POST AUS LITAUEN / NOCH MEHR POST

Lieber Herr Mahler!
Bin jetzt da, am Ende der Welt. Oder da wo alles anfing. Ist ja oft dasselbe. Haben Sie zumindest einmal behauptet. Es ist die Ruhe. Meine Füße im Sand und in meinen Ohren das unablässige Rauschen des Windes und die Schreie der Möwen. Wie viele das sind. Kann man nicht zählen. Zählt hier auch keiner. Die Aufrechtgeher hier sind fast schon Menschen. Die haben keine Lust Möwen zu zählen. Die sind auch so da. Die müssen aufpassen hier wegen der riesigen Dünen. Manchmal stand hier früher ein Dorf oder Fischerhütten. Jetzt ist das weg. Sand drüber. Und immer der Wind. Mal vom Land über das kleine Meer, das sie hier Haff nennen und dann wieder von draußen, vom Großen Meer. Hin und her. Die Möwen steigen auf und spielen mit dem Wind. Dann nimmt ein Fischer einen Hecht aus. Jetzt sollten Sie mal die Möwen hören, wie die schreien. Da möchte man auch mal fliegen können. Es ist so schön hier. Im Sand gehen ist anstrengend. Aber der Sand lebt. Überall kleine Blumen, Moos, Flechten. Habe ich noch nie gesehen. Irgend jemand knabbert wohl immer an den Flechten herum. Fällt mir gerade auf. Der Wind dreht. Jetzt weht er vom Westen her. Jetzt suche ich das Große Meer. Ist bei Ihnen schon Herbst?
Herzlichst Ihr treuer Herr von Lippstadt – Budnikowski
WASTELANDS ODER VON TÄGLICHEN BAUSTELLEN DES MORALISCHEN / ZEHN

Heute ist Archibald Mahler benommen und verwirrt. Warum? Weil er das Lied hören möchte? Weil es morgens kalt ist, mittags warm und abends wieder kalt ist? Weil die Aufrechtgeher an jeder Ecke Tafel und Schilder aufstellen? Weil das eine Schild vor der anderen Tafel warnt und diese auf ein drittes Schild hinweist, welches die vierte Tafel aufhebt außer zwischen achtzehn und neunzehn Uhr, aber dies nur am Samstag, doch nicht wenn der Samstag ein ungerader Tag ist? Und weil bei Vollmond gar keine Tafel gültig ist, außer wenn der Papst kommt? Weil er nicht weiß, was das überhaupt ist: ein Papst und ob man das essen kann, ohne daß einem Bären schlecht wird? Weil der Winterschlaf schon wieder vor der Türe rumlungert? Weil der Schlamm ihn immer noch anglotzt und kein Bagger kommt? Oder bringt der Papst den Bagger mit? Aber wenn es den Papst gar nicht gibt oder man nicht weiß was das ist oder soll, dann bleibt der Schlamm für immerhier liegen und stinkt? Ist das vielleicht der Sinn eines Papstes: den Schlamm für immer liegen zu lassen und für immer entschuldigt zu sein, weil der Papst vergessen hat die Bagger zu schicken? Und an was glauben die Aufrechtgeher so? Oder ob man das überhaupt muß? Das Glauben an etwas? Und die Schilder und Tafeln? Wer schreibt da was drauf? Und die, die da was draufschreiben, glauben die dran? Oder malt der Papst die Schilder? Aber wenn es den doch gar nicht gibt, wer besucht dann dieses Land und warum spielen alle verrückt und geben Geld aus für den Besuch eines Phantoms? Geld mit dem man eigentlich Bagger kaufen könnte, um den ganzen Schlamm wegzubaggern? Und an was glaubt eigentlich Archibald Mahler, Bär vom Brandplatz? Und selbst wenn Archibald Mahler, Bär vom Brandplatz, das wüßte, ginge das überhaupt jemanden etwas an? Gibt es einen Papst für Bären? Und kommt der aus Kamschatka? Oder aus Wyoming? Was jetzt und warum? Archibald Mahler beschließt zu beichten. Er ist heute einfach nur benommen und verwirrt, weil er dieses Lied noch mal hören will. Und morgen – fest versprochen – macht er einen Plan. Wegen dem Schlamm. Ähem: wegen des Schlammes! Oder?
