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Mit gebührendem Abstand betrachtet / Zwei

Montag, 20. April 2020 16:33

abstand_gundi

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Zurück in die Zukunft

oder

Nochmal Gundi besuchen

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Nein, es war keine Abstandfestlegungsdiskussionsorgie welche Archibald Mahler und Kuno Budnikowski im Wald stehen bzw sitzen ließ und sie so dazu bewog, heute nicht über die Zeit nach der Zeit zu räsonieren, sondern es war der Ehrenwerte Herr Ernst Albert, der die SCHULD trägt, daß das so ist wie es ist heute. Ja, der ist SCHULD. (Bis jetzt hat man den ganzen Krempel ja erstaunlich gelassen und ohne Schuldzuweisungen gewuppt. Dies scheint sich so langsam zu drehen. Bitte auch darüber räsonieren. Mit distanzierter Faust: der Säzzer) Halt, SCHULD trägt ein alter Freund des E.A., hat der nämlich geschrieben, er habe im Wald am Rande der Kleinen häßlichen Stadt in Mittelhessen Gundermann gefunden und zwar den richtigen Gundermann, da der alte Gundermann, der letztes Jahr auf der Bühne stand, um den Westen an den Osten zu erinnern, ein falscher Gundermann gewesen war, also die Heilpflanze namens Gundermann (Glechoma hederacea), die als Requisit im Stück des Ehrenwerten Ernst Albert mitwirkte war falsch, irgendein anderes Kraut war das gewesen und der Gundermann jetzt da draußen im Wald, der sei der Echte und Wahre und in Blüte.

Also rauf auf das Fahrrad, in den frühen morgendlichen Wald, vorbei an langen Schlangen vor den Bäckereien. Mahler und Budnikowski, heute wieder  Hoy und Woj, sind gerne dabei. So entfleucht man den Pflichten, auch wenn diese selbstauferlegt sind. Und der Ehrenwerte E.A. ist auch lieber im Wald als in seinem sorgenvollen Musentempelhirn zu Gange. Ein hübsches Pflänzchen ist das, der wahre Gundermann, so viel kleiner als das dicke Ding auf der Bühne, der falsche  Gundermann. Stop, bevor wir hier herum metaphern und blöde Schlüsse ziehen, hören wir mal rein, was Hoy und Woj aka Mahler und Budnikowski, da sie zwischen den Blümchen sich an den letzten Sommer erinnern, so zu sagen haben.

…..

„Meister Hoy, haben Sie die ganzen Aufrechtgeherschlangen gesehen? Ist das die tätige Erinnerung an den Osten?“

„Vielleicht, so ein bisserl. Vor allem, wenn man dann endlich drin ist und das Verlangte ist ausverkauft, werter Pijasel Hoj.“

„Dann sollen die mal schön sich erinnern üben!“

„Schwer, wenn man zwanghaft immer nur nach vorne stiert!“

„Eben. Das sind aber viele kleine Gundis hier!“

„Ich glaube es stehen genau schöne Blumen um den Baum herum!“

„Ach ja, das sagt ihr Freund, der nicht da war. Blumen riechen statt sie zu zählen.“

„Genau, Blumen sind schöner, als sie achtunddreißig sind!“

…..

So haben die zwei Blumenriecher gerade noch die Kurve gekriegt, bevor sie in die Räsoniererei eingebogen wären, wo der Morgen im Wald heute doch so schön friedlich und unbeschwert ist. Morgen dann geht es richtig los. Versprochen. Oder übermorgen ganz gewiß. Hundertpro. Aber Schweigen im Wald ist auch ganz schön. Und nicht vergessen ein paar Gundermänner auszugraben. Für später mal.

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Mit gebührendem Abstand betrachtet / Eins

Freitag, 17. April 2020 19:53

abstand01

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Morgen ist auch noch ein Tag

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Viele machen sich viele Gedanken. Etliche natürlich weniger. „Ich will meine alte Welt zurück! Sofort!“ Das sprechen sie dann. Lieber nicht, denken daraufhin die, welche sich Gedanken machen darüber, was könnte sein danach, wohl wissend aber auch, daß man jederzeit gefeit sein sollte vor Überraschungen, da jene das einzige sind von Bestand und worauf Verlaß.

Nein, Archibald Mahler und der Gefährte Kuno Budnikowski – nun wieder vereint – sind nicht nochmal nach Hoyerswerda gereist, obwohl sie sich dort sehr wohl gefühlt hatten im letzten Sommer und auch wenn obige Photographie Erinnerungen wachrufen mag. Man sitzt vor den Resten einer aufgegebenen, vom Zahn der Zeitläufte langsam abgenagten Fabrik am Rande der Kleinen häßlichen Stadt in Mittelhessen. Des Bären Rückkehr aus Engelthal und klösterlicher Innenschau liegt fünf Wochen zurück. Einiges an erworbener Ruhe und Seelenfrieden konnte in den Alltag hinüber gerettet werden, was allerdings so schwer nicht war, steppte und steppt doch draußen vor der Tür dieser Tage  nicht gerade der sprichwörtliche Bär.

