Beitrags-Archiv für die Kategory 'Anregende Buchstaben'

SAMUEL B. ERBARMT SICH DES NACHTS HERUMLIEGENDER BUCHSTABEN

Mittwoch, 20. Oktober 2010 9:03

beckett2

Neben, unter und auf dem Bücherregal, von dem aus Archibald in die Nacht schaute und verdaute, lagen etliche herrenlose Buchstaben herum. Sie waren am großen Sieb des großen Samuel B. vorbeigefallen und etwas verwirrt. Wer mit welchen anderen Buchstaben sinnvolle, erheiternde oder auch einfach nur belanglose Wörter oder Sätze bilden sollte, das war ihnen im freien Fall entfallen. Da konnten die leeren Buchhüllen, zwischen denen die meisten von ihnen lange Jahre ein Zuhause gehabt hatten, noch so aufgeregt nach ihnen winken, um sie zur Rückkehr zu bewegen. Heimatlosigkeit machte sich breit zu Füßen des Bären. Über seinem Schädel und Denkapparat schwebte gnädig und verschmitzt der adlernasige Herr B. und freute sich an dem Chaos. Archibald fand es auch gut. „Kein Sinn macht mehr Sinn.“ Das dachte er und regte sich im selben Moment darüber auf, eine gänzlich dumme und komplett gedankenlose Aufrechtgehersprechblase nachgeplappert zu haben. „Sinn machen!“ Als ob man einen Sinn machen könnte. Falls es so etwas wie Sinn außerhalb der Notwendigkeit von Thunfischpizzen, Heidelbeermarmelade und Honigkuchen überhaupt gibt, kann dieser nämliche Sinn bestenfalls einer Sache, einem Ausdruck oder einer Handlung anheften. Und der Sprecher oder Handelnde transportiert so etwas wie Sinn, sprechend, handelnd. Und die Essenz von Sinn entsteht sowieso erst beim Rezipient. Denn man kann noch so Gescheites in die Welt setzen, wenn keiner zuhören will oder kann, ist dies was bleibt, ein großer Haufen Verdautes, den man ins Gebüsch gesetzt hat. Es riecht streng. Und sonst nichts.

Der Bär blickte hinauf zur Adlernase. Das Gewimmer der heimatlosen Lettern macht ihn doch etwas nervös. Was wäre eine angebrachte Bestattungsform für herrenlose Ex-Gedanken? Ist das Biomüll, weil noch letzte Reste von Leben drin rumzucken? Einäscherung? Oh nein, sehr ungute historische Assoziationen. Seebestattung? Keine Ahnung. Herr Samuel B. half dem Denkbärchen. Mit bedächtigen und spitzen Finger griff er Buchstabe nach Buchstabe und begann mit ihnen zu spielen. „Endlich!“ Das dachte der Bär. Und das kam beim Spiel des Herrn Samuel B. heraus: „Er nimmt seine Kappe ab. Friede unseren … Ärschen! Pause. Und wieder aufsetzen. Er setzt seine Kappe wieder auf. Null zu Null. Pause. Er nimmt seine Brille ab. Putzen. Er zieht sein Taschentuch heraus und putzt damit, ohne es auseinanderzufalten, seine Brille. Und wieder aufsetzen. Er steckt sein Taschentuch wieder in die Tasche und setzt die Brille wieder auf. Es kommt. Noch ein paar Albernheiten wie diese und ich rufe. Pause. Ein bißchen Poesie. Du riefest nach… Pause. Er verbessert sich. Du flehtest nach der Nacht; sie kommt… Pause. Er verbessert sich. Sie naht; sie ist schon da. Er wiederholt es mit singendem Ton. Du flehtest nach der Nacht; sie naht: sie ist schon da. Pause. Schöne Stelle.“

Archibald war eingenickt. Weil die Stelle so schön war. Und als Ernst Albert am nächsten Morgen seinen kleinen Genossen schlafend unter dem Porträt seines verehrten Herrn Beckett liegen sah, neben ihm das ‚Endspiel’, aufgeschlagen auf den Seiten Einhundertachtundzwanzig (französisch) und Einhundertneunundzwanzig (deutsch), da weckte er den Bären. „Komm mit, Archibald!“ „Was tun?“ „Schauen!“ „Wo?“ „Auf der anderen Seite der Straße.“

Thema: Anregende Buchstaben, Archibalds Geschichte | Kommentare deaktiviert | Autor: Christian Lugerth

DIE NACH OBEN OFFENE MAHLER-SKALA

Dienstag, 19. Oktober 2010 7:46

beckett

Und plötzlich war ihm, als sei der Himmel über seinem Kopf weggeflogen. Vielleicht kommt das davon, daß man gleichzeitig auf der Heizung sitzt und denkt. Ein im ersten Moment etwas seltsames Gefühl, welches sich aber innert kürzester Zeit als sehr angenehm entpuppte. Der Pöter glühte, der Kopf war dennoch kühl. Er wechselte den Platz. Er saß nun auf einem der Bücherregale in Ernst Alberts Arbeitszimmer. Seine Nase umschwirrten Hunderttausende ungelesener Buchstaben. Die waren zwischen ihren Buchdeckeln hervorgekrochen und hatten sich auf den denkenden Pelzträger gestürzt. „Lies mich! Bedenke mich! ICH bin es, der den Weg weist!“ Aber weil herumfliegende Buchstaben recht schnell die Orientierung verlieren, wußten die herumfliegenden Buchstaben bald nicht mehr aus welchem Buch sie ursprünglich gekrochen waren, um dem kleinen Bären die große Geschichte der undurchschaubaren Welt zu erzählen. Sie vermengten sich, fassten sich an den Haken und Häklein, tanzten miteinander und Archibald war es, als riechlese er ein einziges großes Aufrechtgeherbuch. Alles wichtig und alles doch vanitas. Alles gescheit und doch so unendlich dumm. Buchstaben sind gerne mal außerordentlich eitel, nur wissen sie dies oft gar nicht. Und der Himmel blieb offen. Nach oben.