WASTELANDS ODER VON TÄGLICHEN BAUSTELLEN DES MORALISCHEN / NEUN

Archibald Mahler schaut auf. Da drüben steht was. Da steht was, auf dem was steht. Was steht da? Tafel. Schild. Plakat. Was steht drauf? Es steht drauf, daß hier, also jenseits der Tafel, des Schildes, des Plakats, die Kleine Häßliche Stadt baue. Kann eine Stadt etwas bauen? Man erbaut sie, gewiß, aber sie, die Stadt als Baumeisterin ihrer selbst, ihres Selbst? Und das, obwohl hier draußen gar nichts geschieht? Nichts zu bemerken ist außer dem morgendlichen Wabern des Frühherbstnebels? Kalt ist es zudem auch noch. Pöterkalt! Dieses stört Herrn Archibald Mahler, mittelhessischer Baudezernent in spe und designitas, jedoch heute ausnahmsweise nicht. Wie unlängst erwähnt: die Kälte mildert den Hirnschmerz und fördert das Gedenke. Aber diese Paradoxien der Aufrechtgeher. Weia und Jeminus! „Hier baut die Stadt!“? Blödblöd. Wie baut eine Stadt? Oder wer baut überhaupt und was? Nicht einmal mehr die zwei quatschenden Schaufelhalter stehen am Ufer des Schlammlochs. Nachdenken also. Von vorne. Archibald Mahler schaut auf. Da drüben steht was. Da steht was, auf dem was steht. Was steht da? Tafel. Schild. Plakat. Was verkündet man? Absichten? Hoffnungen? Vor was warnt man? Erwartungen? Rechnungen, die noch zu begleichen sind? Was geschieht? Nichts und Nebel! Warten und Wüsten! Archibald Mahler blickt hinunter ins Loch. Man hatte geschaufelt. Dort steckte der versunkene Bagger. Man hatte ihn befreit. Zurück blieb das Loch. Und Absichtserklärungen. „Ganz sicher. Gewiß. Hundertprozentig.“ Oder besser noch: „Hundertpro!“ Für einen Bären eigentlich ein Grund den Pöter von der Sitzgelegenheit zu schälen und weiterzuwandern. Denn dort wo der Aufrechtgeher Ankündigungen in die erwartungsfrohe Luft hält, wartet ein Bär doch nur auf Godot und verkühlt sich dabei den Pöter. Sonst? Schön hier. Kastanien fallen. Schlammkruste bricht. Frösche springen nicht mehr. Zu kalt. Gelegentlich steht eine Ente am Ufer. Sie schaut. Sie schnattert. Sie begreift nicht. Archibald Mahler denkt darüber nach eine Tafel zu mahlern. (Vorsicht! Wg. Niveau! Gruß vom Säzzer!) Was könnte auf der Tafel stehen?
„Die Stadt, die hier das Bauen versucht und es bald mal tun täten möchte wollen wird, bittet alle Enten und Variationen von Enten um Nachsicht!“
Na ja! Besser keinen Plan. Denkt der Bär. Godot kassiert die Absicht ohnehin. Aber was ist mit der Vorbereitung auf den Winterschlaf?
WASTELANDS ODER VON TÄGLICHEN BAUSTELLEN DES MORALISCHEN / ACHT

„Und Gott segnete den siebenten Tag und heiligte ihn, darum daß er an demselben geruht hatte von allen seinen Werken.“ Oder wie man einstens rief: „Sonntags gehört mein Hirn mir!“ Pustekuchen und Potzrembel die Waldfee! Archibald Mahler fand die Ruh’ nicht zur Ruh! Ja, Freunde des Betrachtens: die Kastanie ist es. Noch und wieder! Der Schmerz und die Dumpfheit sind verflogen, doch es bleiben die Fragen. Man erkundigt sich beim Bären, woher die Kastanie, wann die Kastanie, mit welcher Wucht die Kastanie, ob sie denn selbstständig oder geworfen, beschleunigt oder ihr unschuldiger Flug ans Hirn des Bären abgelenkt wurde von fremder Macht, ob der Bär gar simuliere und Lustlosigkeit am Denken ihn diese Kastanie gar freudig begrüßen ließ, er sich im Leide einrichte und so willkommenen Rückzug feiere, ob denn die Ärzteschaft geschaut und bewertet und befunden und vielleicht nicht doch besser es wäre, wenn er anvertraut einem Spital und dann das Gewissen noch, das eigene, schlecht gestimmt ob des verpaßten Tuns und letztlich auch, ob er denn nun gefasst, ob es ihn gäbe – nun wen? - nun ja den Schuldigen, den Kastanientäter und würden denn nun die Warnschilder endlich aufgestellt. Man bezahle schließlich Steuergelder. Auf jeden Fall die Stirn der Fragesteller ernst gefurcht und Archibald Mahler sorgt sich also mit, emphatiert mit dem Mitleide ob seines Leidens und verfaßt eine kurze Pressemitteilung.
