Anleihen. Ansinnen. Anleid(t)ungen. Elf.

Freitag, 30. März 2018 20:23

2018_21

„Weiß des Tages. Schwarz der Nacht. Weiß des Tages.“

„Herr Mahler!“

„Ja?“

„Das Meer lag in der tiefen Nacht in einem schweren ruhigen Atem, in einer Stille wie vor der Geburt, während das herausgestoßene, abbrechende Todesatmen eines Menschen den Tag erwartete, das Licht weit hinter dem Meer, das wie ein jahrtausendealter Stein unter den Sternen schlief.“

„So beginnt das Buch, lieber Budnikowski!“

Zeit, die es nicht gibt, kann man leicht vergessen. Quatsch. Wie soll man vergessen, was es gar nicht gibt? Und wie soll das überhaupt gehen: die Zeit vergessen? Erinnerung existiert und Morgen nicht. Jetzt hier und jetzt ist schon wieder vorbei, findet statt und segnet das Zeitliche innert Nichtzeit. Das heißt das Jetzt ist vom Zeitlichen befreit. Davor und danach wird Zeit nicht benötigt und jetzt gibt es sie nicht. Existiert Zeit also nur, wenn man an sie denkt? Und warum denken dann die meisten, sie hätten keine Zeit? Weil sie nicht denken? Dies erschien den zwei Reisenden durchaus logisch. Zumindest hier, angesichts der See, dachten sie, wie sie überhaupt viel dachten mit unverstelltem Blick auf die verehrte See, die heute so ruhig an Land schwappte und sich unmerklich zurückzog, freundlich zurückkehrte und und. Und es war wieder dunkel, und wieder hell, man saß wieder (oder noch) am Strand und noch mal nannte man ein Jetzt „achtuhrfünfunddreissig“, doch was war mit der Inselbahn? Kein Tuten, Pfeifen, Rattern. Warum? Auf der Insel schreibt die See die Fahrpläne. Also blieben die Reisenden erstmal sitzen.

„Herr Budnikowski!“

„Ja?“

„Das Meer lag in der tiefen Nacht in einem schweren ruhigen Atem, in einer Stille wie vor der Geburt, während das herausgestoßene, abbrechende Todesatmen eines Menschen den Tag erwartete, das Licht weit hinter dem Meer, das wie ein jahrtausendealter Stein unter den Sternen schlief.“

„So endet das Buch, lieber Mahler!“

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(text / fotos: christian lugerth)

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Anleihen. Ansinnen. Anleid(t)ungen. Zehn.

Dienstag, 27. März 2018 20:14

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Erstarrte Bewegung. Wiederholte Wiederholung. Stillstehende Zeit.

„Wenn es zum Beispiel die Zeit nicht gäbe, …“

„Aber es gibt sie doch!“

„Ich glaube, sie ist lediglich Behauptung, wurde gemacht, ausgerufen, verlautbart. Es gibt einen Morgen, es gibt die Dämmerung, die Sonne steht hoch, eine Möwe schreit, ein toter Fisch liegt am Strand!“

„Was ist mit dem Morgen?“

„Den Morgen akzeptiere ich, das Morgen bezweifele ich, vielleicht ist es sogar völlig unnötig. Es ruft lediglich Hektik und Dummheit hervor.“

„Der Welt ist wohl gleich, daß es mich gibt? Also länger und ausdauernder!Mit Ziel sozusagen!“

„Im wesentlichen ja, vor allem weil es die Welt nicht gibt. Ihr Wort, mein Wort schafft unsere Welten, eben jetzt, Momentanwelt. Später beobachten wir wieder, nähern uns an. Vielleicht sprechen wir davon, schreiben. Morgen oder nie!“

„Reingefallen!“

„Ich meinte morgens!“

„Das ist nun mal der Fluch: die Definition!“

„Und dann noch über und anhand der Anderen. Der alte Schrei: ich und die Welt.“

„Die Welt und ich?“

„Klingt besser! Aber auch wenn das oder unser Leben nicht weitergeht, sondern nur Karusselfahrt ist, um sich kreist, kringelt, spiralt und auch mal tanzt, schwebt und steppt: was ist jetzt mit unserem Boot?“