Und dann waren sie weg, die eitlen und gescheiten Tänzer. Weggeflogen, nach oben, in den offen vor sich hinklaffenden Himmel. Archibald hatte einmal kräftig aus seinem Hirn rausgepustet, die Luft über seinem Räsonierschädel mit einem beherzten Ausdenker gereinigt und draußen graute ein kalter Herbsttag. Und der Bär saß vor sich hin und wußte, daß er ein Bär war und Archibald Mahler hieß, aber dies war ihm Wurst wie Schinken, denn wäre er kein Bär und hieße nicht Archibald, dann wäre er etwas anderes und das wäre dann auch nicht zu verachten. Den Himmel interessiert nicht, was unter seinem Gewölbe Spuren hinterläßt. Wichtig ist, daß man mit seinem strapazierten Schädel nicht gegen den Himmel stößt, weil man sich größer gemacht hat, als man sein sollte oder kann. Er spürte eine tiefe, wohltuende Müdigkeit durch seinen Leib kriechen. Er schaute aus dem Fenster und er mußte mit ansehen, wie schwer es die Helligkeit des Tages inzwischen hatte die kalte Nacht zu vertreiben. Und er wußte, was dies bedeutet.

Und dann rasselte und surrte es über seinem Kopf. Die Buchstaben kehrten zurück von ihrem Ausflug hinauf in die Stratosphäre der Bedeutungslosigkeit. Doch es waren sehr viel weniger Buchstaben geworden. So als wären sie bei ihrem Fall zurück zur Erde durch ein großes Sieb gerasselt.  Was man so alles nicht benötigt! Und die übrig gebliebenen Lettern formierten sich über Archibalds Kopf und er erkannte dies: „Wieder auf dem Sprung gegenüber dem unbezwinglichen Außen. Auge und Hand fiebernd nach dem Nicht-Selbst. Durch die von ihm unablässig veränderte Hand unablässig verändertes Auge. Zum Nicht-zu-Sehenden und Nicht-zu-Schaffenden vor- und zurückstoßender Blick. Ruhe im Hin und Her und Spuren dessen, was es heißt, zu sein und gegenüber zu sein. Tiefe wunde Spuren.“ Das hat der Herr Samuel Beckett geschrieben. Sagten ein paar einfache und dienende Informationsbuchstaben. Die muß es auch geben. Selbst wenn der Himmel mal weggeflogen ist.

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Manchmal ist das Leben eine Büchse und man hat den Dosenöffner vergessen! (Walden One)

Donnerstag, 15. Juli 2010 16:05

theater

Also ist er einfach losmarschiert, ohne Stadtplan, ohne Navi, sogar ohne Ernst Albert und Eva Pelagia um Rat zu fragen, aber mit zwei Büchsen Thunfisch, einem Glas Heidelbeermarmelade und fünf Karotten in einen alten Schal gewickelt über seiner Bärenschulter. Aus den Tiefen seiner von vier Wochen Ballgetrete gepeinigten Bärenseele hatte es gerufen. „Geh in den Wald, Archibald Mahler!“ Schön wenn man sich auf die guten alten Gene verlassen kann. Ein sinnvoller Tip der Bärenmatrix! Reifen nicht auch die Beeren? Die Hitze der letzten Wochen tat ein übriges. Die Stadt kochte, die Aufrechtgeher waren nur noch laut und aufgedreht. Wenigstens bliesen sie nicht mehr in ihre Plastiktröten und quälten die Signalhörner ihrer stinkenden Blechmilben und schrieen „Schland o Schland!“. Ja, die kleine häßliche Stadt konnte ihm gestohlen bleiben!

Er entschied sich für eine Himmelsrichtung: Süden. Eigentlich Jacke wie Hose, dachte er sich, aber wenn der Instinkt sich meldet wird nicht diskutiert, sondern losmarschiert. Doch der Plan ist das Eine, die Umsetzung das Andere. Wo die durchschnittliche Schrittlänge des Aufrechtgehers an den ganzen Meter heranreicht, dürfte es sich bei Archibald eher um eine zweistellige Zentimeterzahl im niedrigen Bereich handeln. Fünfzehn? Gut Wandern will Weile haben. Der nackte, aufgeheizte Asphalt brannte unter seinen Bärenpfoten. Rasten! „Denkmal bürgerlichen Gemeinsinns?“ Was das nun wieder heißt, was da oben auf dem alten Gebäude stand, in dessen Schatten der Wanderbär eine erste Pause einlegte. Potzrembel aber auch! Die Pause hat Vorteile, aber auch entschiedene Nachteile. Man kommt zur Ruhe, aber es fällt einem auch einiges auf oder ein. In diesen Fall: der vergessene Dosenöffner. Wundern Sie sich nicht, liebe Leser, auch ein Bär, der mit zwei Büchsen Thunfisch in den Wald aufbricht, kann mit diesem Problem konfrontiert sein. Logik? Dann schauen Sie einfach mal morgens etwas länger in den Spiegel, und sie sehen wie die Logik stirbt. Von Aug zu Aug. Von Zahn zu Zahn. „Wer ist das denn bitte?“