Dem tatsächlichen Bär ist das nur recht, denkt er doch lieber vor sich hin und da ist die Neue Stille förderlich. Also sitzen Mahler und Budnikowski vor den Hinterlassenschaften eines schon erfolgten Umbruchs und gemeinsam wollen sie über die aus ihrer Sicht vielleicht notwendigen Konsequenzen aus dem sich anbahnenden Umbruch – wenn er als solcher akzeptiert wird – nachsinnen und auch dummes Zeugs quatschen. Mit gebührendem Abstand selbstredend. Zollstock, Maßband und eine große Schachtel voller Erinnerungen, alter Befürchtungen, spekulativer Menetekeleien, zaghaften Erkenntnissen und frommen Wünschen führen die beiden mit sich. Aber heut’ noch nicht. Das Regelwerk in Sachen Abstand gilt es auszuhandeln. Morgen ist auch noch ein Tag.

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Siga, siga!

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abstand02

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Vorletzte Fragen in diesen Tagen / Hoffnung stets

Sonntag, 12. April 2020 4:14

engel33

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Fürchtet Euch nicht vor blühenden Mandelzweigen

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Morgensonne über einem österlichen Hinterhof in der Kleinen häßlichen Stadt in Mittelhessen. Stille. Mahler hat Budnikowski das Schweigen schmackhaft gemacht. Keine Angst, nicht für immer und ewig, aber dafür öfters. Budnikowski hat Mahler zum Dank ein Gedicht geschenkt. Hat ein jüdischer Schriftsteller im Jahre 1942 verfaßt. Budnikowski meint und da ist er – wir wollen ja nicht angeben mit fremder Lorbeere – in diesen Tagen auch nicht allein, es sei angemessen und schön. Mahler freut sich darüber und schweigt.

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Das Zeichen

Freunde, daß der Mandelzweig

Wieder blüht und treibt,

Ist das nicht ein Fingerzeig,

Daß die Liebe bleibt?

Daß das Leben weiter ging,

Soviel Blut auch schreit,

Achtet dieses nicht gering,

In der trübsten Zeit.

Tausende zerstampft der Krieg,

Eine Welt vergeht.

Doch des Lebens Blütensieg

Leicht im Winde weht.

Freunde, daß der Mandelzweig

Sich in Blüten wiegt,

Bleibe uns ein Fingerzeig,

Wie das Leben siegt.

(Schalom Ben-Chorin)

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„Mahler, wir müssen noch Frohe Ostern sagen! Also, falls wer guckt!“

„Genau, Budnikowski.. Sagen wir Frohe Ostern, wenn wer guckt und man ist allein gar nicht so allein wie in den Massen!“

„Na ja, Sie waren ja schon immer der Solitärität zugeneigt!“

„Zwei Buchstaben ausgetauscht und wir nähern uns dem Gebot der Stunde!“

„Ah, das Osterpreisrätsel! Was gibt es zu gewinnen!“

„Der Herr ist auferstanden!“

„Quatsch, wenn ich den Bären korrigieren darf. Der liegt noch oben und schläft.“

„Häretiker. So sagt man an Ostern. Der Eine: ‚Der Herr ist auferstanden.’ Die Antwort sei: ‚Er ist wahrhaftig auferstanden.’ Ich beginne also: Der Herr ist auferstanden!’“

„Wenn es der Wahrheitsfindung dient: ‚Er ist wahrhaftig auferstanden!’ Zufrieden?“

„Wissen Sie, es schadet nicht, dies so zu sagen. Eher im Gegenteil. Fürchte Dich nicht!“

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engel34

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Vorletzte Fragen in diesen Tagen / Fünfzehn

Samstag, 11. April 2020 22:05

engel31

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„Eloi, Eloi! Lama sabachthani!”

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Kurpark Bad Salzhausen bei Nidda. Ein paar Runden gedreht. Lesesaal. Einer liest. Raus. Leere Wege. Gradierwerk. Zwei Handwerker. Weiter. Solequelle. Lithiumquelle. Trinken. Weiter. Man bleibt alleine. Stille. Schließlich die Trinkkuranlage mit kleinem Konzertsaal. Leere Stühle. Verwaist. Der Klavierdeckel abgeschlossen. Archibald Mahler schaukelt auf einer Absperrkette. Komplett aufrechtgeherfreie Räume, welche auch auf absehbare Zeit aufrechtgeherfrei bleiben werden, der Bär hat nicht so viele Einwände. Da bärt ihm … ähem … schwant – soweit dies Bären  möglich – ihm etwas. Dem Ehrenwerten Ernst Albert ist es derweil schlecht geworden und dies nicht vom reichlich genossenen Heilwasser. Blaß schaut er aus seinem eigentlich gut erholten Antlitz auf die leere Bühne.

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„Weia, lieber hochgeehrter Ernst Albert! Da war ich wohl etwas unsensibel!“

„Ach, mein Guter, mach Dir kein Kopp. Von den Mühen der Musentempelei wissen eh die wenigsten. Doch das hier, so ohne Zuschauer, das riecht nach Zwangsverrentung.“

„Und das wird dauern?“

„Quarantäne kommt vom lateinischen quadraginta sprich vierzig. Vierzig Tage lang wurden in Zeiten der Pest Reisende und Schiffe von allen anderen ferngehalten. Die Fastenzeit dauert übrigens ebenso vierzig Tage.“

„Also ist an Ostern alles vorbei!“

„Eher nicht! Und schon gar nicht für mein Gewerbe und die Musikanten. Aber ohne Publikum sind wir These und tote Idee.“