„Da stoßen wir, zugegeben an Grenzen. Der Philosoph und die Notwendigkeit des Butterbrotes. Hochaufschäumend mit bleiernen Schuhen an den Haxen!“

„Müssen wir durch! Ist schon achtuhrfünfunddreißig?“

Wer was sprach, wer wem antwortete, dies sei gänzlich von keinerlei Bedeutung, selbst die Reihenfolge des Gesagten ist lediglich Behauptung. Stehend bleibt, während die zwei Reisenden sitzen und langsam einen kalten Arsch bekommen, daß dieser Morgen gerne öfters wiederkehren darf, da mag die Welt – falls existent – gerne im Kreis drehen, da gibt es keinen Optimierungsbedarf, hier dürfen die Regale die nächsten hundert Jahte so eingeräumt bleiben, wie sie es eben sind, auch wenn kein Boot in Sicht. Und eben, da ein große Ruhe einzieht in die zwei, pfeift und tutet es hinter den Dünen. Es rattert, quietscht. Ach ja! Klar!

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(text / fotos: christian lugerth)

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Anleihen. Ansinnen. Anleid(t)ungen. Neun.

Sonntag, 25. März 2018 17:43

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Kurz und gut die Geschichte erzählen, die kein Ende findet

Es war eine lange Nacht geworden, draußen war der Wind eingeschlafen, hatte sich zur Ruhe gelegt, keine Ruhe gefunden, sich hin und her gewälzt, konnte sich nicht entscheiden, auf welcher Seite er die Ruhe finden könnte, bis er, als der Morgen graute, sich auf West drehte, sanft wurde, fast milde und so dem Lenz die Türe aufhielt, zumindest einen Spalt breit.

Die zwei Reisenden hatten kein Auge zugetan. Das Buch hatte sie in Beschlag genommen und so sprangen sie die ganze Nacht zwischen den Geschichten umher, in jenem Buch das eine Geschichte nach der anderen anriß, in die Luft warf, tanzen ließ und kein Ende finden wollte und sie wurden nicht müde zwischen diesen fremd nichtfremden Worten und sie warfen sie sich zu wie altvertraute Bälle.

Mal der eine, über einen Erzähler, den man Kurz und Gut rief:

„(…) Also kurz und gut, sagte er dann: viele kurze Geschichten ergeben auch eine lange, ist vielleicht auch interessanter. Wobei das Ende einer Geschichte bei ihm immer schon der Anfang der nächsten war, die wiederum im Anfang einer neuen Geschichte endete, immer auf einem Atem gesprochen, in langen, endlosen Sätzen, die abrupt abbrachen: Jeder Mensch hat eben so seine Art zu erzählen, und vor allem hat er nur seine Geschichte, für ihn die einzige, und jede Geschichte ist einzigartig, und alle Geschichten zusammen ergeben überhaupt erst die wirkliche Geschichte, die ist ja gar nicht zu verstehen ohne die Geschichten der Menschen, die da drin versteckt sind. Ist wie das Wechselgeld auf einen Hunderter, man hat viele abgegriffene Münzen in der Hand, da sieht man erst, was so ein Hunderter bedeutet, sonst steckst du die Blüte ja so weg, ist einfach ein Hunderter. (…)“

Dann der andere, der davon las, wie Kurz und Gut den Maitre Camus zu Wort kommen ließ.

„(…) Camus: Ein Mensch, der nur einen einzigen Tag gelebt hat, könnte mühelos hundert Jahre in einem Gefängnis leben, er hätte genug Erinnerungen. Das war ein Gedanke, der ihn faszinierte, der ihn mit der Welt versöhnte, der ihm half, seine Tage und Nächte zu leben: Leben ist Erinnerung und sonst nichts. Ohne Erinnerung wären wir vergessene Sterne, Schall und Rauch. Die Dinge haben keine Bedeutung, wenn sie keine Geschichte haben. Vielleicht haben sie noch eine Beziehung, pro forma, aber was bedeuten sie? Erst eine Geschichte gibt allem um uns herum die Bedeutung, die wir verstehen. Ist wie der Anker an einem Boot, ohne Anker treibt es weg, ist nicht mehr vorhanden. Dann such mal dein Boot, sagte Kurz und Gut, ohne einen Ankerplatz stehst du mit den Füßen im Wasser. (…)“

Bis schließlich einer aufstand und meinte, nun sei es an der Zeit wieder nach der See zu schauen. Die alte Uhr unten an der Strandpromenade zeigte einen jungen Tag an, ein freundlicher Morgen glitt über den Strand und es herrschte Flut. Rechte Zeit nach einem Boot zu suchen.