Der Musentempel der kleinen häßlichen Stadt – denn dies war der Bau, vor dem Herr Archibald Mahler, Bär auf dem Weg in den Wald, die erschöpften Beinchen baumeln ließ – beflügelte. Er vernahm seine eigene Stimme, etwas verwundert. Welche Entschlossenheit! „Eine versiegelte Thunfischbüchse ist ein potentieller Einfall. Wenn ich sie brauche, wird sie sich öffnen. Jawoll! Phantasie und Mut! Die Fiktion besiegt die kleinteilige Sorge. Auf, Bär, beweg er seinen Pöter!“ Passanten wunderten sich. Die Ampeln sprangen auf Grün. Ein kleiner Bär feuerte sich selber an und überquerte Stolz erhobenen Hauptes den Berliner Platz. Destination Walden. Auf seinen Rücken rumpelten die Thunfischbüchsen gegeneinander. Pling Plang Pling Plong! Walk on!

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Aus der Tiefe des Raumes, weil WM is’ (3 Lions)

Samstag, 26. Juni 2010 11:56

tiefe10

“Is it allowed, to ask you a question, Mister Mahler!“

“You’re welcome. Please go ahead, my dear Duke of Lippstadt-Budnikowski!”

“So, are you nervous?”

“No. Not a bit!“

„Have you been practicing penaltys lately?“

“Stupid question. You boring me!”

“I guess, you slept quite well!”

“Surely, I did. But I have to confess, I had a monstrous dream!”

“Would you like to share your dreams with us!”

“I dreamt about the finale!”

“Oh, quite interesting. Who were the participants?”

“Don’t laugh, please, but the game was North Corea versus South Corea.”

“So, who became the world champion in your soccer-dreamland?”

“Nobody! Even during the extra-time none of the teams succeeded to score. So they started the penalty-shootout. And it’s still going on. When I decided to wake up, the score was 59 to 59.“

“I sounds like you suffering from a serious case of fever pitch.”

“That’s what I’m afraid of.”

“Will you bet on an english victory?”

“I have to!”

“Why?”

“I don’t know. They didn’t play quite well up to now, their coach is a horrible italian, the only title, they ever won, came to pass by an invalid goal and Mister Beckham is a gas! So what! But, I have to admit, it’s kind of a  juvenile dream. Hard working, smoking and drinking dirty white man kick and rush away all soccer-science, high-tech fitness-programms and intellectual idle talk about that primitive and a little bit stupid game called football.”

“The sleazy man should beat the sniffy boy, you say?”

“That’s what I hope!”

“But, aren’t you a German Bear!”

“Not at all. I’m from Kamschatka near Wyoming. Let me ask you, what’s your favorite team?”

“El Tri.”

“Pardon me?”

“Mehicho!”

“Why?”

“That’s a whole different story. Switch off the floodlight and all the goals wide open. Tomorrow there will be an other game!”

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Aus der Tiefe des Raumes, weil WM is’ (2.)

Samstag, 26. Juni 2010 0:21

tiefe3

„Wenn ich Sie was fragen dürfte, Herr Mahler?“

„Ich bitte darum, Herr von Lippstadt-Budnikowski!“

„Sie kamen ja recht überraschend zu ihrer neuen Aufgabe. Hatten Sie Zeit sich etwas vorzubereiten? Ein Trainingslager?“

„Riechlesen des richtigen Buches. Peter Esterhazy!”

„Peter wie? Osterhasi?“

„Scherzkeks! Ich zitiere: ‚Schau ein Spiel nie so nebenbei an, abschätzig, als wärest Du zum göttlichen Mahl geladen und stocherst nur mit der Gabelspitze in der Speise herum. Sieh dir das Match elegant an, generös. So, als schautest du dir in der Todeszelle dein letztes Spiel an, das dir der Wärter gestattet hat. Als ginge es um Leben und Tod.’ Ich frage Sie: Ist es so schlimm?“

„Manchmal schlimmer! Jedoch, was war für Sie die gute Nachricht des gestrigen Tages?“

„Michael Ballack!“

„Verzeihung, aber er weilt nicht in Südafrika!“

„Lieber Herr von Lippstadt-Budnikowski, zwar ist Ihr Wissensvorsprung in Sachen – wie Sie es nennen – Große Pöhlerei Festspiele ein immenser, dennoch bin ich – Ihrer Diktion folgend – kein Vollpfosten. Selbstverständlich seine Rückkehr nach Leverkusen. Die vernünftige Entscheidung eines vernünftigen Spielers, der meist einen – lassen Sie mich es metaphorisch beschreiben – Spielstil des geschlossenen Hosenschlitzes pflegte. Ostschule, mannschaftsdienlich, effektiv, allerdings oft mit einer gewissen Tragik behaftet. Ich wünsche ihm Glück.“