„Ich will jetzt nicht schlaubären, aber kommt Quarantäne nicht auch von kontumaz, was da bedeutet Trotz oder Unbeugsamkeit? So nannten die Österreicher den Wegschluß mal!“

„Da möge Gott für sorgen, daß Rückgrat und Seele unbeugsam den Widrigkeiten trotzen!“

„Ich will jetzt ganz schnell nach Hause!“

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Nachdenkliche Rückfahrt. Ein Schweigen, welches knirscht. Zuhause angekommen ein kurze und liebevolle Begrüßung. Das mit dem Reden geht noch nicht so locker von der Zunge, zumindest beim Ehrenwerten Musentempler. Er muß noch eine Runde drehen, draußen an der übervollen Lahn. Bis solche Fluten sich verlaufen haben, dies wird dauern, davon ist auszugehen und so spuckt er dreimal von der Brücke, auf der er das tobende Wasser überquert. Ein vorläufig letztes TOITOITOI. Gut in Engelthal gewesen zu sein. Als hätte man etwas geahnt. Die Stille halten und stillehalten die nächsten Wochen. Und gewiß kein Katastrophentagebuch schreiben, weder gefragt, noch ungefragt. Eitle Befindlichkeitseinträge ins virtuelle Poesiealbum sind nicht Aufgabe und Herausforderung dieser Tage. Man sollte das Ganze nicht aus dem Blick verlieren. Danke, lieber F.C. Delius. Dann trottet er nach Hause. Es gibt zu tun.

Archibald Mahler sitzt auf dem roten Sofa und zeigt dem Gefährten Kuno Budnikowski die Fotos, die in den letzten Tagen geschossen wurden. Die wunderbare Frau Pelagia bereitet ein Abendbrot.

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„Bär, ich wußte gar nicht, daß Du den Fotoapparat bedienen kannst!“

„Na ja, so helle bin ich schon. Und der Budnikowski hat mir geholfen mit den kleineren Pfoten!“

„Genehmigt. Da liegen ja ein paar schöne Geschichten rum!“

„Müssen wir jetzt Tagebuch machen?“

„Gott bewahre! Lediglich berichten von der Zeit davor.“

„Das ist gut. Und jetzt habe ich Hunger!“

„Weißt Du, was ich eben auf den Weg nach Hause aufgeschnappt habe?“

„Sagen Sie!“

„Da sagt doch einer zu einer: ’Letzten Monat, als die Welt noch in Ordnung war!’ Wo lebt der?“

„Die normale Hybris der egomanen Aufrechtgeher! Weia!“

„So ist das wohl. Jetzt habe ich auch Hunger!“

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engel32

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Vorletzte Fragen in diesen Tagen / Vierzehn

Freitag, 10. April 2020 20:43

engel29

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Solange der Krug zum Brunnen geht, zieht der Kelch nicht vorüber

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Heute blicken wir – am Karfreitag des Jahres 2020, der ein Karfreitag ist, wie ihn große Teile der Welt so noch nicht erlebt haben – zurück auf den Freitag vor vier Wochen, welcher ein dreizehnter war. Weder Archibald Mahler noch der Ehrenwerte Ernst Albert neigen zu irgendwelchen Spielarten des Aberglaubens, jedoch im Blick zurück – will man es unbedingt – grüßt das ein oder andere Zeichen. Vor allem, wenn man eine ganze Zeit lang schweigend in sich oder zum Himmel geblickt hat.

Trotz des Verzichts auf übermäßige Eile und inklusive nachdenklichem Zwischenstopp auf der Bank über dem Misthaufen war noch ausreichend Zeit bis zur Abfahrt des Zuges einen Blick auf die überflutete Aue bei Altenstadt – Höchst (anvisierter Haltepunkt der Bummelbahn) zu werfen. Ein Flüßchen von bestenfalls zwei Metern Breite hatte einen kilometerlangen See zustande gebracht. Einsam saß ein Storchenpaar auf seinem Pfahl mit Plattform im Nest, zu zweit und mit Gelege und blickte etwas verwirrt in die Fluten zu seinen Füßen. Ob da mal ein Frosch vorbei schwimmt? Oder sollte man besser auf Ente umschulen? Der Zug jedenfalls wurde erreicht. Für einen Freitagnachmittag recht leer.

Umsteigen Richtung Kleine häßliche Stadt in Mittelhessen mußte man in Glauburg – Stockheim. Längerer Aufenthalt. Wie auf der Hinfahrt wurde die Zeit genutzt in einer nahen Supermarktkettenbäckerei Kaffee zu trinken und Zeitung zu lesen. Und siehe das Land – bis unlängst milde und erhaben über die Nachbarn lächelnd – war dabei sich auf den Kopf zu stellen. Was vor etwas mehr als einer Woche, als man in Engelthal ankam, noch achselzuckend oder ungläubig bis hochnäsig als kleine Irritation betrachtet wurde – auch die zwei Pilger machen sich von dieser Sichtweise nicht frei – nun wuchs es sich aus zu einer Flut. Dieser Kelch zog nicht vorüber und war auch nicht bestechlich. Die ausgerufenen Parolen lauteten: Bleibt in Euren Nestern, mit oder ohne Gelege. Die Frösche sind vergiftet.