„Also: Doppelpunkt: Wie die Woche letzten Montag begann und die Kastanie des Abends fiel mit Wucht auf meinen Schädel, hat es weh getan. Sehr weh. Jetzt ist es vorbei. Die Kastanie kam von oben. Das weiß ich. Genauer von hinten und oben. Warum? Fragen Sie die Kastanie. Was ich weiß: die Luft stank nach Adrenalin an jenem Montagabend. Ich hatte kurzfristig die Warnungen meiner für ihre Empfindlichkeit durchaus bekannten Nase in den Wind geschlagen. Dem Wind war das egal, er pustete und dann fiel die Kastanie und ich kurz um. Aber ich habe mir noch keinen Helm gekauft. Vielleicht leihe ich mir morgen einen Schirm. Die sind ja zur Zeit in Mode und versprechen Errettungen aller Art. Jetzt muß ich aber wieder denken. Oder erst mal hinschauen. Vielen Dank den Nachfragern, aber vom Weh zu reden ist einem Bären Pein!“
Archibald Mahler schaut nach oben. Ein wenig zwanghaft, gewiß! Der Wind weht. Äste schwanken, Früchte blicken sehnsüchtig gen Boden. Gravitation rules ok! Ein bißchen fühlt der Bär sich heute noch wie ein Erdmännchen auf Wachposten. Alles Gute käme von oben, wird gesagt. Archibald zweifelt! Vielleicht sollten die Götter doch an den Tischen der Erdbewohner Platz nehmen und was oben ist, bleibe oben. Regentropfen fallen. Kühle Luft beißt in des Bären Pelz. Das gefällt ihm. Den zwei Aufrechtgehern mit den Schaufeln, die auf der anderen Seite des Schlammloches vor sich hinquatschen, offenbar nicht. Weg sind sie. Sie hinterlassen die mitgebrachten Warntafeln. Archibald Mahler kneift die Augen zusammen. Was vermelden die Warntafeln? Nee? Nicht wirklich? Aber lustig ist es schon, was da steht. Archibald Mahler nimmt drei Kastanien vom Erdboden auf und beginnt zu jonglieren. Ganz langsam. Ganz vorsichtig. Wenn eine runterfällt, gibt er sich selber ein Schälchen Met aus. Versprochen! Uff! Cheerio!
POST AUS LITAUEN / NOCH `NE KARTE

Lieber Herr Mahler!
Satz mit X, war wohl nix mit den Langen Kerlen und dem göttlichen Dirkules. Ich runter vom Schiff, die rauf im Gegenzug und ab nach Hause. Ich blöd geguckt, raus aus dem Hafen, einziges Taxi geschnappt und dann stand ich erst mal rum. Hier wird die Zeit wohl noch etwas anders gemessen. Vor mir ein unendlich langer Güterzug, der sich zum Rangieren bereit gemacht hat. Er tat es aber nicht. Der Taxifahrer fluchte laut und das sogar auf Deutsch. „Sch…!“ sagte er und lachte und dann war auch er plötzlich ganz traurig, weil die Langen Kerle aus Litauen auch aus dem Turnier geflogen sind und das daheim. Weia, wie Sie immer sagen. Ich denke, dann fahr ich eben weiter zum Ende der Welt. Mit einem litauischen Taxifahrer ist dies durchaus möglich.