„Ich stimme zu. Für Sie die schlechte Nachricht des Tages?“

„Joachim Löw.“

„Weshalb? Er hat, soviel ich weiß, nicht vor, Gomez in die Startformation gegen England zu beordern!“

„Andere Baustelle! Seine Diktion. ‚Die jungen Spieler gingen durch ein Stahlbad!’ Das – um es flapsig auszudrücken – geht gar nicht. Man spielt ja nicht in Kunduz oder Bagdad. Schwere Verfehlung!“

„Sie sind streng!“

„Ich will doch schwer hoffen! Ach, ich vergaß: natürlich noch die Spieler der Schweizer Nati!“

„Präzisieren Sie!“

„Was diese Agoniekicker dem Gesicht des hochgeschätzten Herrn Hitzfeld an Schatten und Falten zugefügt haben, geht auf keine Appenzeller Kuhhaut!“

„Chapeau! Ihre Frage?“

„Sehen Sie einen Favoriten nach Abschluß der Vorrunde?“

„Der nächste Weltmeister spricht spanisch!“

„Diesseits oder jenseits des Atlantiks?“

„Vamos a ver! Aber portugiesisch spricht er nicht! Weder diesseits noch jenseits des Atlantiks. Ya veras!“

„Herr von Lippstadt-Budnikowski, sie überraschen mich! Verbales Florett!“

„So soll es auch bleiben. Das Flutlicht aus und alle Tore offen! Morgen ist auch noch ein Spiel!“

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Ein Samstag im Juni am Ufer des Flußes

Samstag, 12. Juni 2010 6:38

lahn_rhodos

Für eine ganze Weile

an den Ufern geborgen.

Es bleiben Ziele.

…..

Archibald fühlte sich erfrischt. Die letzten Tage hatten gut getan. Und doch, das erste Mal beschlich ihn Heimweh, als seine Pfote sich auf die Schulter der holden Statue legte, die er am Rande des morgendlichen Flußes entdeckt hatte. Er dachte nach. Was tun, wohin nun die Gedanken lenken, welche neue Ecke der Welt betrachten und erfassen, da die Wassertage sich dem Ende zuneigten? Hic Rhodos, hic salta! Jetzt zeig, was die Ruhe Dich gelehrt hat!

Ernst Alberts Hand legte sich auf die Bärenschulter. “Da bist Du also! Komm mit! Eva Pelagia hat Geburtstag und um das zu feiern, fahren wir an einen  See, an den See schlechthin, an meinen See, ganz unten im Heckerland. Auf, auf!” Und wieder einmal waren es wohlwollende Umstände, die Herrn Archibald Mahler, Zenbär vom Brandplatz, vor allzu anstrengender Denkarbeit bewahrten. Er stand auf, verneigte sich gen Osten, dankte dem Meister Basho so für die Hilfe und Inspiration in den letzten Tagen und begann sich zu freuen. Eine Reise zu Ehren des Weibes! Gut so! In der Ferne röhrten Uweseelas und der Lütten Stan scharrte mit den Hufen!

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Archibald sagt heute: “Ich bin dann mal weg und auf breiten Walzen hinunter zum Fluß!”

Montag, 31. Mai 2010 15:48

weg1Er stand vor seinem Gedankenschrank. Er dachte nach. Er versuchte dies zumindest. Die Nachwirkungen der letzten Feierlichkeiten waren nicht mehr zu spüren. Kaum noch, um präzise zu bleiben. Was war zu tun? Die Expedition „Angstmuzak“ fortsetzen? Oder ein Resümee ziehen? Draußen vor dem Fenster roch es seit gestern nach Euphorie. Ein kleines, lustiges Mädchen hatte sie herbeigesungen. Eigentlich schön, wenn ein zutiefst verängstigtes Land sich freut. Und es roch nach Regen. Archibald kratzte sich am Hintern. Die Reise in den Osten vorletzte Woche, sie ging ihm nicht aus dem Sinn. Die Gespenster, die alten Pfade, auf denen Ernst Albert mit ihm dort drüben gewandelt war. Selten hatte er seinen Herrn und Meister so aus der Zeit gefallen gesehen. Archibald mochte das, den forschenden Blick, das konzentrierte Erinnern, das Danebengreifen und im selben Moment das Weitersuchen. Sollte er sich doch mit seiner Geschichte vor der Geschichte befassen? Abbes Bein? Anoperation? Vielleicht! Sein Kumpan Der Lütten Stan war beschäftigt und kaum mehr ansprechbar. „Große Pöhlerei Festspielwochen!“ Ernst Albert und Eva Pelagia hatten damit zu tun, das zur Zeit etwas bockige Eselchen Alltag wieder zum Laufen zu bringen. Die kleine häßliche Stadt war voller schreiender kleiner Aufrechtgeher, die auf fürchterlich häßlichen Plastiksauropoden herumkletterten. Archibald war heute, als wäre die Welt der Aufrechtgeher eine Dampfwalze, die sich von hinten an einen unschuldigen Bären herangeschlichen hatte. Wissen die Zweibeiner eigentlich, wie man bremst? Einatmen. Ausatmen. Das tat er nun, der Bär. Zweimal und kräftig.

