SAMUEL B. ERBARMT SICH DES NACHTS HERUMLIEGENDER BUCHSTABEN

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Neben, unter und auf dem Bücherregal, von dem aus Archibald in die Nacht schaute und verdaute, lagen etliche herrenlose Buchstaben herum. Sie waren am großen Sieb des großen Samuel B. vorbeigefallen und etwas verwirrt. Wer mit welchen anderen Buchstaben sinnvolle, erheiternde oder auch einfach nur belanglose Wörter oder Sätze bilden sollte, das war ihnen im freien Fall entfallen. Da konnten die leeren Buchhüllen, zwischen denen die meisten von ihnen lange Jahre ein Zuhause gehabt hatten, noch so aufgeregt nach ihnen winken, um sie zur Rückkehr zu bewegen. Heimatlosigkeit machte sich breit zu Füßen des Bären. Über seinem Schädel und Denkapparat schwebte gnädig und verschmitzt der adlernasige Herr B. und freute sich an dem Chaos. Archibald fand es auch gut. „Kein Sinn macht mehr Sinn.“ Das dachte er und regte sich im selben Moment darüber auf, eine gänzlich dumme und komplett gedankenlose Aufrechtgehersprechblase nachgeplappert zu haben. „Sinn machen!“ Als ob man einen Sinn machen könnte. Falls es so etwas wie Sinn außerhalb der Notwendigkeit von Thunfischpizzen, Heidelbeermarmelade und Honigkuchen überhaupt gibt, kann dieser nämliche Sinn bestenfalls einer Sache, einem Ausdruck oder einer Handlung anheften. Und der Sprecher oder Handelnde transportiert so etwas wie Sinn, sprechend, handelnd. Und die Essenz von Sinn entsteht sowieso erst beim Rezipient. Denn man kann noch so Gescheites in die Welt setzen, wenn keiner zuhören will oder kann, ist dies was bleibt, ein großer Haufen Verdautes, den man ins Gebüsch gesetzt hat. Es riecht streng. Und sonst nichts.

Der Bär blickte hinauf zur Adlernase. Das Gewimmer der heimatlosen Lettern macht ihn doch etwas nervös. Was wäre eine angebrachte Bestattungsform für herrenlose Ex-Gedanken? Ist das Biomüll, weil noch letzte Reste von Leben drin rumzucken? Einäscherung? Oh nein, sehr ungute historische Assoziationen. Seebestattung? Keine Ahnung. Herr Samuel B. half dem Denkbärchen. Mit bedächtigen und spitzen Finger griff er Buchstabe nach Buchstabe und begann mit ihnen zu spielen. „Endlich!“ Das dachte der Bär. Und das kam beim Spiel des Herrn Samuel B. heraus: „Er nimmt seine Kappe ab. Friede unseren … Ärschen! Pause. Und wieder aufsetzen. Er setzt seine Kappe wieder auf. Null zu Null. Pause. Er nimmt seine Brille ab. Putzen. Er zieht sein Taschentuch heraus und putzt damit, ohne es auseinanderzufalten, seine Brille. Und wieder aufsetzen. Er steckt sein Taschentuch wieder in die Tasche und setzt die Brille wieder auf. Es kommt. Noch ein paar Albernheiten wie diese und ich rufe. Pause. Ein bißchen Poesie. Du riefest nach… Pause. Er verbessert sich. Du flehtest nach der Nacht; sie kommt… Pause. Er verbessert sich. Sie naht; sie ist schon da. Er wiederholt es mit singendem Ton. Du flehtest nach der Nacht; sie naht: sie ist schon da. Pause. Schöne Stelle.“

Archibald war eingenickt. Weil die Stelle so schön war. Und als Ernst Albert am nächsten Morgen seinen kleinen Genossen schlafend unter dem Porträt seines verehrten Herrn Beckett liegen sah, neben ihm das ‚Endspiel’, aufgeschlagen auf den Seiten Einhundertachtundzwanzig (französisch) und Einhundertneunundzwanzig (deutsch), da weckte er den Bären. „Komm mit, Archibald!“ „Was tun?“ „Schauen!“ „Wo?“ „Auf der anderen Seite der Straße.“

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Autor: Christian Lugerth
Datum: Mittwoch, 20. Oktober 2010 9:03
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