Runter vom Ausguck und rauf auf das Zauberpferd
„Was war Dein erhellenstes Erlebnis im Heckerland?“ Ernst Albert berichtete, wie er vor Tagen an der Kasse einer Nahrungsmittelkaufbude gestanden hatte. Er hatte Bananen und Äpfel erwoben. Vor ihm in der Schlange an der Bezahlstelle eine Frau, älter, Kleidung und Haartracht aber die eines Mädchens. Normalfall in Zeiten kollektiver Regression und Textilcodex in Green City. Die Frau verlangte nach einer Tasche aus ungebleichtem Stoff, ökologisch korrekt und gewissensstabilisierend. Es entspann sich folgender Dialog zwischen dem jungen Mann an der Bezahlstelle und der Kundin. Und – dies sei hier geschworen – jedes Wort ist wahr und wurde so gesprochen.
Kundin: „Wie isch da des Mindesthaltbarkeitsdatum?“
Kassierer: „Von der Milch oder den Äpfeln?“
„Nei! Von dem Einkaufsbeutel! Wie isch der so vernäht? Wie lang hält der?“
„Das kommt drauf an, was sie damit transportieren oder wie oft sie ihn benutzen.“
„Und wieso hätt der kein Mindesthaltbarkeitsdatum druffgschribbe?“
„Soweit ich weiß, gibt es das einfach nicht.“
„Sähet Sie, für Lebensmittel braucht mer des nit, die sind glei verzehrt. Aber bei so onnem Beutel tät des schon Sinn mache. Wie lang hält etzt der? Wisset Sie des?“
„Entschuldigung, aber ich kann ihnen beim besten Willen nicht sagen, wie lange ihr Einkaufsbeutel hält.“
„Sie, etz höret Sie mal her! Solang ich der Beutel nit erworbe hann, isch des immer noch ihren Einkaufsbeutel. Und da solltet Sie wisse, wie lang der hält.“
Tja, wer für alles eine Erklärung braucht, wird nichts erfahren. Für Archibald war es höchste Zeit vom Aussichtspunkt herunter zu klettern. Erkenntnisse waren gewonnen, exemplarisch und ausreichend erhellend. Aber, hatte seine Anoperationsnarbe eigentlich ein Mindesthaltbarkeitsdatum?
Es hatte begonnen zu regnen. Einige alte Sonnenliegen standen im Trockenen und harrten auf ihren Einsatz. Archibald bestieg sie und wartete mit ihnen auf die Sonne. Gestern noch hatte sie dermaßen heftig vom Himmel gebrannt, daß man meinen konnte, Herr Lenz hätte Frau Else Sommer mit der Führung seiner Geschäfte beauftragt. Heute jedoch sah es aus, als würde Genosse Iwan Heribert Wintersen noch mal nach dem Rechten schauen. Archibald, meteorologisch nicht wirklich geschult, aber mit sicherem Instinkt und feiner Nase ausgestattet, hatte das Gefühl, daß diese Wetterumschwünge alle etwas zu abrupt seien. Das sagte auch die Anoperationsnarbe. Was Archibald nicht wissen konnte, daß es einige Aufrechtgeher gibt, die felsenfest behaupten, die Tatsache, daß die Umschwünge immer abrupter werden und frühere Sanftheit vermissen ließen, hänge damit zusammen, daß es den meisten Zweibeiner wichtiger ist ihre mit fossilen Säften betriebenen Blechmilben ständig in Bewegung zu halten und Kapstachelbeeren aus Kolumbien zu verzehren, als ihre zwei Beine zu nutzen und zu kauen, was vor der Haustüre gedeiht. Andere behaupten, das sei völliger Blödsinn und Hysterie der wahre Grund solcher Thesen. Da ist das letzte Wort wohl noch nicht gesprochen, aber soviel riecht Archibalds Nase: Die Aufrechtgeher gehen nicht wirklich pfleglich mit der Welt um, die ihnen nicht gehört.
„Komm, steig auf das Zauberpferd und wir besuchen einen Ort, an dem die Gegenwart in die Vergangenheit blickt, um die Zukunft zu verstehen. Ein Ort, an dem es Zweibeiner gibt, die die sind, die sie sind und gleichzeitig jemand ganz anderes. Ein Ort, an dem man Worte hört, die vor langer, langer Zeit aufgeschrieben wurden, die aber, wenn man sie pfleglich und respektvoll behandelt, zeitgemäßer und klarer klingen, als das gehetzte Geraune und maßlose Marktgeschrei, welches einem tagtäglich die Ohren und Hirnfurchen füllt. Und außerdem der Ort, an dem ich seit Ewigkeiten meine Brötchen und manchmal auch den Belag darauf verdiene. Auf, auf, Kleiner Bär! Thalia ruft!“ Und sie ritten in die untergehende Sonne. Ernst Albert zeigte Archibald einen Musentempel. Das erste Mal.