Ratschläge und Verbote unter ihresgleichen zu streuen, mag dies aus Gründen der Weltsorge, Emphatie, Langeweile oder regional bedingter Selbstgerechtigkeit geschehen. Und dies färbt offensichtlich ab. Wann hatte Archibald Mahler, Bär auf Reisen, jemals Artgenossen so viel quatschen hören? Potzrembel aber auch! Er stieg von seinem Ausguck herab und betrat die neue Höhle. Zwei Artgenossen, die sich ihm vorstellten als Wladimir Anatol Karamasow – der Große – und Yogi „Yellowstone“ Parkinson – der Kleine -, begrüßten ihn sehr freundlich und entschuldigten sich für ihre allzu investigative Fragerei, aber sie hätten nun mal den Auftrag ihrer Chefin und man befinde sich als Hausbär eben in gewissen Abhängigkeiten. Und sie erzählten Archibald, wie sie einst in diese Höhle gekommen waren. Man habe sie erworben, drüben in dem Land hinter dem Meer, wo vor Wochen und Monaten die Zweibeiner in Stahlzigarren und mit Plastiklatten an den Beinen die Schneeberge hinunter gerast waren. Man habe sie in Taschen und Tüten gepackt und ihm Bauche eines gigantischen Blechvogel habe man sie hier an das Ufer dieses Flüßchens namens Dreisam gebracht. Und sie fänden diese Dreisam zwar sehr hübsch, aber sie würden sich lieber hier in der Höhle aufhalten, als draußen auf dem Ausguck, weil der Blick auf den kleinen Katarakt bei ihnen noch allzu heftiges Heimweh auslösen würde, der emotionale Jetlag noch nicht gänzlich kuriert sei und außerdem Yogi „Yellowstone“ Parkinson, das was er sah, im nächsten Moment auch schon wieder vergessen habe. Aber nun sei er, der Neue, dran seine Geschichte zu erzählen. Und das erste Mal war Archibald sehr froh darüber, daß er seit Aschermittwoch begonnen hatte so aufmerksam Welt zu schauen und es sich auch noch zu merken, was er so gesehen hatte. Und er begann, von vorne.

Die drei im Gespräch vertieften Bären bemerkten nicht die Rückkehr des Ernst Albert zu mitternächtlicher Stunde. Vier Tage lang hatte er sich rund um die Uhr meist im Musentempel aufgehalten und war nun sehr erfreut seinen Bärengenossen gut aufgehoben zu sehen. Sein schlechtes Gewissen löste sich in zwei Gläsern ‘Bickensohler Spätburgunder Weißherbst’ auf.  “Wein machen können sie hier, die Obergescheitle!”, dachte er noch und schon bald hatte ihn die Dreisam in den wohlverdienten Schlaf gerauscht.

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Keine Klagen, Ankunft der Seele und erste Irritationen

Mittwoch, 14. April 2010 13:14

dreisamDann war eine Zweibeinerkutsche vor der Zwischenhöhle vorgefahren und hatte Archibald und Ernst Albert abgeholt. Man fuhr durch das Tal, das Flüßchen entlang, in Richtung einer größeren Stadt. In der Ferne ragte ein Kirchturm. Man war in Eile. Die Droschke hielt, Ernst Albert reichte dem Fahrer Geld, packte Koffer und Bär, jagte Treppen hinauf und gleich darauf diese wieder hinab. Er sollte erst wieder spät in der Nacht heimkehren und erschöpft ins neue Bett fallen. Und dies würde die nächsten Tage so weitergehen. Bevor Ernst Albert mit fliegenden Rockschoß gen Arbeit und Musentempel entschwunden war, hatte er Archibald eine Türe nach draußen geöffnet und gesagt: „Für den Anfang scheint mir dies geeignet. Hier läßt sich vorzüglich auf die nachreisende Seele warten.“ Weg war er.

Der Bär gab dem Aufrechtgeher recht. Ausnahmsweise. Nun gut, der Herr Albert war ein geübter Reisender und hatte wohl seine Seele vorausgeschickt, um nach der Ankunft keine Zeit mit Warten zu vertändeln. Doch Archibald Mahler, Bär vom Brandplatz auf Jungfernfahrt, mußte dies anders bewerkstelligen. Er mußte warten auf seine noch ungeübte Seele. Doch er hatte keinen Grund zu klagen. Dies hier war ein Warteplatz der ersten Güteklasse. Er schaute hin mit Freuden. Das Flüßlein zu seinen Füßen rauschte über einen kleinen Katarakt, ein Bäumchen bemühte sich zu blühen, Gras und Blätter arbeiteten konzentriert an der Grünwerdung, die Sonne leckte des Bären Fell und im Hintergrund wachten die schwarzen Berge. Es war Archibald, als fließe das eiskalte Wasser an ihm vorbei, weiter und weiter in ein fernes Meer, steige dort hinauf in die Wolken, reise übers Land zurück in die alte Heimat und falle wieder nieder über den schwarzen Bergen, rausche vorbei am Bären und fließe weiter zum Meer. Es war dem Bären, als stiegen trächtige Lachse den Katarakt hinauf, laichten dort ins eiskalte Wasser, stürben und der Laich triebe hinab zum fernen Meer, wuchs sich dort aus zum Fisch, kehrte um, suchte die Mündung, arbeitete sich gegen die stärker werdende Strömung den Fluß hinauf, überwand den kleinen Katarakt, laichte und starb. Runder war ihm die Welt selten erschienen und in der Ferne hinter dem großen Kirchturm der Stadt sah er, wie seine mittelhessische Seele bereitstand, um bei ihm anzukommen. Großartig. Doch lange läßt die Welt dem Weisen nicht die Ruh.

