Kleines Abbes Bein II / Der Weg ins Nichts

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“Die besondere Aufgabe des Geheimnisträgers ist es seinen Stamm zu schützen und dies nicht vor seinen äußeren Feinden, sondern auch vor sich selbst!”

Klecker Petras mahnende Worte vor Augen saß ich in der Schlucht, in welcher ich damals Abschied genommen hatte von meinem Vater, meiner Schwester und dem weisen Medizinmann meines Stammes. Wieder sollte die Schlucht uns Schutz gewähren. Ich blickte in den gnädigen Nachthimmel, welchen Manitou über den letzten, wild bewegten Tag gespannt hatte und spürte die Kräfte in meinen Körper zurückkehren. Die GRAUE WOLKE kratzte nur noch leicht an den Rändern meines Bewusstseins. Old Schmetterpfote hielt die Wacht. Ich sah, daß die ewigen Schatten der Vergangenheit seinen Atem schwer werden ließen.

„Mein Bruder ist müde. Kleines Abbes Bein ist wieder bei Kräften. Er wird die Wache übernehmen. Old Schmetterpfote möge sich ausruhen. Ich höre, daß die alten Tage schwer auf seiner mutigen Brust lasten.“

Ja, die Erinnerungen, die diese Schlucht, die dem Stamme der Kamschatka – Bear seit je her als Rückzugsort diente, für mich bereit hielten, sie waren von tiefer Traurigkeit und bleiernem Gewicht. Hier hoffte ich damals auf heile Rückkehr, hier vernahm ich die tödlichen Schüsse, hier verlor ich eine Liebe, von hier aus brachen wir auf, um zu spät zu kommen. In meinem Schmerz betete ich um Schlaf und der Große Geist erhörte mich. Düstere Gestalten ritten durch meinen Traum, sanft fasste „Schöner Tag“ meine Hand, ihr schwarzes Haar strich mir über die Lippen, die ein fernes Lied sangen, ein Lied, welches noch nicht war, aber eines Tages werden würde, geschrieben und gesungen von einem, der diese Geschichten gelesen haben würde, mit Freunde und Verstand. Es war ein tröstendes und trotziges Lied. Ein einfaches Lied, gespeist von Hoffnung und liebevoller Naivität.

Das Besondere am Geheimnis der Kamschatka – Bear ist das Vergessen. Ein Kamschatka – Bear weiß um die Gespenster der Gier und um die ewige Unruhe der Erdenbewohner. Er weiß um das verhängnisvolle Funkeln in den Augen derjenigen, die einen Blick auf den Schatz geworfen haben. Er weiß um die Haltlosigkeit, die atemlose Besinnungslosigkeit derer, die aufgebrochen sind den vermeintlichen Schatz zu heben, von dessen Existenz sie meist nur durch ein vages Flüstern vernommen haben. Die Kamschatka – Bear aber wissen um die Unabdingbarkeit des Großen Verzichts, den sie wissen um sich selbst .

Ein zweites Mal ward mir das abbe Bein abgerissen und wieder angenäht worden. Die Kühle der Nachtluft linderte das Pochen der frischen Narbe. Kinky Claude hatte mir das Geheimnis entrissen. Doch es bestand keine Gefahr. Sie würden den Schatz nicht finden, weil der Schatz sich nicht dort befindet, wo sie ihn vermuten, weil selbst die, die den Schatz einst vergraben haben, all ihre Anstrengung darauf verwandt hatten, zu vergessen. Und vielleicht wissen wir sogar, daß der Schatz nirgends existiert als in den wund gehofften Hirnen der Unruhigen. Und dennoch hat auch in dieser Nacht der Schnitter sein Pferd bestiegen und hielt reiche Ernte unter den Verblendeten und den Unschuldigen. Neben mir lag Old Schmetterpfote und über seine schlafenden Lippen kroch ein Lied. Ich vernahm die Worte.* Ich weckte den Gefährten.

„Mein Bruder, es ist Zeit die Schlucht zu verlassen. Wir beide wissen, wo wir den Feind finden werden. Der Kampf geht weiter!“

„Der Häuptling hat recht. Manchmal jedoch wünschte ich mir in den Weiten der Prairie mehr Unvorhersehbarkeit!“

„Ich verstehe die Wut meines Gefährten. Doch auch im Schmerz ist es nicht ratsam, die Götter zu versuchen!“

(Fortsetzung folgt)

*Die Worte des Liedes, welches Old Schmetterpfote in der Nacht in der Schlucht sang, waren einst abgedruckt auf Seite 90 des Werkes, welches anno 1985 im FATA MORGANA – Verlag zu Berlin erscheinen würde. Seit einigen Jahren jedoch bleibt diese Seite aus unerklärlichen Gründen leer. Wir reichen sie im folgenden nach.**

**Als ich in jener schlaflosen Nacht über die kalten Straßenlaternen und neonbleichen Häuserreihen hinweg in den klaren Winterhimmel schaute, fiel mir ein Stern auf. Er gefiel mir und je länger ich ihn betrachtete desto größer und deutlicher wurde er für mich. Durch seine leuchtende blaue Atmosphäre konnte ich Meere und Kontinente erkennen.

Ich sah Urwälder, die wie eine schützende Hand das Land bedeckten, Gebirge, in deren schneeüberzogenen Gipfeln sich die Mittagssonne bricht wie in einem kostbaren diamanten. Flimmernde Wüsten, in denen nur der Wind wohnt, Flüsse, die breit und schwer wie die trägen Gedanken eines Sommernachmittags dahinfließen.

An ihren Ufern wogende Getreidefelder, vom Duft schattiger Obstgärten erfüllte Luft.

Dann sah ich sie, ihre Haut war braun, manchmal heller, manchmal dunkler, sie pflügten die Erde, bestellten die Felder, bauten Brücken aus seltsamen Metallen. Manche schwebten in schimmernden Kugeln durch die Luft. Ich sah sie in der Sonne liegen, sah sie tanzen, hörte ihre Gesänge, spürte ihre Liebe.

Dann sah ich ihre Städte. Städte, deren Schönheit ich nicht beschreiben kann. Städte ohne Hass und ohne Hast und ich sah keine stickigen Hinterhöfe, keine rasenden Blechkisten, keine verhungerten Kinder und niemanden auf den eine Waffe gerichtet war.

Ich sah keine marschierenden Truppen, keine Bomben werfenden Flugzeuge und ich sah niemanden, der Geld zählte.

Ich sah fröhliche Gesichter und sah traurige Gesichter, aber nirgendwo begegneten mir hoffnungslose Blicke.

Das Bild zerriss. Und da war nur noch die klare Dezembernacht mit ihren Tausenden von Sternen.

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Autor: Christian Lugerth
Datum: Donnerstag, 6. August 2015 21:32
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