Als man wieder auf dem Bahnsteig stand fiel auf, daß die Bahnhofsuhr stehengeblieben war. Sechs Uhr? Morgens? Es fängt alles erst an. Oder sechs Uhr Abends? Dunkelheit ante portas? Bereitet Euch auf einen langen Schlaf vor. Eine seltsame, nicht unangenehme Stille machte sich breit. Die Furcht hielt sich noch bedeckt. Die wenigen Menschen, denen man begegnete, blickten ungläubig.

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„Tja, Herr Ernst Albert. Das kommt davon, wenn man über eine Woche lang keine Zeitung anfaßt!“

„Wir hätten es auch nicht aufgehalten, indem wir davon gelesen hätten!“

„Aber Stille konnten wir doch üben die Tage.“

„Und mit sich selber sein wohl auch. Und um Hilfe bitten vielleicht.“

„Was machen wir jetzt?“

„Noch einen Spaziergang ohne Auflagen!“

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engel30

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Vorletzte Fragen in diesen Tagen / Dreizehn

Dienstag, 7. April 2020 21:28

engel27

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Es fährt kein Zug ins Irgendwo und der ewige Misthaufen duftet

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„Man muß den Zug nicht nehmen. Muß man den Zug nehmen, den man nehmen sollte? Ist es entscheidend, ob ein Zug irgendwo hin fährt oder ob er weg fährt? Wer fällt die Entscheidung? Ein jeder Zug fährt ab, also von irgendwo weg. Muß er ja, um irgendwo hin zu gelangen. Also gibt es keine Nur–Hin – bzw keine Nur–Weg–Züge. Demnach existieren vorrangig Beides- oder Sowohl-als-auch–Züge. Wenn man genauer hinschauen mag, sind dann die Hin–Züge Sollzüge und Weg–Züge Wollenszüge? Oder umgekehrt? Es wird immer was aufgegeben – nicht nur Gepäck – bei einem HIN und gerne was gewonnen dann. Aber wer sagt, daß im Wegfahren überhaupt ein größerer Gewinn verborgen liegt? Was geht verlustig? Also – stop mal – schlußfolgert man nun der Weg–Zug ist eher der Sollzug, der Hin-Zug der Wollenszug? Soll man das so wollen? Oder? Ich weiß nicht!“ Dachte Archibald Mahler in der Reisetasche des Ehrenwerten Ernst Albert und dies recht laut. Und unruhig.

Man muß auch nicht, bedrückt einen etwas, damit das Gegenüber eins zu eins – wie es so nett im Küchenschypsologielatein heißt – „konfrontieren“. Da ist manchmal eine ausschweifende Kummerumgehungsstrasse nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten. Grundvoraussetzung der, die oder das Gegenüber verfügt über ein Mindestmaß an Emphatie und man kennt sich. Ein bisserl zumindest. Länger ist besser. Also schüttelt der Ehrenwerte Ernst Albert wohlwollend den Kopp angesichts der doch etwas wirren Gedankenwolke, die zwischen den Zacken des Reißverschlusses seiner Reisetasche hervorquillt. Er steuert die nächste Bank an, eben jene auf der man am Tag der Anreise das erste Mal die Turmspitze des Klosters erblickt hatte. Leider durfte man die Kirche in der letzten Woche nicht betreten, sie wurde renoviert, aber auf Postkarten konnte  man eine sehr schöne Orgel und ein beeindruckendes Kirchenschiff bewundern. Der Bär wurde aus der Tasche befreit, da dem Taschenträger klar war, den kleinen Gefährten bedrückt etwas oder sagen wir, etwas treibt ihn um, und zwar heftig.

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„Bär, Butter bei die Lachse! Was ist los?“

„Sehr geehrter Ehrenwerter Herr Albert! Keine fünfzehn Minuten haben wir die Klosterpforte hinter uns gelassen und schon brechen Sie das Schweigen und befleißigen sich eines – na ja – mir etwas fragwürdig anmutenden Jargons!“

„Verzeihung, mein lieber Archibald Mahler. Gut: was drückt aufs Gemüt, was treibt um? Du hast so laut und wild gedacht, daß die Vögel verwirrt ihr Gepiepse und Gesinge eingestellt haben, um Dir folgen zu können. Kurz und knapp: Möchtest Du die Züge verpassen, um hier zu bleiben?“

„Ja. Nein, das nicht… Äh! Na ja!“

„Ja was nun? Wir sollten und wollten den Zug schon kriegen, den wir anvisiert hatten!“

„Aber, also, da vorne, am Weg, der Misthaufen. Der ist immer noch da und wir wollen doch so lange, bis der nicht mehr …“

„Mein Bester, den Misthaufen können nicht mal tausend Benediktinerinnen wegbeten. Und darum geht es auch nicht. Gehen wir an dem Ding vorbei und schnuppern, ob er inzwischen nach Veilchen duftet! Oder frischen Brot!“

„Jetzt sind Sie genau wirr im Kopp wie ich. Das mit den Veilchen ist Blödsinn. Und so ein Brot wollen Sie bestimmt nicht essen!“

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Aufbruch und Beschleunigung des Schrittes, dezent nur, das Wandertempo weiterhin gemach. Man passierte den Misthaufen. Nach Veilchen duftete er nun wirklich nicht, die Frühlingssonne ließ den Haufen dampfen und sein olfaktorisches Alleinstellungsmerkmal wehte den zwei Pilger in die Nase, jedoch Archibald Mahler, ausgestattet mit einer feinen und vorausschauenden Bärennase vermeinte, nein, war sich sicher frisches Brot zu riechen, gebacken aus dem Weizen oder Roggen oder Dinkel, der bald auf dem mit Mist durcheggten Feldern ringsumher geerntet werden würde. Und dann roch er noch Maisfladen, Sonnenblumen, blühenden Klee und Haferbrei mit Honig.

