Beiträge vom 4. Juli 2015

Der Schuft / Dem Geheimnisträger fehlt ein Bein

Samstag, 4. Juli 2015 14:26

tal12

Der Schuß fiel rechtzeitig und doch zu spät. Mein Leben war gerettet, doch das Geheimnis litt unter einem Verrat. Also sah ich mich nicht in die Ewigen Jagdgründe einreiten, sondern mit gesenktem Haupte vor dem Großen Rat der Alten Bären stehend, schuldbeladen, einbeinig, das Geheimnis vom Großen Schatz der Kamschatka – Bear in Händen wissend, die meinem Stamme nichts anderes herbeiwünschten als Tod und Untergang. Am Leben weiterhin, doch zweigeteilt, zerrissen von Zweifeln, Selbstvorwürfen und zwei gnadenlosen Fäusten. Und so fragte ich mich, ob es nicht besser wäre zu sterben, als das entwendete Geheimnis in den Händen eines Schufts namens Kinky Claude zu wissen.

Ich hatte nicht gezielt, dazu reichte die Zeit nicht aus. Der legendäre Kunostutzen wußte ohne mein Zutun, wohin er die rettende Kugel zu feuern hatte. Kinky Claudes Zeigefinger löste sich von seiner linken Hand, ein Strahl vergifteten Blutes, halb Lebenssaft, halb Feuerwasser, schoß aus der Stelle, wo meine Kugel eingeschlagen war und das abgetrennte Glied flog durch Lüfte, taumelte und fiel zu Boden. Eine vom Tumult angelockte Klapperschlange nahm ihr Abendmahl zu sich. Der Schrei meines Blutsbruder Kleines Abbes Bein und der Schrei des Schufts verwoben sich zu einem gräßlichen Kanon. Und man mag es nicht glauben, ich jedoch sah es mit eigenem entsetzten Auge, zu welcher Tat das Böse den Menschen treiben mag. Vierfingrig, blutend und fluchend – man erspare mir die Wiedergabe der vernommenen Scheußlichkeiten – gelang es Kinky Claude ein Streichholz an seinem verholzten Bart zu entflammen, daraufhin eine Stange Dynamit aus seinem mit allerlei menschlichen Ausflüssen besudelten Hemd zu nesteln; die Lunte zu entzünden und mit der Kraft und Zielgenauigkeit seines ewigen Hasses das glimmende, todbringende Geschoß in den noch unversehrten Munitionswagen des von Forresters Bande niedergemetzelten Siedlertrecks zu schleudern. Ein Flammeninferno durchwalzte das geschändete Tal und, am Leben zwar, doch noch nicht gerettet lag in Blickweite Kleines Abbes Bein, designierter Häuptling der Kamschatka – Bear, das heißt, wenn mein Auge nicht irrte (hihihi!), lagen dort etwa Vierfünftel meines Gefährten und einige blutverschmierte Yards weiter das losgerissene, das von nun an legendäre ‘abbe Bein’ und dieses Bein war hohl, geschändet, man hatte es seines Geheimnisses beraubt. Ich beruhigte meinen Wallach Hattumörla und griff nach meinem Ärztekoffer, den ich am Sattelknauf befestigt hatte.

Die Alten Bären sagen, wenn der Vollmond am Tag der Wintersonnenwende im Zeichen des Kleinen Bären steht und eine Bärin an diesem Tag in ihrer Höhle niederkommt, das Neugeborene das Geschlecht der Krieger hat, dann habe ein Geheimnisträger die Wälder und Prärien betreten. Demjenigen, an dem ein solchen Schicksal vorbeischlenderte und dem deshalb der gelbe Vogel Neid im Nacken sitzt, sei gesagt, daß die Götter diese Aufgabe nicht mit den Freuden der Honigschleckerei versehen haben. Zwar wird in den Großen Ewigen Annalen der geneigte Leser oft und öfters über den Namen des Auserwählten stolpern müssen und manches Lied wird an den Lagerfeuern seine Taten preisen, doch bedenkt, daß schon siebenundsiebzig Stunden nach seiner Geburt, bevor er einem ersten Schritt hinaus in sein bewegtes Leben getan, dem mit der ‘Großen Aufgabe’ Versehenen das linke Bein abgetrennt wird. Auch wenn diese Operation von einem mächtigen und erfahrenen Medizinmann getätigt wird, in unserem Fall von dem schon erwähnten Meister der Zeitreisen ‘Klecker Peter’, wer möchte, da er noch die Wärme der mütterlichen Zitze an seinen Lippen spürt, ein eigenes Bein vor sich liegen sehen, beobachten, wie kluge und vorsichtige Hände eine silberne Kapsel in das Innere des abgetrennten Gliedes einführen und dabei ein ewig bindenden Schwur tun müssen.

Kajatam muko tä estis twi

bijamata eio bajalam

kiri ätä nomo neti

lapo manitou lapo tenbo kak

tarantapa crabo

atlantapam songo manituam eti

hugh*

Und so findet das Geheimnis, die Schatzkarte, welche die Pfade zu den Nuggets des Stammes weist, den Weg in den Körper des Geheimnisträgers. Anzumerken wäre noch, daß lediglich das monotone Brummen der Bärenweiber und das reichlich gefüttere Blaubeerenkompott die unbärigen Schmerzen versuchen etwas zu lindern.

Ich sah mein Bein vor mir liegen. War ich wieder der Kleine Bär? Ich hörte einen Schuß. Eine dünne Blutspur führte vom abgetrennten Bein zurück zu meinem Leib. Blut tropfte leise aus meinem Torso. Dort wo eben noch ein Bein ragte, was mich tausende von Meilen über Berge, durch Schluchten getragen hatte, ein Bein eben noch zuckte, dessen sanfter Druck meinen Rappen ‘Deadly Dust’ über die Prärien gelenkt hatte, dort klaffte ein gähnendes Loch. Und ein weiteres Loch im abgerissenen Glied. Keine silberne Kapsel: vanitas. Ich sah, wie eine weiße Pfote nach dem abben Bein griff. Ich sah, wie eine weiße Pfote vor meinen trüben Augen tanzte. Ich hörte ein Explosion. Eine Stichflamme schoß in den Himmel. Eine weiße Pfote traf mich an der Schläfe. Ich sank. Ich sang. Ich sang ein altes Lied. Das Lied sang mich. Eine Nadel bohrte sich in mein Fleisch. Ein Faden folgte der Nadel. Ich hatte vor dem Großen Rat der Alten Bären Platz genommen. Ich schwieg.

*Eine – zugegeben – freie Übersetzung des Heiligen Eids der Geheimnisträger der Kamschatka – Bear finden Sie in dem – leider momentan vergriffenen – Standardwerk  von Kuno Wonnemond „Die Sprachen der Völker der Weite“, erschienen beim Scharmützelverlag, Leipzig – Gosenstadt, Radebeuler Hof 24.

(Fortsetzung folgt)

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Thema: Archibalds Geschichte, Die Reise ins Tal | Kommentare deaktiviert | Autor: Christian Lugerth