Aufbruch, schauerlich – frohes Lied und tausend tote Dinge erwecken eine Stadt zum Leben
Das war neu. Mit einer von Petrolsaft angetriebenen Blechmilbe war man noch nie verreist. Und zudem in Begleitung des geheimen Fieberthermometerhalters aka Herr Reinhard Kuno Theophil „Stan“ von Lippstadt-Budnikowski zu Datteln. Doch angesichts der Tatsache, daß Eva Pelagia am Volant saß und sich nicht am üblichen Hasenrennen auf den Betonpisten beteiligte, verlief die Reise für alle Insassen ruhig und angenehm. Archibald und der Lütten Stan im Heck vertieft ins Gespräch. Man diskutierte eine Idee. Sollte man als Duo gelegentlich die „Großen Pöhlerei Festspiele“ analytisch bereden, sich gegenseitig Ball und kritisches oder jubelndes Wort zuwerfen? Einigung fand noch nicht statt, da keiner der beiden sich bereit erklärte, die Perücke Marke „Netzers Günter“ überzustülpen. Der Wagen stoppte. Auf einem Hügel in der Nähe einer Gelehrten- und Studentenstadt, in der Ernst Albert einst im dortigen Musentempel gewirkt hatte, ein leuchtend weißes kleines Gotteshaus. Anstieg in atemraubender Schwüle und Gipfelrast mit belegtem Brote. (Man hatte dazugelernt!) Grandiose Aussicht! Manch ein Dichter hatte den Weg von der nahen Stadt des Geistes hierher gefunden. Uhland auch. Ernst Albert sang für Eva Pelagia eine alte Weise:
„Droben stehet die Kapelle / schauet still ins Tal hinab / drunten singt bei Wies und Quelle / froh und hell der Hirtenknab. / Traurig tönt das Glöcklein nieder / schauerlich der Leichenchor / Stille sind die frohen Lieder / und der Knabe lauscht empor. / Droben bringt man sie zu Grabe, / die sich freuten in dem Tal. / Hirtenknabe, Hirtenknabe, / dir auch singt man dort einmal.“ Wo war Archibald? Der Bär hatte eine Höhle gerochen. Düster, klamm, der Atem kondensierte, brennende Kerzen erhellten schemenhaft. Ein ausgemergelter Mann, ein Spitzenkissen unter dem dornig bekrönten Kopf, lag nackend in der kalten Höhle. Stille, andächtig gesenkte Stimmen. Die Aufrechtgeher pilgern alle Jahre den steilen Berg hinauf, bitten den vom Kreuze Abgenommenen um Vergebung, Hilfe. Manche tun das zumindest. Archibald dachte nach. Seltsam, daß erst sein Tod diesen Menschen – Ecce homo! – ins Zentrum der Verehrung durch die Zweibeiner gerückt hat. Geht es bei den Bärengöttern auch stets um Schuld, Buße und Vergebung? Vielleicht ein Thema? Trotz erheblicher Zweifel an den seltsamen Glaubensritualen der Felllosen, Archibald genoß die Atmosphäre in der düsteren Höhle. Kurz faltete er seine Pfoten, falls dies eine Bärenpfote zuläßt. Aufbruch.
Eine Stunde später roch Archibald die Nähe eines Sees, eines großen Sees. Solch einen großen See hatte er noch nie in seiner Nase gehabt. Der See bestand aus mehreren Teilen, diese verbunden durch einen Fluß, der den See speist und an dessen Ufer die kleine reiche eingebildete Stadt liegt, in der Ernst Albert aufgewachsen ist. Da saßen sie nun am Ufer des Seerheins, zu zweit. Archibald versuchte den Fachmann in Sachen Pöhlerei in die Grundlagen einer ausgleichenden und trotzdem stimulierenden Wasserrandmeditation einzuführen. Er scheiterte. In den Ohren des Lütten Stan die nervenzerfetzenden Uweseelas, in seinem Herzen Vorfreude und etwas Furcht vor dem heutigen Abend. Doch auch Archibald fand nicht die nötige Ruhe. Zum einen der morgige Ehrentag einer zentralen Person in seinem Leben und letzte Fragen der Organisation und zum anderen die kochende, übervolle kleine reiche eingebildete Stadt in seinem Rücken. Einmal im Jahr räumen die Einwohner und ihre Nachbarn aus dem Umland ihre modrigen Keller leer, legen alles, was sie schon fünfmal weggeschmissen haben, an den Straßenrand, in der Hoffnung, jemand kauft es ihnen ab, um es in den Keller zu bringen oder wegzuschmeißen und das ganze Gerümpel im Folgejahr wieder an den Straßenrand zu legen. Dafür bezahlt man eine happige Gebühr. Die Aufrechtgeher nennen das Flohmarkt. Dieser hier ist zwölf Kilometer lang und reicht bis ins Land des Nachbarn hinein. Archibald dachte, ob das etwa mit dem Ritual in der kalten Höhle auf dem Berg zu tun hatte. Wegschmeißen, sterben lassen und so entsteht Wert. Von Dingen, Beziehungen, Hoffnungen, Lieben. Seltsam, diese Zweibeiner! Der Bilderapparat rief. „Einigkeit und…“ Wieviele singen mit?
Ein Samstag im Juni am Ufer des Flußes