Herzlichst Ihr treuer Herr von Lippstadt – Budnikowski
WASTELANDS ODER VON TÄGLICHEN BAUSTELLEN DES MORALISCHEN / SIEBEN

Die Kontümplation geht weiter! Was ist denn nun Causa oder Ursprungsort größerer Erschütterung? Das Innere? Das Äußere? Archibald Mahler kann ein kleines Liedchen davon pfeifen, wie eine intensive Denksitzung zu fundamentaler Erschütterung führen kann. Doch worüber wird gedacht? Eingelagertes? Frisch auf einen Eingestürztes? Das Übliche an Resten und Unverarbeiteten? Ein vorbeihuschender Radfahrer? Und was ist mit der Kastanie? Archibald Mahler befühlt ganz vorsichtig die Beule, welche die vor wenigen Tagen auf seinen Schädel gekrachte Kastanie hinterlassen hat! Eine Beule! Aha, das Äußere? Und in den Innereien? Ein schwammiges Unwohlsein in der Magengegend, ein Schwanken beim Fassen der Gedanken und hinter der Hirnschale dumpfdödeliger, leichter Druck. Die Herbstluft ist klar und kühl und mildert. Doch man sollte den Kopf nicht allzu schnell drehen, weder nach rechts, noch nach links. Ach ja, die Ausgewogenheit. Archibald Mahler, angehender Schlammb-Experte, verfällt kurz mal in Panik. Variante B, der Ausgewogenheit wegen:
„Hast Du das gehört? Unfaßbar! Das so etwas überhaupt möglich ist! Das hätte man doch verhindern müssen. Ich hab es doch gewußt! Ich hab es immer schon gewußt! Diese Wahnsinnigen! Die setzen doch alles aufs Spiel? Sind Deutsche unter den Opfer? Was ist mein Geld denn jetzt noch wert? Um jeden Scheiß kümmern die sich, aber ihre eigenen Bürger schützen? Bin ich denn der Zahlmeister? Hol die Kinder vom Spielplatz, schmeiß die Gurken in den Müll, wasch das Auto und stell es ins Schlafzimmer! Wir müssen das Bier abkochen, bevor wir es trinken. Und was ist mit unserem Herbsturlaub? Außerdem finde ich, daß es jetzt endlich an der Zeit ist diese ganzen Kastanienbäume ein für alle mal zu fällen. Wer braucht eigentlich Kastanien? Siehste! Diese Frage kann Dir wieder niemand beantworten! Aber Tempolimits einführen. Um die Freiheit war es in diesem Land auch schon besser bestellt. Ist Dir auch schon so schlecht? Gell! Seit zwei Tagen, seitdem man es weiß? Obwohl ich allergiegestestet jogge. Da kann man mal sehen. Vorsicht! Nicht so tief einatmen. Dann steigt der Innendruck. Weißt Du was, ich habe ja jetzt eine Erdmännchenkolonie in meinem Garten. Die passen auf. Da können die Scheißkastanien runterfallen, wie sie wollen. Ich werde gewarnt, wenn was von oben kommt. Und was das wieder kostet. Aber das schreib ich ab von der Steuer. Wenn ich nächstes Jahr überhaupt noch!“
Uff! Das war ja was. Ausgewogenheit ist auch nur eine mentale Bausünde. Denkt sich der Bär. Was machen eigentlich die Aufrechtgeher und ihre Schaufeln? Sieh an, man stellt Warntafeln auf. Welche Gefahren sind es denn heute, die da draußen lauern? Outside the head? Inside the head? Laßt mich erstmal allein!
WASTELANDS ODER VON TÄGLICHEN BAUSTELLEN DES MORALISCHEN / SECHS

Immer noch am Rande des Hegeltümpels. Vom Weltgeist nichts Neues. Vielleicht das brachiale Gewitter zum Gedenken am letzten Sonntag? Nein! Nicht Neues mehr. Der ganze alte Schmodder also wieder ordentlich angefeuchtet. Die Aufrechtgeher mit den Schaufeln stehen bis an die Knie im Schlamm und bewegen weder sich noch ihre Schaufeln. Selbstredend (sic!) bewegen sich die Lippen. Unentwegt. Archibald Mahler ist gestern eine Kastanie auf den Kopf gefallen. Das kommt vom konzentrierten Zuschauen und dem Warten auf den Bagger. Wegen der Kastanie, die recht wuchtig den Bärenschädel durchgerüttelt hatte, sind Mahlers Synapsen heute eher philipp. Quatsch: lahm. Aber denken will er trotzdem heute. Rastender Denkkasten rostet. Ach: anstrengend. Ihm fällt kein Kommentar ein zur Tümpellage. Er entscheidet sich eine Aufrechtgehervariante zu wählen. Im Angebot: Angang A (Verdrängung) oder Weg B (Panik). Archibald sagt A.:
„Also mich stört es nicht wirklich! Ja, was soll man da machen? Da steckst Du nicht drin! Wird sich schon wer drum kümmern! Hallo? Auf mich hört doch sowieso keiner! Kann doch keiner wissen, daß das so schnell geht! Ich mein, gestern war noch überhaupt nicht zu sehen! Und wenn, was hab ich damit zu tun! Außerdem hab ich einen wahnsinnigen Durst! Wann spielt der BVB? Man muß ja nicht immer hingucken. Dann mischt man sich ein und ruckzuck hast Du Ärger am Hals. Schuster bleib bei Deinen Leisten! Denen da oben sind wir doch sowieso wurscht. Ich hab zuhause genug Theater. Hab gar keine Zeit mich aufzuregen. Ist auch nicht gut fürs Herz. Hey, was geht heute noch? Einfach mal chillen, ok? Immer der Streß. Da war ich noch gar nicht geboren. Hallo? Ich mach doch nicht den Job von anderen! Wer zahlt mir das? Wär ja noch schöner, der Dreck von anderen. Kannste eh nix machen! Denk ich mal! Reg Dich ab! Also mich stört es nicht wirklich!“
Nee? Nicht wirklich! Morgen will es Herr Mahler mal mit B versuchen. Ausgewogenheit muß ja sein. Oder?