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(text / fotos: christian lugerth)

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Anleihen. Ansinnen. Anleid(t)ungen. Acht.

Donnerstag, 22. März 2018 20:46

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Im stillen Zimmer stummes Sprechen, draußen der Wind

Es ist gut, wenn der Wind sich in den Dachziegeln verfängt, Regentropfen auf den Fenstersims trommeln, des unermüdlichen Draußen’s Musik den warmen, sicheren Hort umtanzt. Da lag ein Buch auf dem Nachttisch, man griff danach, man las sich gegenseitig vor, mal der, mal jener:

„Ein Mann geht, die Stiefel umgehängt, barfuß durch diese Sandwüste unter dem Meer, kennt den Weg von Insel zu Insel, der sonst dem Wasser gehört, geht durch eine besonnte Landschaft auf sicherer Erde, folgt einer unsichtbaren Spur, durch Generationen überliefert, altes Wissen der alten Geschichten: Bei Neumond vom Kirchturm Richtung Süderspitze, quer zum Priel, vorbei an den Planken und Spanten eines gesunkenen jahrhundertealten Schiffs, grüne Pflanzen, Algen und Muscheln, stolz ausgefahren, im Elend gescheitert, den Weg verfehlt, trotz Sternwarte und Kompaß, verfehltes Bemühen gegen die schwarze Gestalt des zufälligen Sturms, der Mensch im Unglück, kein Mensch singt davon.

Ebbe und Flut, Licht und Dunkelheit, Leben und Tod. Das sich Wiederholende ist das Bleibende. Das in sich Kreisende das Ewige. Kein Anfang, kein Ende und keine Vollendung. Das unfertige Bild, die aufgegebene Fuge, der abgebrochene Satz, ausgeführt bis zum Augenblick des Todes. Variationen der vergeblichen Bemühungen eines Lebens. Ein Schauspiel ohne Handlung, Ablauf unbekannt, Personal und Ort nur Zufall, die Erzählung Fiktion, der Bericht Konstruktion des Menschen, Behauptung eines Schicksls, unerkannte Gleichzeitigkeit, unbewußte Erinnerung, Jahre des Vergessens, sinnlose Fragmente, unzusammendhängend. Das unvollendete Bild des Menschen. Das stille Zimmer und das ununterbrochene stumme Sprechen. Worte, die keiner versteht.“

Es ist gut, wenn ein lieber Mensch ein Buch überreicht, bevor man aufbricht zu einer Reise und angekommen, dieses Buch einen willkommen heißt, als hätte es vom – vorläufigen – Ziel der Reise gewußt. Wenn Erinnerung und Erleben sich übereinander schieben, eins werden. Erinnert man sich  farbig oder schwarzweiß?

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(text / fotos: christian lugerth)

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Anleihen. Ansinnen. Anleid(t)ungen. Sieben.

Donnerstag, 15. März 2018 22:51

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Man wird der Dinge nicht Herr, aber dennoch kann man sie lesen

Ja. Man kann darüber lesen. Man kann sich davon berichten lassen. Man kann Bilder betrachten, Filme, man kann anklicken, aus Suchmaschinen etwas zusammenklauben. Sogar davon träumen. Doch selbst aus sicherer Entfernung, von noch trockener Düne aus betrachtet, die Wucht mit welcher eine Sturmflut – und diese hier nennt man eine kleine – gegen das Gestade donnert, sie ist nur spürbar aus einer Nähe, welche hier eine sicher entfernte Nähe ist. Das Gurgeln, Röcheln, Zischen, Fauchen, das gegen den Sand schlagen, stampfen, klatschen, dröhnen, eben gestrandete Wellen überrollt vom Nachfolger, zurückgezogen von der Strömung, übereinander stolpernd, rollend, einander brechend brechende Wogen, von Wind die Kämme zerstäubt, zerwirbelt, gepeitscht, zersaust, heranreitende Wasserrösser, Gischtmähnen, tosend im Zorn und nichts anderes als ewige Wiederholung feiernd, kommen müssen, gehen müssen, geben, nehmen. Stets wiederkehrender Gezeitentanz. Mal sanft, mal mit tödlicher Wucht.

