Kleines Abbes Bein I / Ein Tag im Westen
Dienstag, 21. Juli 2015 8:24
Ich hatte den Faden abgebissen, nachdem ich diesen fachgerecht verknotet hatte, ich desinfizierte ein letztes Mal die Wundränder, indem ich sie mit einer Paste aus zerkauter Karotte, Brennesselsud und zerbröseltem Knäckebrot einrieb und sah, die Operation war gelungen. Ich verstaute meine Utensilien und befand mich, als das kleine Schloß hörbar zuschnappte und der Arztkoffer verschlossen ward, wieder auf Ellis Island, an jenem freundlichen, Zukunft verheißenden Oktobertag vor wenigen Jahren, saß geduldig, doch mit wild pochendem Herzen, auf einer der langen und harten Holzbänke und wartete auf Einlaß ins gelobte Land. Neben mir, dösend und milde schnarchend, Prof. Dr. Dr. med Peter Curt Alfonsius von Kleckerburg, ehemals Direktor und leitender Arzt des Josefspitals – Fachklinik für Inneres und Äußeres – in Leipzig – Gosenstadt, heute in den Weiten des Westens und an den Lagerfeuern bekannt als der Große Präriephilosoph und Lehrer aller Willigen ‘Klecker Peter’. Ich hatte das dankbar angenommene Glück erleben dürfen an der Seite dieses großen und wachen Geistes und an Bord der ‘MS Teutonia Sachsenadler’ den Ozean queren zu dürfen. Der weise Mann hatte der alten Heimat einen kurzen Besuch abgestattet, um seine gütige Mutter zu beerdigen. Da nun die Schiffsreise über den atlantischen Ozean einige Tage andauert und mir der Sinn nicht danach stand diese langen Stunden mit Kartenspiel, billigem Fusel und dummen Geschwätz über Weiberleute und Pferderennen zu verplempern, nahm ich das Angebot des Professors – offensichtlich hatte ich schnell sein Vertrauen gewonnen gehabt, nachdem wir uns auf dem Oberdeck getroffen hatten, um den nächtlichen Sternenhimmel einer eingehenden Betrachtung zu unterziehen – mich von ihm in die Grundkenntnisse der Notfallchirugie einführen zu lassen, dankend und freudigen Herzens an. „Junger Mann, sollten Sie den Westen bereisen wollen, was ich Ihnen gütigst empfehle, werden Kenntnisse dieser Art Ihnen nützlichste Dienste erweisen. Hinter den Ecken der Faszination und der Erkenntnisse lauern Wundränder und splitternde Knochen!“ Und so verfügte ich bei der Ankunft – zu bemerken sei noch, daß ich den Anblick der Freiheitsstatue leider verpasst habe, da ich noch in ein Kapitel über das Vernähen und Desinfizieren offener Wunden vertieft war – über Grundkenntnisse in allen Arten von Notoperationen, Wundversorgung und der Behandlung von Schlangenbissen, Grizzlyprankenschlägen und dergleichen Unannehmlichkeiten. Manitou sei Dank, wenn ich mich nicht irre, hihihi! Also saß ich neben ‘Klecker Peter’ und die Zeichen standen auf Abschied. Ein fester Händedruck, wie er unter Männern üblich, ein vertrauensvoll fester Blick in die Augen des Gegenüber und gute Wünsche besiegelten die Trennung. „Möge er Dir Dienste leisten. Die Götter der Alten und der Neuen Welt mögen ein freundliches Auge auf Deine tatkräftigen Pfoten werfen!“ Mit diesen Worten überreichte er mir seinen Arztkoffer. „Und ich wünsche, Du mögest in den Weiten des Westen Kleines Abbes Bein treffen, den designierten Häuptling der Kamschatka – Bear. Mein Herz sagt mir, ihr werdet Euch verstehen! Lebe wohl und höre nie auf zu lernen!“ Er ging an Land und an mir war es zu warten, bis man mich aufrief.
