Von angefressenen Lachsen, dem Trend zum Viertschnitzel und nachts vor dem Kühlschrank

kuehlschrank

Dann dachte Archibald: Vielleicht ist es ja auch so. Der Aufrechtgeher hat Hunger. Er kauft ein Schnitzel. Es würde auch ein halbes Schnitzel reichen, aber man weiß ja nie. Gestern hatte er zwar schon ein Schnitzel gehabt, müßte eigentlich für die Woche reichen. Vor gar nicht so langer Zeit verzehrte der durchschnittliche Zweibeiner vor Ort am Sonntag sein Schnitzelchen, basta. Aber, das soll nicht bekrittelt werden. Vielleicht hat die Aufrechtgeherheit eine genetische Veränderung heimgesucht, die notwendig macht, daß Fünfzigjährige jetzt Baseballkappen auf dem Kopf haben müssen, daß man seit einiger Zeit Kaffee nur noch im Gehen trinken kann, ständig mittels eines ominösen “Knopf im Ohr” Musik hören muß und eben jeden Tag ein Schnitzel braucht. Obwohl Schweine und Rinder für Bären nicht unbedingt zu einer schützenswerten Gattung gehören, muß kurz eingeworfen werden, daß selbst die fettesten Bären sich gelegentlich wochenlang nur von Beeren und Blättern ernähren. Gut, jetzt hat also der Aufrechtgeher Schnitzel, aber nicht nur das auf dem Teller, im Kühlschrank wartet noch ein Sicherheitsschnitzel – weiß man was passiert? – und neben dem Teller liegt das mobile Kommunikationsgerät, mit dem man jederzeit bei der Mama anrufen kann, ob sie nicht vielleicht noch ein Schnitzel bereit halten kann, falls, denn man weiß ja nie und sicher ist sicher und der Nachbar guckt auch schon so gierig durchs Fenster. Da beschleicht den Aufrechtgeher das Gefühl, ob es nicht höchste Zeit sei, ein viertes Schnitzel zu erwerben, um es in der Tiefkühltruhe, für alle Fälle – sicher ist sicher und man weiß ja nie. Ein schneller Biß ins Schnitzel auf dem Teller, er steht auf und während der Angstschweiß seine Stirne glänzen läßt, macht er sich auf den Weg in eine Kaufbude. Unterwegs denkt er darüber nach, ob man nicht vielleicht doch Schnitzelderivate erweben sollte, die könne man im Notfall in ein fünftes Schnitzel umwandeln oder gar Anteile an einer Schweinefarm dafür erwerben. Oder? Währenddessen wird das Schnitzel auf dem Teller kalt, verrottet und der arme Aufrechtgeher spürt einen gewaltigen Hunger seine Gedärme peinigen.

Archibald war eigeschlafen, was dann geschieht, wenn seine Nachdenkerei unermüdlich um die absurden Angewohnheiten der Aufrechtgeher zu kreisen beginnt und weder Ausweg noch Erhellung am Horizont zu erkennen sind. Und er träumte von einem Fluß im fernen Alaska, an einem der Tage, an denen die Lachse zurückkehren, um zu laichen und dann zu sterben und alle Bären sich dort sammeln, um ein dionysisches Mahl zu feiern. Und er träumte wie die dicksten Grizzlys am Ufer des Flußes faul auf dem Rücken lagen, einen Knopf im Ohr, ihren Tatzen wippten zu einem entnervenden wummernden Rhythmus, ab und zu fischten sie einen Lachs aus dem Fluß, bissen ein Stückchen aus dem Fisch heraus und warfen das angefressene Flossentier angewidert zurück ins Wasser. Der Fluß färbte sich rot. Am Waldrand warteten ein paar ausgehungerte Schwarzbären, Baseballkappen mit Liebeserklärungen an die Grizzlys auf dem Kopf, in der Hoffnung, ein kleines Stückchen, gerne auch toten und verstümmelten Fisch, zu ergattern. Ab und zu stand einer der Obergrizzlys auf, tobte und brüllte und drohte in Richtung der hungrigen entfernten Verwandten, um dann in den Fluß zu urinieren. Das entspannt. Der Fluß veränderte seine Farbe, unmerklich. Er wurde braun und brauner. Die Grizzlys lachten blöde, drehten die Musik in ihren Ohren lauter und schlürften Kaffee mit Lachsgeschmack, gehend. Der Fluß trat über die Ufer und spülte stinkendes und schimmelndes Lachsaas an Land. Die Sonne brannte vom Himmel. Es stank. Es war heiß. Geier lachten. Und handelten.

Archibald begann zu schwitzen. Er wußte nicht, ob er noch schlief oder schon wachte, als er in der Küche stand, verzweifelt versuchte, die Kühlschranktüre zu öffnen und Ernst Alberts Hand sich vorsichtig auf seine linke Schulter legte. „Was machst Du denn da, Archibald?“ „Ich suche das vierte Schnitzel!“ “Und warum, wenn ich fragen darf?” „Ich will es wieder zurückbringen. Wir brauchen das nicht.“ „Ich verstehe Dich nicht!“ „Es soll wieder Frieden sein in Alaska und die Schwarzbären sollen auch was abkriegen.“ „Archibald, wir haben zur Zeit noch nicht mal ein Schnitzel im Kühlschrank und Du solltest mal Denkpause machen. Pack Deine Sachen, wir fahren in den Osten. Dort besuchen wir den Geheimrat und trinken mit ihm eine Kanne Köstritzer!“

Archibald erwachte. Ganz langsam. Er befand sich auf dem Weg zum Bahnhof der kleinen häßlichen Stadt.

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Autor: Christian Lugerth
Datum: Montag, 17. Mai 2010 12:40
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