Beiträge vom 2. Dezember 2020

Kleben / Bilder / Gedanken / Schrank / 047

Mittwoch, 2. Dezember 2020 13:47

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Ich wage zu behaupten:

Nahezu alles Wissen,

das nicht Wissen um uns

selbst ist, ist umsonst.

(Imre Kertesz)

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Dann rauschte er vorbei der Vorortzug. Hinter den beschlagenen Scheiben maskierte Novembergesichter. Die Augen noch stumpfer als sonst in ein leeres Jahr blickend. Mahler hatte gewunken, der Lokführer tippte mit dem Zeigefinger an seine Stirn. Budnikowski hielt sich an seinem bärigen Gefährten fest. Der Wind eines vorbeirauschenden Zuges hatte schon weit stabilere Genossen unter die Räder geweht. Da aber die Sonne eben den milchigen Hochnebel durchdrang, blieben die Zwei noch sitzen am Rande der Gleise, die durch die zerfallenden Ränder der Kleinen Häßlichen Stadt führten. Das gab ihnen die Gelegenheit ihre Enttäuschung hinter sich sonnendem Antlitz zu verbergen. Ein Hobo mag man sein in Liedern oder vielleicht in Dokumentationen, die im Bilderschauapparat laufen. Den hungrigen Mahler erfasste eine zutiefst kleinbürgerliche Sehnsucht.

…..

„Meister Budnikowski. Drei Worte nur: Sofa. Heizung. Bilder schauen mit leerem Hirn.“

„Werter Mahler. Drei Worte auch von mir: Ich bin dabei!“

„Das heißt?“

„Sehen Sie den Weg entlang der Gleise? Da im struppigen Gebüsch?“

„Fußmarsch? Weia! Das wird eine Tageswanderung! Ohne Proviant!“

„Und wahrscheinlich kommt die Nacht dazu!“

„Nicht zu vergessen der Sprung ins Unterholz und die dort verplemperte Zeit, sollten uns diese kläffenden, unablässig kotenden Vierbeiner begegnen.“

„Hilft nix, Mahler. Je früher ein erster Schritt, so näher das Ziel. Oder so ähnlich!“

„Wer die Sohle nicht rollt, der verzichtet auf Gold!“

„Besser auf Schusters Rappen tappen als auf leere Schienen grienen!“

„Wo gewandert wird, da krähen Hähne!“

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Wir blenden uns mal aus, bevor wir uns hier auf Totes – Meer – Niveau runterdichten. Die Gefährten wagten den Aufbruch und dichteten eine ganze Weile – das beschleunigt den Schritt – wunderbar sinnfrei vor sich hin. Dann durchschnitt der Mahler, Bär vom Brandplatz, das weiße Band des Unsinns. Der Hase spürte die NEUE ERNSTHAFTIGKEIT, die an seiner Seite Richtung Innenstadt wanderte, wankte, tänzelte und schritt. Folgendes sprach er nun zum Bären.

…..

„Also, daß ich mich an Ihnen festhalten konnte und so der Wind, der vorbeirasende, von mir Abstand nahm. Danke!“

„Da nich für! Wie man oben bei den Fischbrötchen sagt.“

„Das war toll!“

„Ja, Budnikowski. Jung waren wir da auch nicht mehr, aber jünger!“

„Und jetzt, Mahler, kehren wir wieder mal heim.“

„Vielleicht kommt man uns ja entgegen!“

„Man weiß das nie!“

„Mir fällt ein Gedicht ein.“

„Wollen Sie es aufsagen?“

„Es riecht aber verdächtig nach dem Ehrenwerten Ernst Albert!“

„Her damit!“

…..

Und so marschierte man emsig weiter, in die Oberschenkel schoß so langsam der Pudding der Ermüdung, die Sonne verhochnebelte sich rapide und die Nacht klopfte ans Fenster. TOITOITOI den Wanderern. Und hier noch das Gedicht.

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als sie noch jung waren die winde

war ich verworren

und blind und taub

für ihren gesang

jetzt wenn ich das land durchstreife

und nicht mehr weiß

wo ich bin

und nichts mehr wissen will

in meinem herzen

denk ich an die winde

die alt geworden sind

(wolfgang hilbig)

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Thema: Klebebilder | Kommentare deaktiviert | Autor: Christian Lugerth