Beiträge vom 13. Juni 2010

Aufbruch, schauerlich – frohes Lied und tausend tote Dinge erwecken eine Stadt zum Leben

Sonntag, 13. Juni 2010 11:52

KN1Das war neu. Mit einer von Petrolsaft angetriebenen Blechmilbe war man noch nie verreist. Und zudem in Begleitung des geheimen Fieberthermometerhalters aka Herr Reinhard Kuno Theophil „Stan“ von Lippstadt-Budnikowski zu Datteln. Doch angesichts der Tatsache, daß Eva Pelagia am Volant saß und sich nicht am üblichen Hasenrennen auf den Betonpisten beteiligte, verlief die Reise für alle Insassen ruhig und angenehm. Archibald und der Lütten Stan im Heck vertieft ins Gespräch. Man diskutierte eine Idee. Sollte man als Duo gelegentlich die „Großen Pöhlerei Festspiele“ analytisch bereden, sich gegenseitig Ball und kritisches oder jubelndes Wort zuwerfen? Einigung fand noch nicht statt, da keiner der beiden sich bereit erklärte, die Perücke Marke „Netzers Günter“ überzustülpen. Der Wagen stoppte. Auf einem Hügel in der Nähe einer Gelehrten- und Studentenstadt, in der Ernst Albert einst im dortigen Musentempel gewirkt hatte, ein leuchtend weißes kleines Gotteshaus. Anstieg in atemraubender Schwüle und Gipfelrast mit belegtem Brote. (Man hatte dazugelernt!) Grandiose Aussicht! Manch ein Dichter hatte den Weg von der nahen Stadt des Geistes hierher gefunden. Uhland auch. Ernst Albert sang für Eva Pelagia eine alte Weise:

KN2„Droben stehet die Kapelle / schauet still ins Tal hinab / drunten singt bei Wies und Quelle / froh und hell der Hirtenknab. / Traurig tönt das Glöcklein nieder / schauerlich der Leichenchor / Stille sind die frohen Lieder / und der Knabe lauscht empor. / Droben bringt man sie zu Grabe, / die sich freuten in dem Tal. / Hirtenknabe, Hirtenknabe, / dir auch singt man dort einmal.“ Wo war Archibald? Der Bär hatte eine Höhle gerochen. Düster, klamm, der Atem kondensierte, brennende Kerzen erhellten schemenhaft. Ein ausgemergelter Mann, ein Spitzenkissen unter dem dornig bekrönten Kopf, lag nackend in der kalten Höhle. Stille, andächtig gesenkte Stimmen. Die Aufrechtgeher pilgern alle Jahre den steilen Berg hinauf, bitten den vom Kreuze Abgenommenen um Vergebung, Hilfe. Manche tun das zumindest. Archibald dachte nach. Seltsam, daß erst sein Tod diesen Menschen – Ecce homo! – ins Zentrum der Verehrung durch die Zweibeiner gerückt hat. Geht es bei den Bärengöttern auch stets um Schuld, Buße und Vergebung? Vielleicht ein Thema? Trotz erheblicher Zweifel an den seltsamen Glaubensritualen der Felllosen, Archibald genoß die Atmosphäre in der düsteren Höhle. Kurz faltete er seine Pfoten, falls dies eine Bärenpfote zuläßt. Aufbruch.

KN3Eine Stunde später roch Archibald die Nähe eines Sees, eines großen Sees. Solch einen großen See hatte er noch nie in seiner Nase gehabt. Der See bestand aus mehreren Teilen, diese verbunden durch einen Fluß, der den See speist und an dessen Ufer die kleine reiche eingebildete Stadt liegt, in der Ernst Albert aufgewachsen ist. Da saßen sie nun am Ufer des Seerheins, zu zweit. Archibald versuchte den Fachmann in Sachen Pöhlerei in die Grundlagen einer ausgleichenden und trotzdem stimulierenden Wasserrandmeditation einzuführen. Er scheiterte. In den Ohren des Lütten Stan die nervenzerfetzenden Uweseelas, in seinem Herzen Vorfreude und etwas Furcht vor dem heutigen Abend. Doch auch Archibald fand nicht die nötige Ruhe. Zum einen der morgige Ehrentag einer zentralen Person in seinem Leben und letzte Fragen der Organisation und zum anderen die kochende, übervolle kleine reiche eingebildete Stadt in seinem Rücken. Einmal im Jahr räumen die Einwohner und ihre Nachbarn aus dem Umland ihre modrigen Keller leer, legen alles, was sie schon fünfmal weggeschmissen haben, an den Straßenrand, in der Hoffnung, jemand kauft es ihnen ab, um es in den Keller zu bringen oder wegzuschmeißen und das ganze Gerümpel im Folgejahr wieder an den Straßenrand zu legen. Dafür bezahlt man eine happige Gebühr. Die Aufrechtgeher nennen das Flohmarkt. Dieser hier ist zwölf Kilometer lang und reicht bis ins Land des Nachbarn hinein. Archibald dachte, ob das etwa mit dem Ritual in der kalten Höhle auf dem Berg zu tun hatte. Wegschmeißen, sterben lassen und so entsteht Wert. Von Dingen, Beziehungen, Hoffnungen, Lieben. Seltsam, diese Zweibeiner! Der Bilderapparat rief. „Einigkeit und…“ Wieviele singen mit?

Thema: Im Heckerland, Küchenschypsologie | Kommentare deaktiviert | Autor: Christian Lugerth