weg2Ganz anders! Alles anders! Archibald reckte seine Nase in die Luft und er roch den nahen kleinen Fluß, der die kleine häßliche Stadt bisweilen entscheidend erträglicher macht. Und er wußte im selben Moment, daß ein einfacher Potzrembel-Tag ihm nicht helfen würde. Er benötigte ein stärkeres Mittelchen. Er benötige dringend zehn bis vierzehn Wassertage, hochdosiert. Bären, wie auch die entfernt verwandten Aufrechtgeher bestehen nun mal in der Blüte ihrer Jahre zu über sechzig Prozent aus Wasser. Und offensichtlich wirkt die Nähe von Wasser auf einen etwas verwirrten, extrem wasserhaltigen Organismus defragmentierend, also beruhigend, ordnend und reinigend. Nach einer intensiven Wasserkur fließt der Strom des Denkens mit neuer Kraft und betrachtet im Flußbett der Gedanken Herumliegendes nicht mehr nur als Hindernis, sondern als herausfordernde Garnitur und vertraut wieder auf die Zeit und die Kraft des steten Tropfens. Ein altehrwürdiger japanischer Dichter hatte einst auf seinen Wanderungen herausgefunden, daß die Wirkung einer Flußschaukur durch das tägliche Verfassen eines Haikus in freier Natur immens gesteigert werden kann. Zwei alte Bücher aus Ernst Alberts Bücherschrank riefen Archibald zu: “So ist es! Höre, Bär: Und ich bewarb mich beim US-Landwirtschaftsministerium um einen Job als Brandwache im Mount-Baker-Nationalforst im Kaskadengebirge im grandiosen Nordwesten. Ja, Bär, ja!” Und: “Laß schwellen Deine Brust, oh Bär! Der heilige Ti Jean hat Dich gesegnet! Heilig, heilig, heilig! Alles heilig! Töte den Moloch, der in Deine Seele eingedrungen.“ Archibald wußte zwar nicht, daß ihm soeben zwei alte Beatnikgespenster zur Erfindung des „Große Bären Zen“ gratuliert hatten und auch schienen ihm die Rufe, welche er aus dem Bücherregal vernommen hatte, etwas arg verstaubt und pathetisch, aber er spürte, daß es  höchste Zeit war das Steuer der Dampfwalze Welt in die eigenen Hände zu nehmen.

weg3Der Aufbruch erfolgte schnell, aber ohne Hektik. Archibald bat Ernst Albert um einen alten Schal. Dieser sollte ihm als Decke, Schlafsack oder Regenmantel dienen. Eigentlich eines richtigen Bären nicht würdig, aber Herr Lenz ist dieses Jahr nun mal eine kalte und nasse Drecksau und als Hausbär ist in Sachen Abhärtung doch noch einiges zu tun. Eva Pelagia steckte ihm zwei Büchsen mit Thunfisch sowie ein angebrochenes Glas mit Heidelbeermarmelade zu und bat den Bären inständig auf seine neuen Anoperationsnarben achtzugeben. Dem Lütten Stan versprach Archibald pünktlich zum Beginn der „Großen Pöhlerei Festspielwochen“ wieder in der gemeinsamen Höhle aufzutauchen. High five und Abmarsch! Und dann gab Archibald Gas. Die Dampfwalze Welt rumpelte langsam Richtung Fluß. Archibald hielt das Steuer fest in seiner Hand, anfangs etwas unsicher, doch jeder Meter brachte ihn ein Stück weiter. Er pfiff ein Lied vor sich hin. Nein, nein: nicht das Lied des lustigen Mädchens vom Samstagabend. Etwas von Dauer. Leider fiel Archibald im entscheidenden Moment nicht ein, wo sich die Bremse befand. Unaufhaltsam rollte die Dampfwalze auf den kleinen Fluß zu.

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Hömma, wat ich grad am denken bin (Folge 4)

Sonntag, 30. Mai 2010 11:11

wm_sieg

Ich sach mal so: mit die Unterstützung für die Nationale Elf is dat mal wieder eine Angelegenheit von die „högschte“ Ambivalenz. Jeder der Teile von sein Herzeken anne Pöhlerei verliert, entscheidet sich zwischen die Einschulung und die Pubertät für seine Club. Oft isset eine Art von Schlüsselerlebnis, dat die Waage in eine Richtung drücken tut, zum Bleistift wennze Libuda gegen Liverpool die Bogenlampe versenken sehen tust in Deine jugendliche Offenheit, oder Netzer mit die Selbsteinwechslung oder die Eleganz inne Bewegung von Herrn Allofs Klaus. Aber et is auch eine gewisse Vorprägung inne genetischen Bereiche zu konstatieren. Da gibbet die, die et sich einfach machen, weil sie immer auffe Seite von die Gewinners rumjubeln wollen und dat sind seit Jahrzehnten die Fans von FC Pommes Schranke aus Nordösterreich. Dann gibbet die, wo die masoschistische Prägung inne Gene sehr prominent is und die entscheiden sich dann fürre Klub vom Werbeprinz Podolski oder fürre Eintracht von Frankfurt oder wenn et richtich schmerzen soll für die Blauen von Vfl Bochum. Apropos „Tief im Westen“: In diese Zusammenhang liegt mich eine Empfehlung am Herzen. Wer inne nächsten Wochen kompetent und inne gut vorbereitete Zustand sein will: dat muß Du lesen. Zurück zu die Nationale Mannschaff. Die krieze ja praktisch mit Deine Geburtsland anne Backe geklebt, so wie die Personalausweise und Deine Lohnsteuerkarten. Gut, getz gibbet Ischen oder Sandalenträger oder andere Abstinenzler, die für die Portugiesen oder Brasilianers oder Kameruners am Daumen drücken sind, weil die so „süüüüß“ inne optische Erscheinung aussehen tun. Da sach ich mal: sofort raus ausse Fernsehzimmer und runter von die öffentliche Guckwiese und Pöhlereikommentarverbot bis annet Ende ihrer Tage. Nä: bei die „Großen Pöhlerei Festspielwochen“ musse Stellung beziehen und Schönheit macht keine Kiste. Kurz und knapp: Pöhlerei und Fairneß inne Betrachtung derselben, dat is neben die FDP und die Besiedlung vonne Planet Mars eines von die größten Probleme, dat die Menschheit noch lösen muß. Dat is die Wahrheit, auch wenn et Dich manchmal inne tiefste Herzen die Nerven zertrampeln tut: die Nationale Elf klebt an Deine Backe. Ruhe getz! Anpfiff!

