Archibald sagt heute: “Ich bin dann mal weg und auf breiten Walzen hinunter zum Fluß!”
Montag, 31. Mai 2010 15:48
Er stand vor seinem Gedankenschrank. Er dachte nach. Er versuchte dies zumindest. Die Nachwirkungen der letzten Feierlichkeiten waren nicht mehr zu spüren. Kaum noch, um präzise zu bleiben. Was war zu tun? Die Expedition „Angstmuzak“ fortsetzen? Oder ein Resümee ziehen? Draußen vor dem Fenster roch es seit gestern nach Euphorie. Ein kleines, lustiges Mädchen hatte sie herbeigesungen. Eigentlich schön, wenn ein zutiefst verängstigtes Land sich freut. Und es roch nach Regen. Archibald kratzte sich am Hintern. Die Reise in den Osten vorletzte Woche, sie ging ihm nicht aus dem Sinn. Die Gespenster, die alten Pfade, auf denen Ernst Albert mit ihm dort drüben gewandelt war. Selten hatte er seinen Herrn und Meister so aus der Zeit gefallen gesehen. Archibald mochte das, den forschenden Blick, das konzentrierte Erinnern, das Danebengreifen und im selben Moment das Weitersuchen. Sollte er sich doch mit seiner Geschichte vor der Geschichte befassen? Abbes Bein? Anoperation? Vielleicht! Sein Kumpan Der Lütten Stan war beschäftigt und kaum mehr ansprechbar. „Große Pöhlerei Festspielwochen!“ Ernst Albert und Eva Pelagia hatten damit zu tun, das zur Zeit etwas bockige Eselchen Alltag wieder zum Laufen zu bringen. Die kleine häßliche Stadt war voller schreiender kleiner Aufrechtgeher, die auf fürchterlich häßlichen Plastiksauropoden herumkletterten. Archibald war heute, als wäre die Welt der Aufrechtgeher eine Dampfwalze, die sich von hinten an einen unschuldigen Bären herangeschlichen hatte. Wissen die Zweibeiner eigentlich, wie man bremst? Einatmen. Ausatmen. Das tat er nun, der Bär. Zweimal und kräftig.
Ganz anders! Alles anders! Archibald reckte seine Nase in die Luft und er roch den nahen kleinen Fluß, der die kleine häßliche Stadt bisweilen entscheidend erträglicher macht. Und er wußte im selben Moment, daß ein einfacher Potzrembel-Tag ihm nicht helfen würde. Er benötigte ein stärkeres Mittelchen. Er benötige dringend zehn bis vierzehn Wassertage, hochdosiert. Bären, wie auch die entfernt verwandten Aufrechtgeher bestehen nun mal in der Blüte ihrer Jahre zu über sechzig Prozent aus Wasser. Und offensichtlich wirkt die Nähe von Wasser auf einen etwas verwirrten, extrem wasserhaltigen Organismus defragmentierend, also beruhigend, ordnend und reinigend. Nach einer intensiven Wasserkur fließt der Strom des Denkens mit neuer Kraft und betrachtet im Flußbett der Gedanken Herumliegendes nicht mehr nur als Hindernis, sondern als herausfordernde Garnitur und vertraut wieder auf die Zeit und die Kraft des steten Tropfens. Ein altehrwürdiger japanischer Dichter hatte einst auf seinen Wanderungen herausgefunden, daß die Wirkung einer Flußschaukur durch das tägliche Verfassen eines Haikus in freier Natur immens gesteigert werden kann. Zwei alte Bücher aus Ernst Alberts Bücherschrank riefen Archibald zu: “So ist es! Höre, Bär: Und ich bewarb mich beim US-Landwirtschaftsministerium um einen Job als Brandwache im Mount-Baker-Nationalforst im Kaskadengebirge im grandiosen Nordwesten. Ja, Bär, ja!” Und: “Laß schwellen Deine Brust, oh Bär! Der heilige Ti Jean hat Dich gesegnet! Heilig, heilig, heilig! Alles heilig! Töte den Moloch, der in Deine Seele eingedrungen.“ Archibald wußte zwar nicht, daß ihm soeben zwei alte Beatnikgespenster zur Erfindung des „Große Bären Zen“ gratuliert hatten und auch schienen ihm die Rufe, welche er aus dem Bücherregal vernommen hatte, etwas arg verstaubt und pathetisch, aber er spürte, daß es höchste Zeit war das Steuer der Dampfwalze Welt in die eigenen Hände zu nehmen.
Der Aufbruch erfolgte schnell, aber ohne Hektik. Archibald bat Ernst Albert um einen alten Schal. Dieser sollte ihm als Decke, Schlafsack oder Regenmantel dienen. Eigentlich eines richtigen Bären nicht würdig, aber Herr Lenz ist dieses Jahr nun mal eine kalte und nasse Drecksau und als Hausbär ist in Sachen Abhärtung doch noch einiges zu tun. Eva Pelagia steckte ihm zwei Büchsen mit Thunfisch sowie ein angebrochenes Glas mit Heidelbeermarmelade zu und bat den Bären inständig auf seine neuen Anoperationsnarben achtzugeben. Dem Lütten Stan versprach Archibald pünktlich zum Beginn der „Großen Pöhlerei Festspielwochen“ wieder in der gemeinsamen Höhle aufzutauchen. High five und Abmarsch! Und dann gab Archibald Gas. Die Dampfwalze Welt rumpelte langsam Richtung Fluß. Archibald hielt das Steuer fest in seiner Hand, anfangs etwas unsicher, doch jeder Meter brachte ihn ein Stück weiter. Er pfiff ein Lied vor sich hin. Nein, nein: nicht das Lied des lustigen Mädchens vom Samstagabend. Etwas von Dauer. Leider fiel Archibald im entscheidenden Moment nicht ein, wo sich die Bremse befand. Unaufhaltsam rollte die Dampfwalze auf den kleinen Fluß zu.
Thema: Anregende Buchstaben, Archibalds Geschichte | Kommentare deaktiviert | Autor: Christian Lugerth