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„Herr Ernst Albert?“

„Ja?“

„Ich verstehe! Die letzte Woche! Ich begreife ein bißchen was!“

„Ich hoffentlich auch!“

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engel28


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Vorletzte Fragen in diesen Tagen / Zwölf

Montag, 6. April 2020 10:31

engel25a

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Das Nichtvorhandene und was durchaus sein könnte

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Der Bär saß am letzten, dem Abreisetag, noch mal im Engelthaler Forst. In Blumen. Er mußte an den großartigen Bären, der nicht da war denken, jener aus dem gleichnamigen Bilderbuch von Oren Lavie, als er den Reflex unterdrückte, die Schneeglöckchen, die ihn umgaben, zu zählen. „Es ist besser, Blumen zu riechen, als sie zu zählen. Blumen sind schöner, als sie 38 sind.“ Dieser Gedanke machte ihn froh in der Morgensonne und er sortierte ihn in seinen Gedankenschrank ein und fügte für sich hinzu: „Heute bin ich ein glücklicher Bär. Danke schön aber auch.“

Der vorletzte Tag war schnell vergangen. Archibald Mahler hatte einen Brief geschrieben. Der Ehrenwerte Ernst Albert hatte Laudes, Eucharistie, None, Vesper und Komplet besucht, beobachtend, fremd, sich jedoch nicht fremd fühlend, sondern willkommen, aber nicht bedrängt. Manche Worte hat er mitgemurmelt, manches war ihm seltsam, erschreckte ihn, mal weil es fürchterlich fern, mal weil es erstaunlich nah. Und sonst schwieg er mit Freude. Ein Psalmwort blieb ihm den ganzen Tag über im Kopf und er dachte es laut vor sich hin, als er den Brief seines Bären zum Briefkasten draußen vor dem Klostertor trug. Man möge, lauteten die Worte, nie vergessen, daß des Menschen Tage wie Gras seien, und daß man, wenn der Wind über das Gras gegangen, nicht mehr wisse, wo man einst gestanden, wo die Stätte des eigenen Wirkens gewesen war. Und ihm kam der letzte Sommer in HOYWOY in den Sinn, als er auf der Terasse der dortigen Pension Mark vom Gras sang, welches immer wieder wächst, wild und hoch und grün, bis die Sensen ohne Haß ihre Kreise zieh’n, dieses tröstende Hoffnungslied des Gundermann, den mit jungen dreiundvierzig Jahren der mortem suspectam ereilt hatte. Dies die Botschaft der Psalmworte:  man möge nie vergessen, vorausschauend und gläubig, sich über den eigenen hysterischen Tellerrand erhebend, daß des Sensenmannes vornehmste Eigenschaft ist, unerwartet zu ernten. Wie sagt man in der Gegend, in welcher er aufgewachsen war?

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„Mr hodz it leicht, aber leicht hodz ein!“

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Ein kalter Wind hatte in der Nacht den Himmel gehoben, die niedrig dahinziehenden, nassen Wolken verjagt, die Sterne heller denn je funkeln lassen. Der Ernst Albert saß auf der Bank am Waldesrand, Archibald Mahler in den Schneeglöckchen. Man blickte hinab ins Tal. Überflutete Auen, ein Nahverkehrszug Richtung Heimat rauschte vorbei, vereinzelt Autos auf der Bundesstrasse da unten im Tal. Ein Hauch von Angst hatte die zwei Gelegenheitspilger ergriffen, mußte man nun doch diese stille, freundliche Insel verlassen und wieder hinaus ins Meer der Hektik, des Gelärmes und der Geschafftelhuberei. Was aber würde man mitnehmen von der Insel, was würde Bestand haben?

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„Herr Ernst Albert? Wir müssen gleich, gell!“

„Scheint so! Ein, zwei Minütchen noch!“

„Und was nehmen wir mit von hier?“

„Ein Glas Erdbeermarmelade mit grünen Pfeffer und eine Seife, die nach Zitronengras riecht. Beides aus dem Klosterladen und beides für die Wunderbare Pelagia!“ (Ja, ja lieber Säzzer! Wird auch bald erklärt!)

„Und sonst noch?“

„Tja, das werden wir sehen, was wir in den Alltag rüber zu tragen vermögen. Was da weiter atmen mag!“

„In ein paar Tagen baut man nicht den ganzen Tempel, geschweige denn inklusive Bärleuchtung!“

„So ist es! Nicht zu schnell nach dem Erhabenen greifen! Das Gewöhnliche suchen, nicht die Sensation! Wer das Gefühl hat, endlich wieder etwas freier atmen zu können, soll nicht so tun, als habe er eben das Atmen erfunden!“

„Gestern haben Sie mir eine schöne Gute Nacht – Geschichte vorgelesen von diesem portugiesischen Buchhalter!“

„Der gute alte Fernando Pessoa! Das Buch der Unruhe!