Ich sach mal so: Siech und abgehakt. Aber die Erkenntnisse diee aussem Spiel ziehen können tust, haben in etwa die Tiefe von dem Balaton, der inne ungarische Ebene platt vor sich hintümpeln tut. Zehn Minuten flottes Offensivspiel, der Khedira mit Selbstbewußtsein und Spaß beim Pöhlen, die Zwergencombo Özil, Trochowski und Marin entdeckt in ihre Verspielheit, die gefallen tut, die alte Tugend von die Doppelpasspielerei wieder und Podolski is nach die Verwandlung vonne Elfmeterpräsent komplett erschöpft, so dat der Herr Bundestrainer ihn inne Halbzeit zwei auf die eine Postion von die Doppelsechs stellen tut, wat auch immer dat bewirken soll. Klose? Da sach ich gar nichts mehr, dat is Elend pur und Gomez kann froh sein, dat der Marin die Faxen dicke hatte und nache Pause dat Motto „Man kann sich auch Bewegen beim Pöhlen“ ausgegeben hatte. Den Magayren war jeder Körperkontakt mit ihre Gegenspielers zutiefst zuwider, keine neuen Zerrungen und Abrisse inne Hiobskartei konnten also verzeichnet werden und der Kiraly hat dat Höschen ausse alte Herthazeiten immer noch am Knie  schlabbern, während et den neuen Einser immer mal wieder magisch in Richtung Mittellinie ziehen tut. Dat sollte er in Südafrika mal besser nich tun, nä? Und wat dat soll, dat sechsmal dat Auswechslungstäfelchen hochgehalten wurde, da ist alle Erkenntnis meinerseits weit hinter dem Horizont versunken wie die Abendsonne hinter dem Ferensz Puskas sein Stadion. Jeder darf mal allet versuchen? Kannze machen, musse nicht. Und warum die zwei neue Chefs Lahm und Schweinsteiger in Südtirol die frustrierten Beine am Hochlegen waren? Erzähl dat mal „Tanne“ Fichtel!

Ich sach mal so und dat is kein Fatalismus: eine Erkenntnis is dann doch gezochen worden: wennze schon die Jugendnationalmannschaft auffen Platz schicken tust, dann kannze auch gleich dat alte, von mir hochgeschätzte Kopfballungeheuer Hotte Hrubesch anne Seitenlinie stellen. Der hat gezeigt, dat er et kann. Und wie!

Also: Schicht im Schacht und ich danke Sie für heute. Et grüßt Euren „Lütten Stan“

Thema: Anregende Buchstaben, Hömma, wat ich grad am Denken bin | Kommentare (1) | Autor: Christian Lugerth

Ein Abend in einer Stadt im Osten

Donnerstag, 20. Mai 2010 14:11

weimar2_1„Und?“ Archibald schaute Ernst Albert erwartungsvoll an, als dieser wieder zu ihm stieß. „Ich tat, was ich konnte, kleiner Bär. Man wird sich entscheiden, die Tage, irgendwann! Warten ist die wahre Zeit. Jetzt habe ich Durst!“ Aufgespannte Schirme vor einer Gaststätte, unter denen sie als einzige draußen saßen. Am Horizont baute sich ein gewaltiges Tief zusammen. (Nach Rücksprache mit der Produktionsleitung: es soll wirklich „baute“ heißen. Gruß vom Setzer) Ernst Albert bemerkte leicht verbittert, daß er letztes Jahr im November, als er mit Eva Pelagia diese Stadt besucht hatte, den gleichen Wintermantel inklusive des dicken Schals getragen hatte. Archibald sagte dazu nichts. Er war es nicht gewesen, der die Existenz von Herrn Lenz abgeleugnet hatte. Das Schwarzbier erreichte die Durstigen. Archibald steckte seine Nase in den weißgelben Schaum und erreichte innert Sekunden die Nullkommafünfpromillegrenze. Das dunkle Zeugs schmeckte ihm. Na klar, ist ja auch das Lieblingsgetränk des Geheimrats gewesen. „Zum Frühstücke zwei Kannen des köstlichen und stärkenden Schwarzbieres, dann aufgebrochen.“, schrieb er schon in seiner „Italienischen Reise”. Von einer gegenüberliegenden Hauswand grüßte ein Zitat des Allgegenwärtigen. „Das wirkliche Leben verliert oft dergestalt seinen Glanz, daß man es manchmal mit dem Firnis der Fiktion wieder auffrischen muß.“ “Ja genau, mein Trinkerfürst! Mehr Dichtung, weniger Wahrheit!” Archibald fühlte sich bereit für ein ganzes Promill. Ernst Albert jedoch warnte. Außerdem hatte er – fellfrei, wie er ist – einen kalten Arsch und Hunger. Archibald zeigte sich einsichtig, da Ernst Albert zudem die Rechnung übernahm.