Während ein vor Aufregung zitterndes Greenhorn, welches noch nicht wußte, daß es bald den Ehrennamen Old Schmetterpfote durch die Weiten es Westens tragen würde, auf einer Holzbank auf Ellis Island auf Einlaß wartete, betrat der junge Krieger Kleines Abbes Bein, beladen mit sieben frisch gefangenen Lachsen, zwei erlegten und ausgeweideten Wapiti – Böcken, drei Bastkörben voller Blaubeeren und trunken vom Honig wilder Waldbienen, das Lager seines Stammes, welches sich versteckt am Ende einer tiefen Schlucht im Nordwesten von Mittelidaho befand. Seinen Rücken zierte eine lange, notdürftig verheilte Wunde, die ihm die Pranke eines eifersüchtigen Grizzly geschlagen hatte. Sieben Tage und sieben Nächte war Kleines Abbes Bein allein durch die umliegenden Wälder gestreift, um zu beweisen, daß er in der Lage war, seinen hungrigen Stamm zu ernähren, sieben einsame Tage und Nächte hatte er Ruhe und Kraft gesucht und gefunden, Ruhe und Kraft, die ihm helfen sollten die Große Zeremonie zu überstehen, die Übergabe des Geheimnisses vom Schatz der Kamschatka – Bear. Alles war bereitet, die heilige Zeremonie konnte beginnen, in der heutigen Nacht, wenn der Mond den höchsten Stand erreicht hatte, würde der Große Klecker Peter, dessen Ankunft man jeden Moment erwartete, ein Bein des jungen Bären abtrennen und ihn zum Geheimnisträger des Stammes machen. Das Lager des Stammes vibrierte vor freudiger Erwartung und doch lag ein zäher Mehltau von Schwermut über der Schlucht der Kamschatka – Bear. Sie wußten und sie konnten es riechen, der Ring zog sich eng und enger, die weißen Aufrechtgeher waren nicht mehr fern, riesige Hämmer trieben schon Nagel auf Nagel, Niet auf Niet in die eisernen Schwellen und bald würden Heerscharen von Acht – und Ahnungslosen die einsamen Prärien und Wälder fluten, ausgespuckt von den dampfenden, feuerspeienden Eisenrössern, hemmungslos verbreitend die Errungenschaften der sogenannten Zivilisation: Gier, Neid, Feuerwasser, Gelärme, Eigensucht, Götzendienst und Gottlosigkeit. Doch den zukünftigen Geheimnisträger trieb anderes um. Gewiß erfüllte Stolz darüber, daß der Fingerzeig der Götter ihn gestreift hatte, sein tapferes, junges Herz, doch fasste auch eine gänzlich unbärige Angst nach seinen Schultern. Er lud seine Beute ab und blickte hinauf zum Himmel. Es dämmerte und der Hüter der Nacht, der Heilige Mond, betrat den Rand des Firmaments. Kleines Abbes Bein schloß die Augen. Er bat um Beistand.
Ich erwachte vom festen Griff der Schmetterpfote, die mich auf die Beine zog. Ein wilder Schmerz durchschoß mich. Ich hatte wieder zwei Beine. Vorsichtig setzte ich das eine vor das andere. Ich bewegte mich. Wann? Jetzt? Damals? Wer hatte das abbe Bein wieder meinem restlichen Leibe angenäht? Klecker Peter? Old Schmetterpfote? Die Zeiten schoben sich übereinander wie tektonische Platten und in mir entluden sich wirre Beben. Ich schwankte. Mein Gefährte hielt mich fest. Ich ging. Langsam. Mein frisch operiertes Bein schrie bei jeder Bodenberührung auf und meine Nase kitzelte der Geruch einer Mischung von zerkauter Karotte, Brennesselsud und zerbröseltem Knäckebrot . Vom dämmernden Himmel grüßte die Sichel des sanften Mondes. Aus weiter Ferne drangen die Worte des Gefährten in mein Ohr.
„Mein Bruder, hört er mich?“
„Ist der Feind noch nahe? Wir haben keine Zeit zu verlieren!“
„Mein Häuptling, laß uns die nächsten Stunden von hier verschwinden und der Kraft Zeit geben zu Dir zurückzukehren.“
„Mein Bruder spricht weise. Bring mich in die Schlucht!“
Die Nacht senkt sich schnell herab. Ein Kauz schrie. Dann schwieg das Tal. Die Gefährten erreichten ihr Ziel. Der Mond hing wie eine Banane über ihren Köpfen.
(Fortsetzung folgt)
Thema: Archibalds Geschichte, Die Reise ins Tal | Kommentare deaktiviert | Autor: Christian Lugerth