„Ich wurde aber ganz ruhig und mußte, um einzuschlafen, keine Blumen mehr zählen. Vor allem der letzte Satz.“

„Ich schlafe, wenn ich vom Nichtvorhandenen träumte; ich erwache, wenn ich von dem träume, was durchaus sein könnte.“

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Dann schulterte der Ehrenwerte die Tasche inklusive Archibald Mahler. Man ging, wie so oft die letzten, guten Tage am Gekreuzigten vorbei. Man hielt inne, beugte das Haupt, nicht so tief und lange, wie die Schwestern in Engelthal dies tagtäglich, Jahr um Jahr tun, aber immerhin. Man kann sich auch mit kurzem Arm bekreuzigen.

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engel26

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Vorletzte Fragen in diesen Tagen / Elf

Freitag, 3. April 2020 23:31

engel23

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Sehr geehrter Freund Herr Kuno Budnikowski von und zu Datteln!

Verzeihen Sie die etwas förmliche Anrede, aber ich schweige dieser Tage zumeist und so schreibe ich Ihnen, um etwas zu sagen zu können ohne zu reden und dies will ich gewissenhaft tun. So ein Kloster ist ein freundlicher Ort und so eine Stille sollten Sie mal hören. Die Schwestern hier sind vom Orden der Benediktiner. Ich glaube, die haben die strengsten Regeln aller Klöster. Braucht man wohl, wenn man sein ganzes Leben zusammen verbringen muß. Hier will man das. Müssen Sie sich vorstellen, man kommt hierher, weiß, wird man aufgenommen, man verläßt den Ort nie mehr und, wenn es soweit ist, stirbt man hier. In Frieden. Vielleicht daher die Freundlichkeit. Ich erlebe hier Dinge, die mir neu sind oder ich habe sie vergessen gehabt und es ist nicht einfach diese zu erklären. Da bleibt nur Überschwenglichkeit oder Schweigen. Gut ist auch, die Tage vergehen ohne Fernsehen, Radio, Mobilfunkapparate und noch nicht mal Zeitung. Man könnte das haben, wenn man wollte, das ist Bestandteil der Freundlichkeit, aber der Ehrenwerte E. A. und ich wir lassen das mal. Sonst bräuchten wir auch nicht hier zu sein. Dadurch sind die Uhren zeigerlos und wir wissen nicht, was geschieht draußen in der Welt vor den Klostermauern  und sonst sind wir meist im Wald unterwegs. Manchmal, erzählt der Ehrenwerte E. A.,  läge die FAZ vom Vortag neben dem Altpapier. Er schaue aber dran vorbei. Außerdem regnet es jeden Tag und das Tal unten steht schon unter Wasser. Jetzt läuten die Glocken zum Komplet. Da will ich auch mit dem Stift schweigen. Morgen bringt der E. A. den Brief zum Briefkasten links neben der Klosterpforte. Für mich hängt der zu hoch.

Gott mit Ihnen und bis bald!

Ihr Archibald Mahler, Bär die Tage in Engelthal

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engel24

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Vorletzte Fragen in diesen Tagen / Zehn

Freitag, 3. April 2020 10:49

engel21

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Von der Notwendigkeit, keinem Zufall und den Widersprüchen

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„Gott hat keine Religion!“ Dies habe ein Pfarrer mal zum kürzlich hier zitierten Imre Kertesz gesagt. „Weil Du mich gesehen hast, Thomas, glaubst Du! Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!“ Spricht in der Bibel Jesus Christus zu einem der Jünger. Und von Marcel Duchamp stammt das wunderbar verwirrende und Wahrheit transportierende Zitat: „Es gibt keine Lösung, denn es gibt kein Problem!“

Archibald Mahler, Bär tief im Wald nah dem Kloster Engelthal, fehlten die Worte. Zu denken hatte er nicht aufgehört, im Gegenteil im Kopp summte und brummte es wie tausend Hummeln auf Captagon. Dennoch, die tiefe Wortlosigkeit war ihm willkommen. Sie war ihm nicht Manko, Verlust, Beunruhigung, sondern erfüllend. Er ahnte eines Tages werde er in der Lage sein diese Wortlosigkeit zur Sprache zu bringen. Heute jedoch nie und nimmer. Wann dann, darauf verschwendete er keinen Gedanken. War eh kein Platz im Summ – und Brummschädel. Dieses Verstummen war kein plötzliches, beispielsweise auf Grund eines Schocks, Traumas oder zwecks Erfüllung eines Gelübdes. Diese Stummheit war ein solche, die jedem Sprechen vorausgeht, zumindest sollte, will das Sprechen von Bedeutung sein. Was also war geschehen?