weimar2_2„Und weil der Mensch ein Mensch ist, drum braucht er was zum Essen, bitte sehr – es macht ihn ein Geschwätz nicht satt, das schafft kein Essen her.“ So sangen sie einst hier. Nicht immer freiwillig. Geschenkt, denn diese runden Kugeln mußten die Götter auf die Erde gebracht haben. Archibald war fasziniert. Geruch, Geschmack, Konsistenz: ein Erlebnis. Er beschloß eine Petition an höchster Stelle einzureichen, daß in nächster Zeit neben den Lachsen auch Thüringer Klöße die Flüsse hinaufschwimmen mögen. Und man speiste, keinen fettfreien Chichikram, nein, man aß, nicht um seine Weltläufigkeit unter Beweis zu stellen, sondern man aß, um satt zu werden und also bestellte man Kost nach tradierter Art des Landes: Zwei jeweils dreihundert Gramm schwere Scheiben Rostbrätel, dazu Röstkartoffeln sowie Röstzwiebeln dick und heiß übers das in Bier gebratene Fleisch gehäuft. Zwei große und ein kleines Bier ergänzend dazu. Am Nebentisch vertilgte man Würzfleisch, übergoß dieses literweise mit Worcestersauce. Dann schob man Soljanka hinterher. In den Nebenraum wurde Schnitzel auf Schnitzel mit Mischgemüse und Salzkartoffeln getragen. Herrlich! Archibald grunzte vor Wonne, Ernst Albert schloß sich an. Sein Bruder hatte ihm am Tag seiner Abreise ein Buch über eben diese Art zu speisen geschenkt. Ein Buch auch über die Gespenster der Erinnerung, die auch aus den vollgeladenen Tellern in diesem Gasthause aufstiegen. Ein schönes Buch. Ernst Albert mochte solche Koinzidenzien. Nebenbei bemerkt: man zahlte für alles, was man verzehrt und vertrunken hatte, lächerliche dreizehn Taler. Archibald saß ermattet auf der Sitzbank. Der Kloß und der warme, freundliche Singsang der eingeborenen Zweibeiner hatten ihn wohltuend erschöpft. “Essen als Feier der Gemeinsamkeit, nicht als Zurschaustellung des kleinen bibbernden Wohlstandsego. Das muß ich mir merken.” Der Geist der Stadt im Osten, er beflügelte den Bären. “Meenste?” “Glor!” “Sischer?” “Awer säbforschdänsch!”

weimar2_3In der Nacht trommelte ein Regensturm gegen die Fenster des kleinen Hotels. Archibalds Schlaf war unruhig und von Alpträumen geplagt. Er träumte von den ehemaligen Lagern vor den Toren der Stadt, von dem dort hingerichteten Mann, der den Spitznamen „Teddy“ getragen hatte. Er träumte davon, wie er einen endlos langen Fluß entlang wanderte, auf der Suche nach der Quelle, auf der Suche nach seinem Ursprung, auf der Suche nach seiner Geschichte vor der Geschichte. Er stolperte und taumelte, er fror, überall roch es nach verschüttetem Schwarzbier, der Geheimrat bewarf ihn trunken mit Klößen und am Horizont lachten die Türme der Gier. „Archibald! Deine Mission! Die Suche!“ Stimmen riefen nach ihm. Er hatte doch einen Auftrag. Die „Angstmuzak“. Wieder stand er vor einem Kühlschrank. „Und weil der Mensch ein Mensch ist! Nieder mit dem vierten Schnitzel!“ Er öffnete die Tür. „Hey, Genosse Teddy. Da ist nur noch Wasser drin. Das Bier ist weg. War umsonst. Kaum zu glauben, nicht wahr? Komm her, die Gespenster hier wollen nichts Böses. Schlaf wieder ein. Don`t fear the reaper.“ Gitarren sangen Archibald in den Schlaf.