„Herr Mahler, müssen wir mit nassen Pfoten rechnen?“

„Na ja, sicher verneinen vermag ich das hier nicht. Meine Erfahrungen mit Sturmfluten sind eher kärglich.“

„Aber das Schauen ist sehr lustvoll, auch wenn der Herzschlag bummert und trommelt.“

„Lieber Budnikowski, da lebt es halt. Nichtsdestotrotz scheint mir ein geordneter Rückzug nicht dumm!“

„Gewiß. Die Insel vermag ein Lied davon singen. Die kann nicht fliehen.“

„Ja. Die wird hinten weggespült und vorne wieder aufgeschwemmt.“

„Man mag es nicht glauben, sogar Inseln können wandern!“

„Mahler, dann sollten wir auch wandern, solang dies noch freiwillig möglich!“

„Auch mir ist nach fester Behausung!“

„Man folgt ja gern den Fährten und findet die Dinge, aber selbst ein zu suchendes Ding zu werden und vor allem, wo man dann rauskommt und landet!“

„Wenn überhaupt. Budnikowski! Passierten wir heute in der Frühe nicht eine Hütte? Dort, hinter dem Sand, an dem wir lehnen!“

„Los! Mein rechter Lauf ist feucht!“

Aufbruch und hinter den Dünen sind sie bald in Sicherheit. Wohlig  im Ohr aber bleibt den Reisenden das Rauschen der wilden See. Diese Hütte aber? Seltsam.

„Mahler! Waren wir hier schon mal?“

„Weiß nicht!“

„Wohnen wir hier? Da, sehen Sie!“

„Das Buch. Ja. Es kommt mir bekannt vor!“

„Dann lesen Sie!“

„Erst muß ich eine Runde schlafen!“

„Dann Gute Nacht, Freund!“

„Gut Nacht!“

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(text / fotos: christian lugerth)

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Anleihen. Ansinnen. Anleid(t)ungen. Sechs.

Donnerstag, 8. März 2018 17:47

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Wenn der Wind einschläft, erwacht die See

„Also folgen wir dieser Spur.“

„Ja!“

„Oder sagt man diesen Spuren?“

„Unter einer Spur, teurer Budnikowski, liegen vermutlich weitere Spuren. Unsicht-, aber auffindbar.“

„Treten wir nun in die Mitte der Abdrücke oder gehen wir, na sagen wir, entlang?“

„Wir folgen. Die Schrittlänge scheint außerdem unsere Möglichkeiten zu überschreiten.“

„Wahr gesprochen. Kann man denn in diesem Zusammenhang auch von Fährte sprechen, teurer Gefährte Bär?“

„Vielleicht. Wenn wir unter die Fußabdrücke schauen. Bleiben wir aufmerksam und üben uns im Lesen, können wir Dinge entdecken!“

„Steht da was Erhellendes in Ihrem GehBuch? Dem zweiten?“

„Gewiß! Unter FÄHRTE wird Ralph Waldo Emerson zitiert: Alle Dinge zeichnen unablässig ihre Geschichte auf… nicht als Fußabdrücke in Schnee oder Erde, sondern in Form vielerlei Spuren, die kürzer oder länger überdauern, eine Kartographie ihres Vorübergehens. Der Erdboden ist überall von Hinweisen und Zeichen überzogen: und jedes Ding ist über und über mit Spuren bedeckt. In der Natur geschieht die ständige Fährtenlegung automatisch, und ihre Aussage verhält sich zum Geschehen wie der Abdruck im Wachs zum Petschaft.