Da war dieser alte Steinbruch. Da lagen diese großen, runden, bemoosten Felsen. Waren sie vor ewigen Zeiten den steilen Abhang hinuntergerollt? Hatte ein Riese, übermutig seine grenzenlosen Kräfte austestend, mit ihnen um sich geworfen? Bäume lagen kreuz und quer. Keine Vögel zu hören, eine vibrierende Stille. Einer dieser Orte in dessen Unheimlichkeit ein mancher sich plötzlich heimisch fühlt. So Archibald Mahler. Er hatte seine Wurzel noch nicht gekappt, sich bedingungslos dem Vorwärtshasten hingegeben. Was die Väter einst gesungen, auch wenn da mancher Mißton mitschwang, klang noch in seinen Ohren und – ja – in seinem Herzen. Manchmal. Den Vätern gegenüber ist man gerne ungerecht, muß gegen sie rebellieren, sie verleugnen, um eigene Leiden und Fehltritte zu rechtfertigen. Dann lausche man eben den Vorvätern, den auch die hatten Söhne, die vor den Vätern starben. Auch wenn dieser Ort schwieg, vordergründig, uralte Lieder rauschten in den Baumwipfeln. Zeilen jenseits der Erinnerung, doch irgendwo im Bären gesammelt, verrammelt meist, versammeln sie sich nun an diesem Ort zu einer Art Gebet. So wie die meisten Aufrechtgeher – selbst wenn sie ein Leben fern aller Transzendenz geführt haben – nicht ohne ein Zucken der Erinnerung am Gekreuzigten vorbeigehen können. Vor allem wenn die Nöte der Angst nach ihnen greifen.

Welcher Zufall hatte den Ehrenwerten Ernst Albert und so auch den Bären hierher geführt? Die Notwendigkeit war es, da der Zufall keine Erklärung für eine Tat  ist. Kommt es da nicht auf das gleiche heraus, von einer Notwendigkeit zu sprechen, welche die Schritte an diesen Ort gelenkt hat? Archibald Mahler wollte bleiben. Nicht Erkenntnis zu suchen, nur schweigen, hören, dasitzen, nichts wissen, atmen und sich ab und an am Pöter kratzen. Dies muß ein Bär selbst in Momenten größter Transzendenz einfach tun. Ansonsten gab es kein Problem zu bedenken, kein warum, weshalb, wohin, keine Beweisführung stand an, keine aufgeplusterte Erklärung, vollkommen lösungsunorientiert streiften die Blicke umher, lauschte das Ohr dem eigenen Atem und jene ewigen Dilemmata der Entscheidungsfindungen lösten sich auf wie Flatulenzen in der lauen Frühlingsluft.

Der Ehrenwerte Ernst Albert mutmaßte, daß es sich bei diesem besonderen Flecken um eine uralte Kultstätte handelte, haben die Kelten in dieser Gegend doch massig Spuren hinterlassen. Oder hier haben die drei Hexen einen hessischen Macbeth abgefangen und ihm sein Herz mit allerlei wohlfeilen Versprechungen verdreht. Vielleicht hat hier ein irischer Mönch den Germanen ihre heilige Eiche gefällt und den Eid abgelegt, liefe ihm in den nächsten Stunden ein Bär über den Weg, den er erlegen und verspeisen konnte, auf diesen Felsen ein Kloster zu errichten. Man muß dies nicht wissen, man mag widersprüchliche Vermutungen anstellen und daran glauben.

„Mahler, mein Bär! Wir müssen leider aufbrechen!“

„Meister Albert, ich sage nur, daß ich nun nichts mehr sage!“

„Gut! Hör zu! Morgen werde ich Dich alleine lassen. Ich will, da ich schon hier bin, morgen die Einladung der Schwestern annehmen, an all ihren Zusammenkünften im Refektorium teilzunehmen. Und sonst schweigen!“

Archibald Mahler nickte zustimmend. Endlich hält der auch mal die Klappe. Das paßte ihm in den Kram.

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engel22


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Vorletzte Fragen in diesen Tagen / Neun

Dienstag, 31. März 2020 19:39

engel19

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Abbes Bein revisited. Beleidigte Komfortzone. Dankbarkeit.