Für eine ganze Weile
an den Ufern geborgen.
Es bleiben Ziele.
…..
Archibald fühlte sich erfrischt. Die letzten Tage hatten gut getan. Und doch, das erste Mal beschlich ihn Heimweh, als seine Pfote sich auf die Schulter der holden Statue legte, die er am Rande des morgendlichen Flußes entdeckt hatte. Er dachte nach. Was tun, wohin nun die Gedanken lenken, welche neue Ecke der Welt betrachten und erfassen, da die Wassertage sich dem Ende zuneigten? Hic Rhodos, hic salta! Jetzt zeig, was die Ruhe Dich gelehrt hat!
Ernst Alberts Hand legte sich auf die Bärenschulter. “Da bist Du also! Komm mit! Eva Pelagia hat Geburtstag und um das zu feiern, fahren wir an einen See, an den See schlechthin, an meinen See, ganz unten im Heckerland. Auf, auf!” Und wieder einmal waren es wohlwollende Umstände, die Herrn Archibald Mahler, Zenbär vom Brandplatz, vor allzu anstrengender Denkarbeit bewahrten. Er stand auf, verneigte sich gen Osten, dankte dem Meister Basho so für die Hilfe und Inspiration in den letzten Tagen und begann sich zu freuen. Eine Reise zu Ehren des Weibes! Gut so! In der Ferne röhrten Uweseelas und der Lütten Stan scharrte mit den Hufen!
Ein Freitag im Juni am Ufer des Teiches

Nahender Sommer.
Milder Wind spielt mit den Halmen.
Wer hatte gerufen?
Hömma, wat ich grad am denken bin (Offener Brief an die Herren Balltreter und den Bären)

Ich sach mal so: Morgen geht et los. Dat dat endlich Zeit wird nach die ganze vorbereitende Wortschwälle, die über die Menschheit in die letzten Wochen am hereinbrechen waren, dat muß ich nich noch erwähnen tun. Meine Hirnkasten is schon innet grüne Viereck mutiert und ich faß mich mal kurz. Also, ihr Herren Pöhler von alle Herren Länders, viel isset nich, wo ich drum bitten tu, nur dat:
Wenn ihr et vermeiden könntet, Euch gegenseitig die Knoten kaputtzutreten, wenn et an Schnelligkeit und Konzentration oder Können mangeln tut? Oder ständig inne große Schauspielerpose rumzumoppern und die Schiedsrichter an die Hemden zu zuppeln, wenn Euch wat nich passen tut? Überhaupt, dat ganze nervige Rumgezerre anne Kleidungsstücke von die Gegenspielers, is dat laßbar? Oder jedesmal, wenn die Herren Trainers böse zu Euch sind, zu die lokale Presseorgane zu rennen und den „Großen Pöhler Flunsch“ zu ziehen? Oder nach jeder versenkten Kiste Eure sinnfreien Tatoos anne südafrikanische Luft zu halten? Oder pro Spiel dreißig Liter Flüssigkeit auffe Spielfläche zu rotzen? Oder Euch bei die obligatorischen Freizeittätigkeiten wie Bungeegolfen und Quadreiten oder Playstationpoppen die Sehnen und Bänders zu verletzen? Is dat vermeidbar? Und wenn ihr dat allet nich auffe Reihe kriegen wollt oder über die Rasenfläche schleichen tut wie meine Omma, wennse ein Fläschken Eierlikör intus hat, haltet bitte Abstand von die ganze Verschwörungstheoriererei und seid die Schuld am suchen, wo sie wohnen tut: inne eigene Trikotage. Wenn dat allet möglich wär, da is Euch Eurer treuer Zuschauer Der Lütten Stan sehr dankbar für. Und wenn ihr et, liebe Freunde inne angrenzende Welt, so einrichten könntet, dat unsere Nationale Jugendmannschaft die Trophäe am letzten Tach von die Großen Pöhlerei Festspiele erringen tut? Nur so ne kleine Frage is dat, woll. So viel Spaß getz, die Herren! Et is ein Spiel! Im Ernst! Möge der gewinnen, dem ich die Hasenpfoten halten tu! So is dat!
Noch wat in eigene Sache: Hömma Herr Archibald, wennse dat lesen tust an Deine poetische Flußufers, komm in die Gänge und zurück vor die Bilderapparate zu Haus und auffe Heide. Versprochen is versprochen! Ich schenk Dich auch ein altes Bildkes von unsere letzte Trainingscamp. Weisse noch? Lies wat Deine Bärenbruder am senden war:
Die Vuvuzela
dringt von ferne an das Ohr.
Zeit zu gehen …
Also: Schicht im Schacht und ich danke Sie für heute. Et grüßt Euren „Lütten Stan“
Ein Donnerstag im Juni am Ufer des Teiches

Zwischen Ameisen und Fröschen
fühlte ich mich ganz zu Hause.
Gewickelt wie ein Kind.
Ein Mittwoch im Juni am Ufer des Teiches

Diese Nacht wandelte ich
um den Teich. Es führte mich die Stille.
Einsamer Mond.
Ein Dienstag im Juni am Ufer des Teiches

Erquickendes Licht.
Zwischen Schleierwolken die frühe Sonne
bescheint den Teich.
Ein Montag im Juni am Ufer des Teiches

Der siebente Tag.
Schon die Luft dieses Morgens.
Ganz anders schmeckt sie.
Ein Sonntag im Juni am Ufer des Teiches

Singende Frösche.
Nehmt Euch einfach, was da ist.
Ich teile das Schilf.
…………
Für den Bärenbruder.
Ein alter Stein taucht ins Wasser.
Wellen streben ans Ufer.
Heil! Neues Jahr plätschert heran.
Ein Samstag im Juni am Ufers des Teiches

Flüchtiger Anblick.
Der Kranich stolziert im Teich.
War es nicht gestern?