Beiträge vom 24. Januar 2015

A. Mahler macht sich selbstständig/Ungewißheit

Samstag, 24. Januar 2015 19:46

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Stell Dir vor, Du denkst die Erde sei eine Scheibe. Wenn Du hier in Holtenau ein Schiff besteigst und raus fährst und ruderst und fährst und der Wind weht und bläst aus der Richtung, aus der er heute blasen mag, die Segel knattern, die Riemen knarzen? Du lässt den Wind wehen und Du treibst. Dahin. Dorthin. Vor der windumtosten Nase Ungewißheit. Das Viel oder das Nichts. Was wohnt dort hinten? Dieser Horizont. Diese letzte Linie. Da draußen? Wasser, Wasser, Himmel, Wasser? Die Kante? Der Fall? Endet etwas? Ein Beginn? Ungewißheit. Der Himmel färbt sich rötlich – bleu, die Möwen schreien aufgeregt (wie immer!), aber sie meinen nicht Dich. Nacht naht und Du beginnst zu hören. Es klatscht und gluckert gegen den Rumpf Deines Schiffes und Du hast noch nicht mal eine Taschenlampe an Bord. Vielleicht leiht der Mond heute Deinen angestrengt geschlitzten Augen Licht. Die Erde ist eine Scheibe. Das ist, was Du glaubst! Bist Du dann dumm?

Archibald Mahler sitzt am Fuße des Holtenauer Leuchtturms. Wozu ist der da? Ist das ein Ding, das Abreisenden hinterher blinkt, gute und heile Fahrt wünschend? Weist es dem Heimkehrenden Einfahrt in den längst vergessenen Heimathafen? Oder hält das Blinkding dem Fremden eine gastliche Türe auf? Oder leuchtet die Warnung den fliegenden Holländern vor den heran segelnden Bug? „Weilet weiter draußen, auf Euren verfluchten Kähnen! Hier an den Öfen unserer Gemütlichkeit mag Eure Unruhe oder Eure Gier keinen Platz mehr finden.“ Und der Fliehende? Wendet er seinen Blick ein letztes Mal und sieht froh entschwinden, was er verlassen mag auf ewig? Dieses letzte Zucken eines sich drehenden Lichts? Trübselige Tränen befeuchten seine Augenwinkel dennoch? Und der Rückkehrer? Maschine stop! Alle Kraft rückwärts! Arme ausgebreitet aber auch? Draußen ruft die See! Wie schön! Wie ungewiß! Die Angst! Das ist gewiß!

Man spricht inzwischen schon von weltweiter Lichtverschmutzung. Ein Leuchtturm aber trägt daran keine Schuld. Es sind die Nachahmer! Bald wird man kein Licht mehr erkennen können. Vielleicht schon heute. Herr Mahler, der letzten Sommer eine Karriere als Schleusenwärter anstrebte, möchte lieber kein Leuchttürmer sein. Lieber sich von ungewissen Winden an die Ränder treiben lassen. Selbst wenn die Erde eine Scheibe wäre und man dort hinunter plumpst. Die Ungewißheit!

Die Sonne strahlt über Holtenau. Die Förde lacht breit und einladend. Man könnte – fest im Glauben – fast zu Fuß nach Laboe rüber laufen. Archibald Mahler weiß immer noch nicht, wo sich des Herrn Albert Hotel befinden will. Hier? Dort? Drüben? Da unten? Oder gar nicht? Ungewißheit. Die Irritation hält sich aber in Grenzen. Da erreicht den Bären die Nachricht. Eine der Möwen kreischt ihn persönlich an. „Are you talking to me?“ Ein weißer Hase läge, unweit von hier, am Ufer. Hat der den Leuchtturm übersehen? Hat der Leuchtturm ihn übersehen? Verlor der Hase seine Brille? Ungewißheit! Ansonsten wäre heute nur ein gewöhnlicher Samstag. Kann der Herr Archibald Mahler eigentlich schwimmen?

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Thema: Aufbrüche 2015, Kieloben | Kommentare deaktiviert | Autor: Christian Lugerth