Am Ufer des Flüßleins rannten in bunte Gewänder gewandete Zweibeiner auf und ab, als sei der Leibhaftige hinter ihnen her und in Archibalds Rücken begann es zu rumoren und – hatte er recht gehört? – laut und vernehmlich zu brummen. Ein großes, tiefes und voluminöses Bärenbrummen. War, was Archibald vor Tagen am Fenster der Zwischenhöhle mit knurrendem Magen geträumt hatte, mehr als eine Vision?

Thema: Im Heckerland | Kommentare deaktiviert | Autor: Christian Lugerth

Andere Fenster, andere Sichten

Montag, 12. April 2010 7:08

ebnetMan kommt an. Irgendwann kommt man irgendwo an, irgendwie. Ob man da auch immer hin wollte? Was sprechen die Götter? Fragen liegen gerne mal im Raume rum, wie unbeantwortete Staubflocken unterm Bett des Lebens. Fahrscheine werden erworben, ausgedruckt, entwertet, man fährt los  und dann steigt man aus. Und ist angekommen. Vorerst.
„Zwischenstopp!“, hatte Ernst Albert gesagt. „Ich bin gleich wieder da. Muß mich um die richtige Höhle kümmern. Bis denne.“
Schon Klasse, diese Aufrechtgeher. Erst verschleppen sie einen, dann, am Ziel angekommen, kündigen sie die Gemeinsamkeit auf und so sitzt man rum als Archibald Mahler, Bär vom Brandplatz, und ist allein in Ebnet. (Wo liegt das denn bitte? Freundlichst: der Setzer.) Aber fast jeder Raum hat ein Fenster, das gilt es zu nutzen und das tat er nun der Archibald und schaute Welt im Süden. Er sah eine Kastanie, die versuchte gegen die immer noch zu kalte Luft anzublühen, er hörte einen kleinen Fluß durch das Tal rauschen, er roch den Bärlauch, der aus der Erde schoß und drüben, auf der anderen Seite des Tales, sah er Berge, dicht bewaldete Berge, schwarze Berge. Und er dachte, daß dies doch bestimmt eine gute Gegend für ein angenehmes Bärenleben sei, diese schwarzen Wälder auf den Bergen da drüben. Er konnte natürlich nicht wissen, daß der letzte Bär im diesem schwarzem Wald vor etwa 400 Jahren von einem Mönch erlegt wurde und daß heute die Zweibeiner ihr schlechtes Gewissen damit beruhigen, indem sie jeden zweiten Gasthof in dieser Gegend „Zum Bären“ nennen. Nein, Archibald mochte das, was er sah und wenn unten vor dem Fenster einer der lokalen Zweibeiner vorbeiging und in dieser seltsamen Diktion sprach, dann hörte der Mittelhesse im Bären A. M. einfach weg. Außerdem knurrte sein Magen. Und immer, wenn sein Magen knurrte, neigte er dazu eine Vision zu haben. Heute mal diese.
Ernst Albert kehrte zurück in das Zimmer namens Zwischenstopp. Er war – um einen mittelhessischen Ausdruck in den Süden zu exportieren – überzwerch. Er hatte – Von wegen neue Höhle klarmachen! – in einer Kneipe Kugeltretkunst auf öffentlichen Bildapparaten geschaut, dabei aus Jux und Tollerei und alter Verbundenheit mit seinem Kommunikationsstäbchen einen Funkkurzbrief an seinen Bruder geschrieben und zehn Minuten stand selbiger im Lokal. Baff beide! Wege, die sich kreuzen. Der Bruder, der in einer anderen Stadt des Südens wohnt, hatte in der Nähe zu tun. Ernst Albert hatte dies nicht gewußt und umgekehrt. Ein Zufall, wenn der Radfahrer? Valentinstag war doch schon gewesen. Archibald lauschte der Erzählung und dachte darüber nach, ob dies wohl etwas mit der sogenannten „alten Heimat“ zu tun habe, wenn die anoperierten Beine etwas weniger jucken, weil man sich im Kreis dreht und sich nicht darüber aufregt. Dann begann es zu hageln. Frechheit!

Thema: Im Heckerland | Kommentare deaktiviert | Autor: Christian Lugerth