Petschaft! Alte Worte von alten Dingen klingen!“

„Fährten sind auch diese!“

Und mit dem West im Rücken folgten die Gefährten der Spur und gelangten rasch an die Ostspitze der Insel. Und was ragte vor ihnen? Ein bizarrer Wald von Wasser, Salz, Wind und Sand geformter Stangen, Pfählen, Hölzern, wunderliche und unheimliche Kunstwerke, geschaffen von den ewigen Verwitterern. Was war dies, was vor den staunenden Augen lag? Reste eines Steges? Eine alte Anlegestelle? Ein Hafen gar? Hütten, um längst verbrauchte Güter zu lagern? Ein untergegangenes Dorf? Und während man schaute und riet und vermutete, schlief ihr ständiger Begleiter, der Wind, ein. Die plötzlich einsetzende Stille währte dennoch lediglich wenige atemholende Minuten, bis draußen vom Meere ein unheilvolles Tosen heranrauschte.

„Weia Budnikowski, da kommt was auf uns zu!“

„Ach du lieber Himmel!“

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(text / fotos: christian lugerth)

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Anleihen. Ansinnen. Anleid(t)ungen. Fünf.

Montag, 5. März 2018 16:55

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„…jedes Ding ist über und über mit Spuren bedeckt.“

Das Meer war fort. Doch der frostige Wind hatte die letzten Wellen der letzten Flut gepackt und an den Strand geklebt. So war das Meer noch da. Kunstvoll verschlungene Ornament hatte „Meister Namenlos“, der große Schöpfer, die große Künstlerin Dame Natur auf den gefrorenen Sand gemalt. Doch die Reisenden hatten anderes erhofft. Sie wollten mehr vom Meer zu ihren ungeduldigen Füßen, doch da sie sich auf den Weg gemacht hatten, um etwas zu begreifen ohne danach unbedingt greifen zu müssen, murmelte ein jeder Braves vor sich hin. Zuerst der Hase, etwas schlaumeierisch, der Bär nicht minder, jedoch überzeugt.

„Was mich betrifft, ich erwarte nichts von der Natur. Ich verweile einfach in ihr. Ich gehe und spüre die Erde unter meinen Füßen, ohne über den Ort nachzudenken, an den ich gelangen werde. Ich atme und beobachte die Gegend, die ich durchstreife. Das tut meiner Lunge, meinen Muskeln, meinem Kopf gut.“

„Budnikowski, was auch immer Sie in der Natur anzutreffen erwarten, Sie werden dort zunächst sich selbst begegnen!“

„Gut Herr Mahler, aber das Meer hier ist nur noch Relikt, Fundstück, Widerhall, Kopie? So auch ich?“

„Ach, der Reisende meint oft, wenn er die Mauer der Stadt hinter sich gelassen hat, würden ihn Trübsinn und Niedergeschlagenheit blitzeschnell verlassen. Man mag sich täuschen. Das wußte schon Herr Sokrates!“

„Wat, dat iss doch die Abwehrrecke vonne Schwatt – Gelben?“

Der Bär runzelt die Stirn im auf West drehenden Wind.

„Mahlerken, Witz! Witz! Her mit den Zitat!“

„Was wunderst du dich, daß dir Reisen nichts nutzen, wo du doch dich herumträgst? Dich bedrückt dieselbe Ursache, die dich hinausgetrieben hat.“

„Sollen wir heimfahren und eine Sakekur machen?“

„Wie meinen?“

„Schreib eine starke Zeile / die wie eine Nadel / den Schmerzpunkt an deinem Arm trifft! / (…) / Sauf Sake und sing / bis die die Stimme wegbleibt / dann kommen die Worte von selbst!“

„Charles Bukowski?“

„Nee. Ikkyu Sojun. Ein Zenmeister. Hab ich aus Ihrem GehBuch! Übrigens, da sind Spuren!“

„Bleiben wir vorerst nüchtern! Folgen wir den Spuren!“

„Warum?“

„Wir folgen immer den Spuren. Uns bleibt keine Wahl. Es sei denn wir wären Blinde.“

„Hä?“

„Ist aus meinem zweiten GehBuch!“

Dann begann es zu schneien. Und der Schnee schien vom Abschied zu singen, vom Abschied vom Winter.

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(text / fotos: christian lugerth)

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Anleihen. Ansinnen. Anleid(t)ungen. Vier.

