In der Nacht wär’ der Bär ganz gern alleine!
Er wollte nur schlafen. Aber es ging nicht. Der Tag war überraschend warm gewesen. Die alte Blechkiste unter seinem Pöter hatte sich auf hochsommerliche Temperatur erhitzt. Die Dämmerung kam früh und die Nacht folgte mit gliederlähmender Kälte. Der Magen war randvoll. Fünfzehn Äpfel sind viel, aber bis zum Winterschlaf ist es auch nicht mehr so lange hin und wenn die Gene ab September „Fressen! Und zwar ordentlich!“ brüllen, was soll man da als armer Bär tun? Fressen eben! Na also! Und dann waren da ja noch die Herren und Damen Aufrechtgeher, die Archibald Mahler, den sich auf den Winterschlaf vorbereitenden und letzte Denkaufgaben erledigenden Bär vom Brandplatz z.Z. c/o Schrottplatz rechter Hand der Lahn, an der wohlverdienten Nachtruhe hinderten. Nein, es waren nicht die zugedröhnten Jungschen, die, nachdem sie ein Wochenende “durchgechillt” hatten, sich mülltonnenstürzend und blumenkübelbespeiend in Richtung mütterliche Schutzburg trollten. Deren Äuglein waren nicht mehr in der Lage einen Bären auf der Motorhaube eines Kadett B, Bj. ca 1971, zu orten und diesen dann zu belästigen. Sie zogen vorbei und ließen ein paar verstümmelte Sprachfetzen in der kalten Nachtluft hängen. Und es war auch nicht die Besitzerin eines der schwarz-silbernen Panzer, die vis a vis vor dem verschlossenen Tiefgaragentor stand, verzweifelt und mit schriller Prinzessinnenstimme versuchte von irgendwoher Hilfe herbei zu telefonieren und nebenher ihrer Freundin oder der armen Mutter vom heute Abend in den Sand gesetzten Rendevouz mit einer Internetbekanntschaft berichtete. Da guckt ein Bär doch gerne zu! Und hört auch zu! Nichts ist amüsanter als die öffentlich kundgetane Verzweiflung der Satten. Es war schlimmer!
„Kann denn da endlich mal einer das Licht ausknipsen!“ Archibald hat nichts gegen Straßenlaternen einzuwenden. Er bräuchte so etwas nicht, und die Sterne sieht man auch nicht, wenn man eine Laterne über dem Kopf hat, aber da die Zweibeiner in den Städten wohl alle Schisser sind: geschenkt. Aber dieses von Studienabbrechern der Architektur zusammengeschusterte Einkaufstempelchen auf der anderen Seite des Flusses! Archibald hüpfte wütend auf der weißen, inzwischen pöterkalten Motorhaube auf und ab. Das beruhigte und man wärmt sich so auf in kalter, schlafloser Nacht. Und noch mal ein Fluch. „Kann denn da endlich mal einer das Licht ausknipsen!“ Diese grauenhafte Kaufbude! Tagsüber schon eine Häßlichkeit, die den Ästheten im Bären unendliche Pein bereitete, aber erst des Nachts! Gibt es nur einen einzigen, ansatzweise auch für einen naiven Bären nachvollziehbaren Grund, warum niemand auf die Idee kommt bei den schreienden und dummbunten Neonwerbetafeln mal den Stecker rauszuziehen. „Ich will nachts schlafen oder denken und nichts kaufen, ihr Schwachmaten! Macht das Licht aus! Potzrembel aber auch!“ Archibald war selber ein wenig überrascht über die Heftigkeit seines Ausbruchs. Na ja, die Kälte und vielleicht war ja bei den Äpfeln ein fauler dabei gewesen. Über der Tiefgarage öffnete sich ein Fenster. Die eben noch telefonierende Dame hatte Einlaß gefunden und konnte wohl auch nicht schlafen. „Was ist denn das hier für eine Gegend, eine runterverkommene? Ruhe, sonst will ich schlafen, denn ich hole die Polizei!“ Das hat sie wirklich gesagt! Warum? Weiß ich nicht! Vielleicht ist sie ja Dörnröschen?
Dann war es still. Und es blieb still. Nur die Äpfel taten ab und an kund, daß sie nun verdaut würden. Der Morgen graute und Archibald schlief ein. Und er träumte davon, wie er aufbrach, um DEN GROSSEN STECKER zu suchen. Und wie er den Stecker, wenn er ihn denn gefunden hätte, am Ende der Welt, dort im TAL DER VERNUNFT, einfach rausziehen würde. Peng! Finster! Und dann wachte er auf, dachte über den Traum nach und eine Stimme sprach: „Reg Dich nicht auf, Bär. Wenn die Schwachmaten so weitermachen, erledigt sich das über kurz oder lang von selbst!“ So ist das wohl. Und da sah er, daß jemand zwei Karotten auf die Motorhaube seines Kadett B gelegt hatte. Und er bemerkte, daß man ihn zugedeckt hatte, mit einem alten Schal. Den kannte er.