Irgendwo da draußen muß es Kaffee geben!

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Wenn Archibald von seinem Schrottplatz rechter Hand der Lahn nach links schaut, sieht er ein Haus. Ein neues Haus. Ein Haus, das so neu ist, daß es noch gar nicht fertig ist. Aber ein paar Aufrechtgeher wohnen schon drin, weil das Wichtigste schon fertig ist: die hauseigene Tiefgarage. Vor der mit zwei unverputzten Stockwerken überbauten Tiefgarage steht eine große Tafel. Da ist eine Computersimulation des fertigen Gebäudes drauf abgebildet. Darüber prangt in Kapitälchen: „Hier entstehen hochpreisig ausgestattete, topatmosphärische und citynahe Wohnsituationen in naturnahem Surrounding mit Blickbeziehung zur Lahn!“ Der Bär nahm Platz auf der sich langsam erwärmenden Motorhaube eines Kadett B – geschätztes Baujahr 1971 – und war sich an diesem noch pöterkalten Spätsommermorgen hundertprozentig sicher, daß es nicht notwendig sei, im Falle dieser kryptischen Botschaft eine wie auch immer geartete Textexegese zu tätigen. Und da tat sich auch schon was an der Ausfahrt der Tiefgarage. Aber erstmal verzehrte der Bär drei bis sieben Äpfel, welche der nächtliche Wind ihm vor die Pfoten geweht hatte. Sehr lecker! Vielleicht sollte er– nach Rückkehr in die Höhle – Ernst Albert und Eva Pelagia mal darauf hinweisen, daß es Äpfel auch außerhalb der Kaufbuden an echten Bäumen gibt und diese viel besser schmecken. Das dachte der kauende Bär.

Das breite Tor der Tiefgarage bewegte sich geräuschlos nach oben. Ein Automobil rollte an die frische Luft. Ein Auto? Ein Monstrum! Es war etwa zweimal so lang, zweimal so breit, dreimal so hoch und wahrscheinlich sieben Mal so schwer wie der alte Kadett B, auf dem Archibald Mahler, frühstückender Weltschauer, an diesem Morgen saß. Wahrscheinlich hatte einer der gigantischen Reifen der Blechmilbe das Gesamtgewicht von Archibalds vor sich hin rostendem weißen Blechsofa. Röhrend rollte der schwarz und silbern glänzende Panzer davon. Der Fahrer hinter der getönten Scheibe hielt sich ein Mobilfunkteil ans rechte Ohr. Aufgeregt schien er zu sein. Seine Lippen bewegten sich hektisch und schlecht gelaunt. Wo ist die Front? Der Bär guckte in die Luft. Schäfchenwolken. Dann kehrte der Panzer zurück. 5 Minuten waren vergangen. War der Krieg schon vorüber? Irgendwelche Veränderungen? Ja, denn der Fahrer hielt nun nicht mehr ein Mobilfunkgerät in seiner Hand, sondern einen braunen Pappbecher. Da stand was drauf. „Mach Deinen Tag zum Ereignis mit einem Heißgetränk von McCoffeeTown!“ Genau konnte das Archibald nicht entziffern, aber ein im Schauen geschultes Bärenhirn nimmt Fragmente wahr und fügt den Rest dazu. Hohe Treffsicherheit. Das Rolltor schloß sich. Das Rolltor hob sich wieder. Ein weiterer Panzer. Schwarz-silbern ebenso. Er sah dem ersten Panzer mehr als ähnlich. Deckungsgleichheit. Aber ein anderer Name stand auf der gewölbten Heckklappe. Eine Frau saß am Steuer. Sie wog vielleicht ein Tausendstel ihres Untersatzes. Sie hatte noch keinen Kaffeebecher in der Hand. Dafür telefonierte sie. Ein kleines Mikrophon baumelte an ihrem Hals. Als sie nach drei Minuten wieder in die Tiefgarage rollte, hatte sie einen Pappbecher in der Hand, telefonierte aber immer noch. Auf dem Becher stand: „Die Ereignisse Deines Tages verzaubert Dir TownCoffeeMacky mit einem Heißgetränk!“ Oder so ähnlich. Was sie sprach? Es war auf alle Fälle wichtig. Sehr wichtig. Bestimmt!

Archibald schaute nicht mehr hin. Er dachte nach. Die Tiefgarage mit Wohnaufsatz war auf eine ehemalige Wiese gebaut worden. Hinter der Wiese standen einige ältere Wohnblocks. Mietwohnungen, untere Mittelklasse. Einst konnte man von den mit grünem  Plastik verkleideten Balkonen der Dreiraumwohneinheiten auf die Wiese und die Lahn schauen, wenn man schon nichts anderes zu tun hatte. Jetzt waren aber der Wohnraum und die Aussicht verdichtet. Blickte man von den Balkonen, sah man schwarz-silberne Panzer hin- und herrollen.  “Immer nur stupide auf einen kleinen Fluß schauen? Wie langweilig! Teilhaben an neuen Blickbeziehungen!“ Das sagten die Bauherren und die neuen Besitzer. Die schauten sich jedoch schon wieder nach neuen Wohnsituationen um. Man hatte festgestellt, daß die Parkplätze in der Tiefgarage etwas zu eng geraten waren. Einer der schwarz-silbernen Panzer hatte sich beim Einparken einen tiefen Kratzer in der Fahrertür zugezogen. Der Chauffeur hatte sich daraufhin vor Schreck und Wut das Heißgetränk über seine primären Geschlechtsinsignien geleert. Wird man die Tiefgarage mit Schlafdach abreißen müssen?

Es wurde warm, warm unter Archibalds Pöter, warm auf seinem Pelz, der über seinem gut gefüllten Bauch spannte. Darüber vergaß er ganz sich über die von den Aufrechtgehern verursachten Wetterkapriolen zu erregen. Er würde noch ein wenig hierbleiben, hier auf seinem Schrottplatz rechter Hand der Lahn. Er hatte freie Sicht! Noch! Time to think! Zweibeiner gucken ist überaus amüsant! Aber jetzt schnell noch zwei Äpfel. Der nächste Winterschlaf kommt bestimmt. Mahlzeit!

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Autor: Christian Lugerth
Datum: Samstag, 18. September 2010 20:40
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