Ein unschuldiges Wort und eine Pressemitteilung

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Das rote Auto gefiel ihm ganz besonders. Wobei es gar nicht mehr richtig rot war. Das rote Auto stand schon so lange auf dem Schrottplatz rechter Hand der Lahn, daß sich Moos und Flechten auf dem Lack angesiedelt hatten. Efeu kroch an den zerbröselnden Reifen hoch und Gräser reckten ihre Köpfe bis in den Motorraum hinein. Für Archibald Mahler war das rote Auto jedoch eine Schönheit, eine Schönheit, deren immer noch gegenwärtige Schönheit durch die Flechten und Mooskissen schimmerte, alte Lieder sang, über vergessene Strassen rollte, die Zeit anhielt und ihm so Raum schaffte. Raum im Hirn. Denkraum. Und heute wärmte sogar die Sonne die Stoßstange – CHROM!! – auf der der Bär saß. Das mochte er sehr. Und dann fielen ihm diese drei unschuldigen Buchstaben ein, das unschuldige N, das unschuldige E und das genauso unschuldige U. Diese drei unschuldigen Buchstaben, die zusammen eines der fürchterlichsten, abgeschmacktesten und nervigsten – vor allem Ruhe suchende Denkbären nervende – Lieblingswort der Aufrechtgeher ergaben, das unerquickliche Wörtchen: NEU!

Nein, das arme Wörtchen kann nichts dafür. Es mag durchaus mal eine Bedeutung, vielleicht sogar einen Sinn gehabt haben. Doch dies ist lange her. Heutzutage ist dieses Dreibuchstabengebilde nichts anderes als ein einziger überdrehter und unerträglicher lauter Schrei. So erschien es zumindest Archibald Mahler, dem Bären auf der warmen Chromstoßstange eines nun wirklich nicht mehr neuen roten Automobils auf dem Schrottplatz rechter Hand der Lahn am Rande der kleinen häßlichen Stadt, der spätsommerlich und gelassen nachdachte. Zum Beispiel darüber, daß der gemeine Aufrechtgeher es wohl nicht erträgt, wenn die Dinge, die ihn umgeben und die ihm entweder die Arbeit erleichtern oder ihm in seiner Freizeit Freude bereiten sollen, älter sind als einige Wochen, bestenfalls Monate. Dann wächst in ihm eine unerbittlich brüllende Unruhe und er muß hinausziehen und Dinge suchen, auf die andere Aufrechtgeher groß und dick und dreifach unterstrichen das kleine – einst unschuldige – Wörtchen NEU geschrieben, gedruckt oder was auch immer haben. Und dann kriegt der Zweibeiner feuchte Augen, feuchte Hände und feuchte Lippen. Und wenn ein ganz besonders findiger- was heutzutage heißt verkaufstüchtiger – Zweibeiner das Wörtchen NEU mit dem Attribut JETZT versehen hat, dann, ja dann? Dann werden sogar die Höschen feucht. JETZT NEU? JETZT? NEU? ICH KOMM! MÄH! MÄH! MÄH!

Also schrieb Archibald eine Pressemitteilung. Natürlich nur im Kopf. Aber eine Pressemitteilung, die er irgendwann mal losschicken würde. Da war er sich sicher. Und die Pressemitteilung, über die er nun nachdachte auf der warmen Chromstoßstange eines nun wirklich nicht mehr neuen roten Automobils auf dem Schrottplatz rechter Hand der Lahn am Rande der kleinen häßlichen Stadt, lautete folgendermaßen: „Kleine häßliche Stadt: Ein Bär, der heute morgen aufwachte, stellte fest, daß er atmete und seine Fell noch dasselbe ist. Dann hatte er Hunger. Und aß Marmelade aus Heidelbeeren. Und Aas mit Honig. Das schmeckte wie immer. Also gut. Dann hat er weitergeatmet.“ Und weil er gerade das Gefühl hatte, daß es heute super läuft mit der Denkerei und das Verfassen von Pressemitteilungen ihm einen Heidenspaß bereitete, verfaßte er gleich noch eine Pressemitteilung. Für den morgigen Tag. Und die lautete: „Kleine häßliche Stadt: Ein Bär, der heute morgen aufwachte, stellte fest, daß er atmete und seine Fell noch dasselbe ist. Dann hatte er Hunger. Und aß Marmelade aus Heidelbeeren. Und Aas mit Honig. Das schmeckte wie immer. Also gut. Dann hat er weitergeatmet.“ Und dann hat er weitergeatmet, der Bär auf der warmen Chromstoßstange eines nun wirklich nicht mehr neuen roten Automobils auf dem Schrottplatz rechter Hand der Lahn am Rande der kleinen häßlichen Stadt.

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Autor: Christian Lugerth
Datum: Freitag, 10. September 2010 20:12
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