WASTELANDS ODER VON TÄGLICHEN BAUSTELLEN DES MORALISCHEN / FÜNF

Heute ist Sonntag. Schwülwarm. Sommernachhall fast schon wütend und grell. Schweres Gewitter. Heute ist nicht irgendein Sonntag. Sagen die Aufrechtgeher. Manche Aufrechtgeher. Archibald Mahler, Bär vom Hegeltümpel, ist nachdenklich. Er spürt, heut’ ist er nicht so allein beim Denken. Die Aufrechtgeher denken heute auch, nach denken sie und gedenken tun sie. Manche Aufrechtgeher. Sie gedenken, weil ein besonderer Tag, der damals vor zehn Jahren. Die Welt verändert sei mit diesem Tag. Falsch! Denkt der Bär! Natürlich nicht das Nachgedenken, wenn es sich nicht in der gräßlich eitlen, verständlich dummen, aber leider opferverhöhnenden Frage „Wo war ICH damals?“ erschöpft. J. F. Kennedy ist tot, das dritte Tor war keines, die britische Prinzessin blieb im Tunnel stecken und Woodstock im Schlamm. Alle Aufrechtgeher waren einstens dabei und Kevin mal wieder allein zu Hause. Weia und nochmals: falsch! Es gibt ein paar Protagonisten und übrig bleiben ganz viele Statisten. So ist das. Zurück zum besonderen Tag. Archibald Mahler denkt noch mal nach. Die Welt hat sich verändert? Das geht doch gar nicht. Weil sie ist, wie sie ist, geschieht, was geschieht. Wenn man keine Zeit oder Lust hat hinzuschauen, kann man doch nicht behaupten, da wäre etwas vom Himmel gefallen. Oder? Ohnmacht gärt, Wut gärt, Wahnsinn gärt. Leise vor sich hin. Gelegentlich blubbern Vorzeichen an die Oberfläche. Wie der Schlamm, auf den der Bär blickt. War nicht zu sehen, aber immer da. Manche Aufrechtgeher wußten es, manche Aufrechtgeher sprachen davon, der Rest mußte leider shoppen gehen oder einfach nur versuchen zu überleben und solang man selber nicht im Schlamm steckt ist das mit dem Hinschauen oder gar Zuhören eine etwas komplexere Angelegenheit. „Mein Gott! Was für ein Gewitter!“ Denkt sich der Bär. Und dann denkt er, daß, wäre er jetzt ein Aufrechtgeher, er darüber nachdenken müßte, warum dieses Gewitter so heftig ist. Weil Tag und Nacht die Lichter brennen? Weil die Kassen, die nicht klingeln, suizidgefährdet sind? Weil die eine Welt und das eine Denken nur das Denken einiger und nicht das der einen Welt ist? Wie geht es eigentlich Herrn Busch? „Wir werden sie finden. Und wir werden sie bestrafen!“ Weia! Sie pusten sich gegenseitig in die Luft – Auge um Auge, Zahn um Zahn, Kassenbrille um Kassenbrille, Gebiß um Gebiß, Gebetsbuch um Gebetsbuch – und dann legen sie Teddybären auf die Gedenkstätten ihrer Toten. Archibald Mahler beschließt sich niemals als Opfergabe mißbrauchen zu lassen. Man hat ja noch was vor! Heute ist Sonntag. Heute stinkt der Schlamm. Heute wird gestorben. Heute ist weiterhin ein guter Tag. Für den Bären am Hegeltümpel. Glück gehabt!
POST AUS LITAUEN / ‘NE ANSICHTSKARTE

Lieber Herr Mahler!