Donnerstag, 1. März 2018 10:11

2018_07

Wanderung zum Meer, welches gewesen ist, um zu bleiben

Der Bär hatte umgeblättert in dem Schönen Buch des Edo Popovic und in seinem Kopf und zitiert:

„Gehen wir die Bürgersteige entlang, vorbei an Schaufenstern, gehen wir durch den Park, über den Jahrmarkt, gehen wir in den Wald, gehen wir durch die Felsen, gehen wir die Küste entlang, gehen wir in irgendeine Richtung – egal in welche. Beim Gehen werden wir die eigenen Schritte hören und auch den eigenen Atem und das eigene Herz, und wenn wir uns vollständig entspannen, werden wir auch unsere eigenen Gedanken hören.“

„Dann gehen wir also, Mahler! Wo Gleise aufhören, fangen sie auch an.“

„So iss das wohl. Kommt die Lok nicht zum Bären, geht der Bär zur Lok.“

„Desgleichen der Hase!“

Aufbruch. Links Salzwiesen, vorne Eisen und Holz, hinten Ostwind, rechts Dünen. Dahinter spricht die See. Murmelt. Schweigt kurz. Dröhnt umso heftiger. Die Bärennase riecht Salz. Die Hasenlöffel folgen den Schreien der Möwen und dem Wispern der Wattwürmer. Vier Augen sehen, wie das Meer sich im Himmel spiegelt.

„Biegen wir ab?“

„Und was ist mit den Geleisen? Dem Weg? Der Richtung?“

„Wenn sie jetzt auch noch Bestimmung sagen, fresse ich Ihnen ihre letzte Karotte weg, Budnikowski!“

„Nun denn, wahrscheinlich haben sie recht, strenger Mahler. Wir können uns gar nicht verirren, denn wir haben ja gar kein Ziel!“

Gesagt und den Dünenkamm erklommen auf genehmigten Holzwegen. Doch was ist das? Die See ist da, aber lediglich in einer Art Vergangenheitsform.

2018_08

(text / fotos: christian lugerth)

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Anleihen. Ansinnen. Anleid(t)ungen. Drei.

Dienstag, 27. Februar 2018 11:41

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Alle reden vom Wetter, Mahler will beim Einsteigen aussteigen

Wenn der Wind – auch noch von vorn – bläst, ist es ratsam den Mund geschlossen zu halten. Dazu raten nicht nur Bärengroßmütter auf Kamschakta oder in Wyoming. Vor den versiegelten Lippen herrscht weiterhin Wetter. Dies ist nicht ungewöhnlich. Sollte bär meinen. Doch vernehmt das Gezwitscher der hysterischen Aufrechtgeher. Aus jeder Schneeflocke machen sie ein Skandalon, jeder heftigere Ausschlag der Thermometer endet in atemlosen Superlativen oder Medaillenspiegeln und dabei merkt seine Zweibeinigkeit meist nicht, daß die steigenden Weltenwasser ihm schon bis zum Hals stehen. Möge er sich doch an die Lokomotiven erinnern, die vor etlichen Dekaden, in Zeiten versunkener Pünktlichkeit und mützentragender Bahnhofvorsteher, gelobten vom Wetter zu schweigen und zu tun, was zu tun ist. Schnee schippen, Sonnenschirme aufspannen, Regentonnen leeren, Weichen enteisen, Reisende ans Ziel bringen. Heute jedoch, der scharfe Ost warf immer noch seine Eismesser nach den zwei Reisenden, verbarg sich die erhoffte Lok wohl und feil in irgendeinem Schuppen, statt für Bewegung zu sorgen. Wahrscheinlich quasselte sie mit dem Tender. Falls es so etwas noch gibt. Auf der windschattigen Westseite abgestellter Waggons, auf einer Insel, unweit der See, wurde gewartet, als der Bär anhob zu sprechen.

„Wir sprechen überhaupt viel zu viel. Wir sollten weniger sprechen und mehr zeichnen. Ich meinerseits möchte mir das Reden ganz abgewöhnen und mich wie die organische Natur in lauter Zeichnungen ausdrücken. Jener Feigenbaum, diese kleine Schlange, der Kokon, der dort vor dem Fenster liegt und seine Zukunft ruhig erwartet, all das sind inhaltsschwere Zeichen; ja, wer nur ihre Bedeutung recht zu entziffern vermöchte, der würde alles Geschriebene und alles Gesprochene bald zu entbehren imstande sein! Je mehr ich darüber nachdenke, es ist etwas so Unnützes, so Müßiges, ich möchte fast sagen Geckenhaftes im Reden, daß man vor dem stummen Ernste der Natur und ihrem Schweigen erschrickt, sobald man sich ihr vor einer einsamen Felsenwand oder in der Einöde eines altes Berges gesammelt entgegenstellt!“

„Von Ihnen, Meister Mahler?“

„Nein, vom ehrenwerten Geheimrat. Sie erinnern?

