Spuren. Suchen. Ilmenau. (Ernst Albert edit)
„In Ilmenau / da ist der Himmel blau / da tanzt der Ziegenbock / mit seiner Frau.“ Wer auch immer der Urheber dieses Reimes gewesen sein mag, heute fehlte er in Gänze. Regenmassen schütteten ohne Unterlaß auf die zwei Reisenden nieder und die Böcke blieben lieber in ihren Ställen. Also suchte Archibald suchte erst einmal einen trockenen Unterschlupf und verschaffte sich einen Überblick. Sie waren mit einem modernen Bummelzug angereist, dessen Frische und Modernität um so mehr auffiel, als der Bahnhof, an dem die Fahrt endete, wie aus aller Zeit gefallen schien. Man hatte unlängst einige neue Hinweisschilder angebracht, ansonsten hatte man das Gebäude in den letzten fünfzig Jahren sich selbst und dem Verfall überlassen. Archibald gefiel dies. Sie liefen los, Richtung Zentrum des kleinen Städtchens und die Zeit spielte verrückt. Uhren blieben stehen, dann bewegten sich die Zeiger wieder, unendlich langsam, im nächsten Moment rauschten sie rückwärts. Die Häuser der Stadt kündeten von untergegangener Zeit, sie kündeten sogar von der Zeit vor der Zeit, die vor zwanzig Jahren plötzlich und ohne großes Aufheben verschwunden war. Und es schien, als bewegten sich die Aufrechtgeher hier entschieden langsamer, sprachen langsamer, sie sahen aus, als stünde vergangene Zeit vor ihren Augen wie getönte Brillen. Auch Ernst Alberts Blick trübte sich und er spürte wie die Gespenster der Erinnerung ihn an die Hand nahmen. Das erste Mal war er hier entlang gegangen vor weit über vierzig Jahren an der Hand seines Vaters. Von den Wänden der Häuser grüßten riesige Plakate, Gemälde. Ein allgegenwärtiger Rauschebart forderte die Zweibeiner auf sich VORWÄRTS zu bewegen, hin zu Parteitagen, zu verstärktem Kampf und Einsatz im AUFBAU, im unverbrüchlichen Versprechen sich selbst, Parteien und KLASSENBEWUSSTEN gegenüber, eifrig sich zu mühen, BAUT AUF! Und der Vater, der wie die Mutter aus dieser Gegend stammte, bleute dem Jungen ein, in den Tagen des bevorstehenden Aufenthalts auf keinen Fall etwas Schlechtes zu sagen über diese Plakate, den Rauschebart und schon gar nicht über den, den man damals “Den Iwan“ nannte.
Sie erreichten einen kleinen Platz im Herzen der Stadt. Ein Brunnen plätscherte mit dem gnadenlosen Regen um die Wette. Sie standen vor einem mit Schieferplatten verkleideten Haus. Drei weiße Heroinnen oder Engel oder Wesen zierten die der Straße zugewandte Ecke des stolzen Gebäudes. Im unteren Geschoß verkaufte man Bücher und dies seit bald hundert Jahren. In diesem Haus wurde einst Ernst Albert gezeugt, so geht zumindest die Mär. Archibald gefiel dieses ehrwürdige Gebäude sofort, ein Brunnen vor der Haustür ist ein zusätzliches Argument. Und Ernst Albert wies auf die Fenster im obersten Stock und erzählte dem aufmerksam lauschenden, doch zunehmend durchnäßten Bär eine kleine Geschichte. Als er das erste Mal hier war, vor genau vierundvierzig Jahren, spielten jenseits des Kanales die Balltretkünstler um den Weltpokal. Die Vertreter des Teil des Landes, der sich von der kleinen Stadt aus gesehen, hinter Mauern und Stacheldraht im Westen befand, spielte im Endspiel gegen die Gastgeber. Helle Aufregung aber auch im östlichen Teil des Landes. Dieses Spiel durfte niemand verpassen, KLASSENFEIND hin oder her. Alle erwachsenen Zweibeiner zogen sich zurück unters Dach, um dort das Spiel im Bilderapparat zu schauen. Da die Bilder aber aus dem Westen gesendet wurden, war dies ein höchst konspirativer Akt, von dem aber jeder wußte. Ernst Albert und sein jüngerer Bruder mussten unten bleiben, in der Wohnung der Großmutter, Radio hören. Es war nervenzerfetzend. Die normale Spielzeit war fast zu Ende, als der göttliche Weber ausglich. Verlängerung. Der Vater holte die zwei Jungs, hinauf zum geheimen Bilderapparat. Es roch nach Schweiß, Bier, Schnaps, Wurst und tausend verbrannten Zigaretten. Plötzlich ein Schuß auf das Gehäuse der „Unseren“. Der Torwächter mit der Kappe, den Ernst Albert verehrte, streckt sich, erreicht die Kugel aber nicht. Hinter seinem Rücken fällt der Ball zu Boden: vor der Linie. Gott und der Rauschebart sei bei uns und nichts war passiert. Weiter! Dann geschieht das Unfaßbare. Der Schiedsrichter eilt zur Seitenlinie. Dort steht einer seiner Helfer, ein Vertreter des sogenannten „Der Iwan“. Man diskutiert aufgeregt. “Der Iwan” weist theatralisch zur Mittellinie und ein Sturm bricht los. „Dieser Drecksack! Typisch Iwan! Das war klar vor der Linie! Das kann doch kein Tor sein! Alles nimmt er uns, der Iwan!“ Flüche und Verwünschungen zerschnitten die rauchgeschwängerte Luft. Viel Schnaps mußte die geprellten Seelen der vereinten BRÜDER UND SCHWESTERN trösten. Ernst Albert aber erschrak zu Tode. Er dachte an die Ermahnungen des Vaters. „Nichts Schlechtes über den Iwan!“ Von diesem Moment an konnte er dem Geschehen im Bilderapparat nicht mehr folgen. Er bestand nur noch aus Ohren. Hörte er Schritte im Treppenhaus? „Gleich kommen sie uns alle holen!“
Sie zogen weiter, durch enge kopfsteingepflasterte Gassen und Sträßlein, die auf angenehme Weise den Schritt entschleunigten. Glitschig war es außerdem. Sie erreichten den Friedhof. John Updike hatte einst geschrieben, Erinnerung sei wie ein nicht vollständig entwickeltes Foto, wie ein Abzug auf den nur an manchen Stellen und recht wahllos etwas Entwicklerflüssigkeit gesprenkelt wurde. Ernst Albert wußte, daß seine Großeltern hier begraben waren. Gab es die Gräber noch? Er ließ sich von Gespenstern durch die Gräberreihen führen. Manchmal raunte es: „Vielleicht hier?“ Er sprach mit zwei Aufrechtgehern, die alte Kränze und Kerzen einsammelten. Sie schickten ihn in die Verwaltung. Nein, schon lange hätte man die Gräber abgeräumt. Nicht weiter schlimm, denn der „Geruch und Geschmack noch lang irrender Seelen“ allerorten. Marcel Proust hatte recht. Archibald saß auf einem Grabstein, freute sich an den tropfnassen Gespenstern, die ihn umtanzten und bekam große Lust, doch noch mal über seine Geschichte vor der Geschichte genauer nachzusinnen. Und dann mischte sich der Geheimrat ein.