Ich bin nicht so schnell voran gekommen wie geplant. Mal schauen, ob ich die Langen Kerle noch sehen kann da drüben in Litauen. Aber ist bin auf dem Schiff und über die Ostsee pfiff die ganze Nacht ein Sturm und drückte das Wasser sogar durch das Bullauge meiner Kabine. Ein wütender Gegenwind war das. Kennt man als Landhase so nicht. Die Maschinen stampfen konzentriert und das Schiff muß ja auch fahren. Sehr langsam fährt die Fähre! Und das Bier schmeckte gestern abend und mir war kaum schlecht, auch wenn die Koje schaukelte. Heute morgen scheint die Sonne. Da hinten ist Land. Ich muß mich konzentrieren. Nächsten Samstag melde ich mich wieder.
Herzlichst Ihr treuer Herr von Lippstadt – Budnikowski
WASTELANDS ODER VON TÄGLICHEN BAUSTELLEN DES MORALISCHEN / VIER

„Die Ampel war rot. Die zwei Aufrechtgeher trugen nicht nur Schaufeln in ihren Händen, sie sprachen während sie gingen, rauchten, aßen mit Wurst belegte Brötchen, sprachen in Mobilfunkgeräte, lasen die BILD – Zeitung, lachten über einen dreckigen Zweibeinerwitz über Aufrechtgeherinnen ohne großes I und griffen sich gelegentlich im Rahmen einer korrigierenden Maßnahme in den Schritt. Da kann man nicht sehen, wenn eine Ampel rotes Licht strahlt. Muß man es sehen? Muß man das Licht sehen? Die kleine Straße lag frei und leer vor sich hin, kein fahrendes Ding in Sicht der zwei Schaufelträger und warum sollten sie dann? Das Gehen durch Städte, Orte und über Wege und Straßen kostet soviel Zeit, Zeit in der man gehend sprechen, rauchen, Wurstbrote kauen, BILD – Zeitung lesen, lachen und überhaupt machen kann und den Schritt sortieren. Es ist ein freies Land und es gibt keinen Grund am Rande eines Zebrastreifens eine öffentliche Gelassenheitsvorführung hinzulegen. Wer meditiert, verliert. Ein Bürger wehrt sich gegen Bevormundung. Dies ist die Pflicht. Einsicht in die Notwendigkeit ist ab heute: keinerlei Notwendigkeiten mehr zuzulassen. In der Not zählt es im wesentlichen wendig zu sein. Harhar! Das Haltbarkeitsdatum der Wurst auf den Mobilfunkbrötchen wird bald abgelaufen sein. Ebenso der Gag des eben erzählten Witzes und auch der Schritt wird altern. Ein Kind folgte den Schaufelmännern. Es schob einen Rollator vor sich her. Mama hatte dem Kind gestern erzählt, daß man vorsorgen müsse. Für das Alter. Und auch so. Die Welt sei schlecht. Und daß man keine Zeit vertrödeln solle. Als Kind mit einer zukünftigen Zukunft mit Zukunft schon gar nicht. Die Welt sei hart. Sagte die Mama. Das Kind schwitzte. Blickte auf. Da vorne gingen zwei Aufrechtgeher über die Strasse. „Ich auch!“ Das Kind rannte los. Ein Rad des Rollators klemmte. Das Kind stolperte. Und dann bog da doch noch ein Fahrgerät um die Ecke. Soll es halt aufpassen! Das blöde Kind! Haben wir früher doch auch gekonnt!“
Archibald Mahler war eingenickt. Gestern war es kalt gewesen. Heute wieder feuchter und warmer Wind aus dem Süden. Kreislaufhopping. Blöd! Seltsame Träume aber auch. Vielleicht sollte er den Teich wieder umbenennen. In „G.W.F. Hegel – Tümpel“? Vielleicht. Da vorne stehen die zwei Aufrechtgeher im Schlamm. Schaufel rechts. Schaufel links. Nichts bewegt sich. Doch. Die Lippen der Aufrechtgeher. Man sollte, könnte, würde dann. Wenn der Schlamm getrocknet. Der Bär winkt ihnen zu. Irgendwo heult die Sirene eines Krankenwagens. Einer der Schaufelträger erzählt noch einen Witz ein. Junge, Junge! Da fällt Archibald Mahler, hic et nunc Bär am Hegeltümpel, ein neuer Traum in den Schoß. Mein Gott, ist das ein alter Traum.