Ein Tag in einer Stadt im Osten
„Auch wenn von einer früheren Vergangenheit nichts existiert nach dem Ableben der Personen, dem Untergang der Dinge, so werden allein, zerbrechlicher, aber lebendiger, immateriell und doch haltbar, beständig und treu Geruch und Geschmack noch lange wie irrende Seelen ihr Leben weiterführen.“ Dies hatte Marcel Proust einst geschrieben. Es sollte die Überschrift werden über die nächsten zwei Tage, die Archibald Mahler, Herr Ernst Albert und all ihre Gespenster gemeinsam verbringen durften.
Sie waren angekommen. Der Bahnhof lag auf einer Anhöhe am Rande der Stadt im Osten. Eine schnurgerade Allee führt hinunter in die Stadt. Der Himmel war grau, bleiern. Nach wenigen Metern rechter Hand das monumentale Denkmal eines Mannes, der vor sechsundsechzig Jahren von Vertretern der übelsten Sorte Aufrechtgeher, die jemals auf diesem Planeten gewütet hatten, in einem Vernichtungslager vor den Toren der Stadt hingerichtet wurde. Nach seinem Tod diente er der Jugend im Osten des Landes als Idol. Heute bleibt er Symbol für das recht kleinlaute Scheitern eines einst großen Entwurfs. Ernst Albert freute sich, daß man dieses Denkmal nicht – wie so viele andere in den letzten zwanzig Jahren – geschleift hatte. Sie erreichten das Zentrum der Stadt. Wunderbare alte Häuser, dezent restauriert. An jedem zweiten Haus hing eine Gedenktafel. „Hier wohnte, lebte, arbeitete oder ward geboren!“ Alles atmete Geist und Gesinnung. Zu Füßen des großen Schlosses im Herzen der Stadt: eine Talsenke, ein weitläufiger Park, ein Flüßchen. Archibald bat darum seiner Lieblingstätigkeit nachgehen zu dürfen: aufs Wasser zu schauen. Man kam der Bitte nach. Er ließ die Ilm an sich vorrüberfließen, gemächlich, milde. Ernst Albert sprach: „Eine knappe Bummelzugstunde flußaufwärts von hier, in der Nähe der Quelle des Flüßchens, wurde ich gezeugt.“ Gespenster huschten durch das Ufergebüsch.
Der Park weitete sich nach Osten hin. Am anderen Ende erblickte man ein kleines Gartenhäuschen. Der berühmte Geheimrat und Liebhaber der Grünen Soße hatte es vor über zweihundert Jahren des öfteren als Schreibstübchen genutzt. Archibald schloß das himmelgraue Häuschen sofort ins Herz. Warum Ernst Albert dieses Häuschen nicht auf der Stelle anmiete und mit ihm, Archibald Mahler, Denkbär im Osten, hier ein beflissenes und ruhiges Leben führe, wollte er wissen. Tja, daß dies so einfach nicht sei, wurde geantwortet. Außerdem ginge so etwas ohne Eva Pelagias Zustimmung auf keinen Fall. Und Ernst Albert erzählte, daß der Geheimrat einst die hessische Händlerstadt, in der er geboren ward, fluchtartig verlassen habe, weil ihn – nach eigenen Worten – „die Geldgier und Geistlosigkeit dort rasend machte.“ Er war dem Ruf eines jungen Fürsten an den Hof in dieser Stadt gefolgt. Hier wollte er seinen literarischen Elfenbeinturm verlassen und „das wirkliche Leben wirkend gestalten.“ Und tatsächlich, der Geheimrat mühte sich als Teilzeitpolitiker um Reformen. So arbeitete er Sparprogramme aus, die den doch sehr exzessiven Lebensstil am Hofe des stürmenden und drängenden Jungfürsten in gesündere Bahnen lenken sollten. Oberste Maxime war, daß „die Staatsausgaben stets unter dem Niveau der Einnahmen“ liegen sollten. Man muß nicht erwähnen, daß dem Versuch ein grandioses Scheitern folgte. Archibald dachte an die Türme der Gier und es schien ihm, als habe sich nicht viel geändert in all der Zeit.
Man erreichte den Musentempel. Dies war nicht irgendein Musentempel. Lange Zeit sah man in ihm – und manche tun das noch heute – den Musentempel des Landes schlechthin. Und so stehen, Arm in Arm, der Geheimrat und sein junger, schwäbischer Freund, Mitstreiter, Konkurrent und Kritiker vor dem Gebäude und blicken bedeutungsschwanger und Ewigkeit verheißend in die deutsche Ferne. Ernst Albert verschwand hinter den Mauern der heiligen Hallen. Er war auf Arbeitssuche und geladen, sich dort zu zeigen. „Halt mir die Daumen, kleiner Freund.“ Und Archibald sah die Aufrechtgeher unter den wachsamen Augen der zwei Klassiker hin und her schlendern und er drückte Daumen, so weit das bei einem Bären eben geht. “Toi, toi, toi!”, murmelte er vor sich hin. “Toi, toi, toi?” Wer hatte ihm das nur eingeflüstert?