Thema: Anregende Buchstaben, Eastward ho! | Kommentare deaktiviert | Autor: Christian Lugerth

„Meh wie ä Schnitzel am Tag kannsch eh it fresse!“, sagte einst am See Herr H. Maier

Samstag, 15. Mai 2010 12:19

daemmerung

Einerseits: „Da habe ich mir ja etwas an die Backe geklebt!“ und andererseits – ungewohnt salopp – „Gefickt eingeschädelt!“. Das war es, was Archibald dachte, als er im Warmen saß und beschloß das Fenster erst wieder zu öffnen, wenn Herr Lenz Zwanzig Celsiusgrade in die Luft geblasen hatte. Das Einerseits, das war seine Expedition “Angstmuzak“, ein etwas größeres Vorhaben, wie ihm gerade schwante, das Andererseits war die Tatsache, daß er den Lütten Stan überzeugen konnte, jetzt wo die Kugelhysterie wieder aus allen Ritzen zu kriechen begann, sich zu outen und die Sache mit der Balltretkunst zu übernehmen. Dies schenkte seinem Auftrag etwas mehr Zeit und damit verbunden – so jedenfalls hoffte der Denkbär – auch Tiefe. „Doch die Kälte und die intensiven Angstschweißwolken da draußen hatten ihn etwas niedergeschlagen gemacht. Was solle solch eine Expedition überhaupt? Für wen war sie gedacht? Um einen Bärengott zu erheitern? Führte er Selbstgespräche? Was war das Ziel? Selbsterkenntnis oder Selbstzweck? Es gab Momente, da erschien es ihm maßlos, dem allem, was gedacht und gesagt war und noch gesagt und gedacht werden wird, noch mehr hinzuzufügen, es sei denn, man könnte tatsächlich Erleuchtung versprechen. Für sich. Für einen anderen.“ (Schön sich bei Frau Schmidt für die Anregung bedanken! Gelle, der Setzer.) „Natürlich! Danke Frau Schmidt! Seite 83.“ Ernst Albert hatte Eva Pelagia heute morgen vorgelesen und das feine Bärenohr hatte es vernommen und Glöckchen in ihm bimmelten los. Diese Glöckchen hatte auch der Alte von Bergedorf vernommen. Mit aufmunternder Strenge nickte er Archibald Mahler, dem Expeditionsreisenden vom Brandplatz, zu und dieser machte sich an die Arbeit. Versprochen ist versprochen.

Und so blickte durch ein anderes Fenster hinaus in die Welt, das heißt, er blickte nicht, er roch sich hinaus in die Welt, seine Nase beugte sich über Ernst Alberts gesammelte Zeitungen, saugte die Buchstaben und Geschichten ein, begutachtete sie, durchleuchtete sie, verwarf vieles und legte, was wertvoll, erhellend und erheiternd schien, in den Gedankenschrank zur späteren genauen Betrachtung, oder nur so, weil ein bißchen was für den langen Winterschlaf  zu sammeln – irgendwann steht der wieder ins Haus – ist nicht dumm. Und das war einiges, was Archibald da aus den Papieren der letzten Tage entgegen schwappte. Alles verstand er nicht. Wie auch? Bären waren bis jetzt noch nicht dazu gezwungen, sich ökonomischen oder finanzpolitischen Überlegungen hinzugeben. Doch beim Einsortieren hatte er das Gefühl, es lediglich mit zwei Arten von Zweibeinern zu tun zu haben, die sich da äußerten. Da waren einmal die Apokalyptiker, die Marktschreier und Krakeeler, die Anhänger Kassandras, die mit wuchtigem Pinselstrich Menetekel nach Menetekel an die Wände malten. Ihr Gezeter zielte offensichtlich nicht auf die Hirne ihrer zuhörenden Mitzweibeiner, sondern wendete sich an die kleinen und fiesen Ängste, die Ängste vor Verlust und Niedergang, an den Neid, an die Eifersucht, an all das unreflektierte Gewürm, was durch die Adern eines jeden Aufrechtgehers fließt. Archibald verstand das nicht. Wenn man nicht weiß, was tun, ist es dann nicht besser zu schweigen und nachzudenken, als rumzupoltern und die, die versuchen nachzudenken, permanent zu stören? Aber die zweite Art erschien ihm fast noch bedrohlicher, diese ganze Bande der Aussitzer, Beschwichtiger, Hinausschieber, Kreditnehmer, Schuldenmacher, Achselzucker, Raushalter, welche mit ihren heruntergezogenen Mundwinkeln und hochgezogenen Augenbrauen es schon immer gewußt haben. Jene, die nur mit den Einen reden wollen, wenn diese wiederum nicht mit den Anderen reden. Die, welche darauf warten, daß irgendwer den Mut hat etwas zu entscheiden, um dann auf den Zug der Entscheidung aufzuspringen oder, bei Nichtgefallen – das heißt bei der Notwendigkeit des eigenen Verzichts – zur Partei der Krakeeler und Radauvögel überzuwechseln. Schon seltsam! Archibald dachte darüber nach, ob es Zweibeiner gibt, die auch bedenken, daß die Welt, auf die Archibald schaut, auch Archibalds Welt ist, selbstredend im Nanogrammbereich, aber immerhin. Dann roch er etwas, was ihn beruhigte. Aus dem Papierberg sprach die Stimme des Alten von Bergedorf. Er hat mal wieder Zeit gefunden. Er meinte nichts anderes, als daß, wenn Zeiten sich ändern, selbstverschuldet oder nicht, nur eines hilft: Ruhe bewahren und Arbeiten. Warum ist das aber anscheinend so schwer? Archibalds Ehrgeiz war angestachelt. Die Expedition wird fortgesetzt. Das wußte er nun. Und er ahnte, daß diese ganze Angstsuppe irgendwas zu haben mußte mit dem einem Schnitzel am Tag, von dem Ernst Albert heute morgen beim Frühstück seiner besten Eva Pelagia erzählt hatte.

Thema: Anregende Buchstaben, De re publica | Kommentare deaktiviert | Autor: Christian Lugerth