Beiträge vom 19. Oktober 2010

DIE NACH OBEN OFFENE MAHLER-SKALA

Dienstag, 19. Oktober 2010 7:46

beckett

Und plötzlich war ihm, als sei der Himmel über seinem Kopf weggeflogen. Vielleicht kommt das davon, daß man gleichzeitig auf der Heizung sitzt und denkt. Ein im ersten Moment etwas seltsames Gefühl, welches sich aber innert kürzester Zeit als sehr angenehm entpuppte. Der Pöter glühte, der Kopf war dennoch kühl. Er wechselte den Platz. Er saß nun auf einem der Bücherregale in Ernst Alberts Arbeitszimmer. Seine Nase umschwirrten Hunderttausende ungelesener Buchstaben. Die waren zwischen ihren Buchdeckeln hervorgekrochen und hatten sich auf den denkenden Pelzträger gestürzt. „Lies mich! Bedenke mich! ICH bin es, der den Weg weist!“ Aber weil herumfliegende Buchstaben recht schnell die Orientierung verlieren, wußten die herumfliegenden Buchstaben bald nicht mehr aus welchem Buch sie ursprünglich gekrochen waren, um dem kleinen Bären die große Geschichte der undurchschaubaren Welt zu erzählen. Sie vermengten sich, fassten sich an den Haken und Häklein, tanzten miteinander und Archibald war es, als riechlese er ein einziges großes Aufrechtgeherbuch. Alles wichtig und alles doch vanitas. Alles gescheit und doch so unendlich dumm. Buchstaben sind gerne mal außerordentlich eitel, nur wissen sie dies oft gar nicht. Und der Himmel blieb offen. Nach oben.

Und dann waren sie weg, die eitlen und gescheiten Tänzer. Weggeflogen, nach oben, in den offen vor sich hinklaffenden Himmel. Archibald hatte einmal kräftig aus seinem Hirn rausgepustet, die Luft über seinem Räsonierschädel mit einem beherzten Ausdenker gereinigt und draußen graute ein kalter Herbsttag. Und der Bär saß vor sich hin und wußte, daß er ein Bär war und Archibald Mahler hieß, aber dies war ihm Wurst wie Schinken, denn wäre er kein Bär und hieße nicht Archibald, dann wäre er etwas anderes und das wäre dann auch nicht zu verachten. Den Himmel interessiert nicht, was unter seinem Gewölbe Spuren hinterläßt. Wichtig ist, daß man mit seinem strapazierten Schädel nicht gegen den Himmel stößt, weil man sich größer gemacht hat, als man sein sollte oder kann. Er spürte eine tiefe, wohltuende Müdigkeit durch seinen Leib kriechen. Er schaute aus dem Fenster und er mußte mit ansehen, wie schwer es die Helligkeit des Tages inzwischen hatte die kalte Nacht zu vertreiben. Und er wußte, was dies bedeutet.

Und dann rasselte und surrte es über seinem Kopf. Die Buchstaben kehrten zurück von ihrem Ausflug hinauf in die Stratosphäre der Bedeutungslosigkeit. Doch es waren sehr viel weniger Buchstaben geworden. So als wären sie bei ihrem Fall zurück zur Erde durch ein großes Sieb gerasselt.  Was man so alles nicht benötigt! Und die übrig gebliebenen Lettern formierten sich über Archibalds Kopf und er erkannte dies: „Wieder auf dem Sprung gegenüber dem unbezwinglichen Außen. Auge und Hand fiebernd nach dem Nicht-Selbst. Durch die von ihm unablässig veränderte Hand unablässig verändertes Auge. Zum Nicht-zu-Sehenden und Nicht-zu-Schaffenden vor- und zurückstoßender Blick. Ruhe im Hin und Her und Spuren dessen, was es heißt, zu sein und gegenüber zu sein. Tiefe wunde Spuren.“ Das hat der Herr Samuel Beckett geschrieben. Sagten ein paar einfache und dienende Informationsbuchstaben. Die muß es auch geben. Selbst wenn der Himmel mal weggeflogen ist.

Thema: Anregende Buchstaben, Archibalds Geschichte | Kommentare deaktiviert | Autor: Christian Lugerth