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Die Nacht war außerordentlich unruhig gewesen. Schlaf in Scheiben. Da das Zimmer Zwonullsieben unterm Dach lag, mit Fenster gen Westen, prasselte ohne Unterlaß der nächtliche Regensturm gegen die Behausung. Dazu die Reste des gestrigen Tages in den Klamotten und im Fell. Die lange Wanderung. Die Heimsuchungen des Lenz. Etliche Eindrücke. Pochende Fragen. Der Zweifel. Das Hadern. Archibald Mahler, offenen Auges im Dämmerschlaf auf seiner Fensterbank, sah wie der Regen immer neue Tropfengemälde auf das Fensterglas pinselte, wild, wütend fast, sich stetig verändernd. Aufschwellend, abschwellend das Prasseln, Trommeln, Rütteln der Böen und der Bär wanderte in Trance durch seine rotierenden Nachtgedanken. Ach ja, man hatte gestern versprochen noch etwas zu erklären. Die Sache mit dem „Ehrenwerten“. Die Angelegenheit Dankbarkeit. Vernehmet: und so liegt Archibald Mahler wieder auf dem Brandplatz in der Kleinen häßlichen Stadt, auf der Straße, auf heißem Asphalt, in jenem Sommer vor fünfzehn Jahren, zerrissen, geteilt, sein rechtes Bein Meter und Meter von ihm entfernt, ohne Schmerzen zwar war er, doch sehr verwirrt. Warum und woher das Ganze? Wer wollte ihm Böses? Wo waren die Täter, die Verursacher seiner momentan außerordentlich fragwürdigen Situation? Heranwankt kommt ein Mime, man packt  ihn, den Bären am Schlafittchen, ein ihm inzwischen wohlbekannter Zugriff, damals ein erstes Mal gespürt. Was geschah gleich wieder vergessen in dieser großen Verwirrtheit. Zurückkehrte Erinnerung in jenem Moment, als er sich wiederfindet auf einem Nachttisch, sein abbes Bein in Griffweite an seine Hüfte gelehnt, jedoch noch nicht wieder mit ihm verbunden, neben ihm schnarcht ein Trunkener und den Bären durchströmt neben der Hitze des überwundenen Schreckens und der Sommernacht ein ihm bis daher unbekanntes Gefühl. Und er tauft es Dankbarkeit und murmelt: „Das war schon aller Ehren wert, daß der Aufrechtgeher mich nicht hat auf der Gass’ hat liegenlassen. Oder gar (ihn schaudert nachträglich) entsorgt hat.“ Und da die Dankbarkeit für einen Bären kein ein – oder ausschaltbares Eintagsfliegengefühl ist, darf sich bis zum heutigen Tag der Aufrechtgeher Ernst Albert mit dem Titel „Ehrenwerter“ schmücken. Hat der Mahler entschieden und muß dabei an so etliche der hiesigen Aufrechtgeher denken, die das Schicksal seit fünfundsiebzig Jahren des Friedens mehr als pfleglich behandelt hat, die aber jede Begegnung mit dem Unglück als eine Art persönliche Beleidigung betrachten, als seien sie aufs ewige Glück abonniert in ihrer Komfortzone. Sie fühlen sich unverwundbar und sind davon überzeugt sie seien als Krönchen der Evolution von allen Zumutungen existentieller Umbrüche und daraus resultierender Mühen und Überlebenskämpfe befreit. Dankbarkeit ist ihnen so fern wie der Nächste und wesentliche Äußerung ist ihnen die tägliche Forderung, unbegründet meist und bei nicht sofort erfolgter Erfüllung der Ansprüche vom beleidigten Flunsch oder, schlimmer noch, blindem Umsichschlagen begleitet. Man mag nichts lernen aus dem Mißratenen, Unglückseligem, Einbrüchen, Veränderungen kurz: dem Anderen. Die Abwesenheit aller Götter jenseits der Götzen des grandiosen Selbst. So  waren des Archibald Mahler Denkpfade in der stürmischen Nacht. Der schlaflose Ehrenwerte aber las und las.

Stunden später und entschieden leichter saß man auf einer Bank am Waldesrand. Blickte hinab ins Tal der Nidder. Die Sonne schien auf den Pelz. Ein Regenschirm spannte sich über das – kein Wunder – noch schläfrige Haupt. Man war nach Laudes und Frühstück aufgebrochen. Weite Wege waren heute nicht vorgesehen. Der gestrige Tag steckte noch in den Oberschenkeln. Doch die erfuhren auch heute kaum Schonung. Man war aufgebrochen bei optimistischen Wolkenlücken. Nach wenigen Minuten war man jedoch, ordentlich durchnäßt, gezwungen umzukehren und einen in der Teeküche vergessenen Regenschirm zu organisieren. Zweiter Versuch nun, dies kennt man ja, und seit einer Stunde schleppt man den Regenschirm durch eine sonnenbeschienene Landschaft. Von der Vorfrühlingssonne erfreut saß man schweigend und – ja! – dankbar dafür hier und heute hier und genauso eben hier und jetzt sein zu dürfen, denn Mutter Natur hatte einen Regenbogen über das Tal gezaubert. Schön!

Das Schweigen währte eine lange Weile. Man dankte sogar für die Langeweile. Sie war warm und begehrte nichts anderes als da zu sein. Dann begann der Bär, in sich hineinblickend, aber doch wie aus sich herausgetreten leise vor sich hin zu sprechen. Mit wem redete er? Mit sich selbst? Jedenfalls nicht mit dem Ehrenwerten Ernst Albert. Mit wem dann?

„Mahler, mein Bär, sag an, betest Du etwa?“

„Ich danke nach … ähem … denke nach übers Danken. Denke ich!”

„Ist es dies nicht, was ich frage?“

„Dieser Regenbogen!“

„Ich wußte nicht, daß Bären religiöse Erlebnisse haben!“

„Wenn sie aber wollen! Und: Ist das nicht ein grundsätzliches Bedürfnis? Da brauch man an nichts zu glauben!“

„Auch nicht an Deine vielfältigen Bärengötter?“

„Ich weiß nicht, ob oder wieviele es gibt, aber das ist Wurst wie Lachs. Was in mir ist, gibt es auch draußen in der Welt. Oder sonst wo. Schließlich müssen wir ja irgend jemand Dank sagen für unser Leben, auch dann, wenn zufälligerweise niemand da ist, der diesen Dank entgegennehmen könnte!“

„Halt! Das kenne ich doch!“

„Das haben Sie mir heute Nacht vorgelesen, weil ich mehrmals  ‘Danke’ gemurmelt habe im Traum!“

„Ach ja. Der Imre Kertesz! Dossier K.“

„Das habe ich mir gemerkt!“

„Und erinnerst Du Dich noch, was Du davor gerufen hast diese Nacht? ‚Vergiß nicht mein Abbes Bein! Vergiß es nicht!’ Herzzerreißend laut!“

„Das habe ich vergessen!“

„Komm mit, ich zeig Dir was!“

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engel20

Thema: Vorletzte Fragen | Kommentare deaktiviert | Autor: Christian Lugerth