„Gewiß, aber Goethe, diese geschwätzige Elster und das große Schweigen?“

„Ist auch gelesen und geliehen. Hier: Schauen wir den Elstern zu, die in Paaren um die Plätze in den Kronen der Pappeln im Park kämpfen. Sehen wir dem Mann zu, der über den Parkplatz läuft und die Tür seines silbernen Autos aufschließt. Sehen wir, wie sich die Äste, gespickt mit jungen Blättern, leicht im Wind wiegen. Die Kinder, die im Hof des Kindergartens lärmend umherrennen. Die Wolken, die nach Süden gleiten und ihre Schatten auf die Hochhäuser werfen, auf die Wälder und die verwaisten Bergweiden. Eine Frau, die ihren Kinderwagen schiebt und ihre Lippen schürzt und dem kleinen Wesen vor sich etwas erzählt. Und dann noch: Betrachten wir die Meeresstille.

Schönes Buch. Und wenn wir irgendwann fertig geschaut haben? Oder neugierig sind. Oder ungeduldig.“

„Warten Sie, lieber Budnikowski.“

Der Bär lehnt sich in den Wind und blättert um. In seinem Kopp.

2018_06

(text / fotos: christian lugerth)

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Anleihen. Ansinnen. Anleid(t)ungen. Zwei.

Mittwoch, 21. Februar 2018 16:40

2018_03

Den Plan machen, keine Pläne zu erstellen

Der Wind pfiff. Kalt, waagrecht, klar, atemlos, schneidend. Den zwei Reisenden schien es, als würfe ein schlechtgelaunter Wetterkoch ohne Unterlaß seine Lieblingsmesser nach ihnen. Es roch nach Schnee. Und nach Salz. Nach Schlick. Die Möwen schwiegen und gingen zu Fuß. Eine Bärennase reckte sich nach oben. Man hatte unter Mühe und Geschnaufe den alten Güterwaggon erklettert und sich einen – in Maßen – komfortablen Sitzplatz ergattert. Da war ein Gleis, aber wo stand der Bahnhof? Ein zartes Gefühl von Abgestelltseins schlich sich in die Herzen der sehenden Passagiere, doch der unermüdliche Luftbeweger blies Bewegung in die Hirne. Fuhr man schon oder bewegte sich nur die Welt drumrum?

„Das Jahr beginnt bewegt. Ist es nicht, Herr Mahler?“

„Wie man’s nimmt. Diesem Waggon fehlt noch die Lokomotive.“

„Dreht die Welt sich eigentlicher schneller, wenn es so pfeift?“

„Man könnte es meinen, lieber Herr Budnikowski. Der Ohrenabrieb ist ein gewaltiger!“

„Ihre Nase hebt sich verdächtig. Wohin riechen Sie?“

„Die geliebte See, sie scheint mir nicht allzu fern!“

„Meine Löffel sind gespitzt doch unter dem Rauschen des Windes vernehme ich kein zweites Rauschen denn meine noch winterlich müden Gedanken. Nebenbei, mir ist nach Nahrung!“

„Lassen Sie sich nicht bremsen! Ich justiere derweilen meinen Kompaß.“

„Können Sie, Freund Mahler, riechen, was dies Jahr auf uns zuweht?“

„Ach, da ich kein Aufrechtgeher, ist die Zukunft mir schnuppe. Lassen sie uns Augenblicke sammeln und gelegentlich danach schnuppern, wo wir herkommen. Das was da über bleibt, ist belastbarer!“

„Nun denn, so verspeise ich meine Winterschlafbegleitmöhre. Soll ja gut für die Augen sein.“

„Sehen Sie!“

2018_04

(text / fotos: christian lugerth)

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