DER MANN MIT DEN ANGEKLEBTEN HAAREN PASST AUF DIE ALTE FRAU AUF

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Dann war Pause im Musentempel. Archibald guckte aus dem Tor heraus, auf das er bis gestern immer nur drauf geschaut hatte. Ein wenig stolz war er schon. In einem richtigen, kleinen Musentempel unbehelligt sitzen zu dürfen, umsonst auch noch und in die draußige Welt zu blicken! Ein Musentempelbär! Gibt es nicht so oft. Ganz vorsichtig formten Archibalds Lippen das Wort „Alleinstellungsmerkmal“, um es im selben Moment wieder zu verwerfen. Wieder so ein Aufrechtgeherschmonzes. Das einzig Alleinige an ihm war, daß er bemerkte, daß er im Moment tatsächlich allein in diesem Raum mit dem falschen Fenster war. Die schimpfende Frau und der Mann vom schwarzen Kasten rauchten und der Rest tratschte und rödelte hinter den Kulissen herum. Der schwarze Kasten, aus dem die Musik kam, der interessierte den Bären. Und da saß er nun auf diesen beweglichen weißen und schwarzen Stäben. Die Stäbe gaben unter seinem Gewicht nach und Musik quoll aus dem Kasten. Etwas unorganisiert, etwas schräg, aber – Pöter hoch, Pöter runter – durchaus rhythmisch. Der Arsch eines Bären ist nun mal kein Artur Rubinstein.

‚Marlene’! Das stand auf dem großen Buch, welches anstelle von Noten auf dem schwarzen Kasten mit dem Namen Bechstein stand. Vorsichtig schlug Archibald das schwere Buch auf und war im selben Moment versunken. Versunken im aufregenden, turbulenten, tragischen, kämpferischen und wilden Leben dieser Frau, die wohl Marlene hieß und von der das Buch erzählte. Und Fotos sah er. Fotos ohne Ende. Fotos aus einer Zeit, als die Welt der Aufrechtgeher anscheinend noch schwarz-weiß war. Und im Zentrum all der Bilder immer diese strahlende Frau, und die Männer standen um sie rum und umschwirrten sie. „Wie Motten eine Glühbirne!“ Das schoß dem Bären durch den Kopf. Diese Frau gefiel ihm. Sein Bärenherz pochte schneller als gewöhnlich, denn für alle Arten von ganz besonderer Schönheit, sind Bären ganz besonders empfänglich. Sei es jetzt ein schöner Lachs, fallende Blätter, ein glitzender Fluß im Sommerlicht oder eine Frau mit solchen Augen. Mit Augen, die die Kameras, welche sie zu Tode fotographiert hatten, aufzufressen schienen. Und ihm fiel auf, daß die alte schimpfende Frau mit dem rollenden Gestell der Frau aus dem Buch in manchen Momenten sehr, sehr ähnlich sah. Und das falsche Fenster? Und der Stuhl mit den zwei großen Rädern rechts und links? Was hatte das alles zu bedeuten?

Die Aufrechtgeher und auch Herr Ernst Albert hatten ihre Pause beendet und jetzt sollte gesungen werden. Archibald räumte seinen Platz. Der blonde Mann mit den gelb-weißen Schuhen hatte sich inzwischen die Haare mit irgendeiner Paste an seinen Kopf geklebt. Er sah ganz anders aus. Er setzte sich an den schwarzen Kasten und holte – im Gegensatz zu Archibalds Pöter – richtig schöne Musik aus den weißen und schwarzen Holzstäben. Die Frau sang. Und egal was und wie sie sang, der Mann mit den angeklebten Haaren paßte immer auf, daß die Musik an dem, was die Frau sang dran blieb und das sich alles wunderbar zusammenfügte, im Ohr und im Herzen des zuhörenden Bären und auch der Anderen. Und dann machten sie zusammen ein Lied, wo der Bär nur die Hälfte verstand, weil die Frau in fremden Zungen sang. Denn auch wenn Archibald massenhaft Verwandte in Nordwyoming oder Kamschatka hat, des Englischen oder des Russischen ist er nicht mächtig. Und in Paris gibt es Bären bestenfalls im Jardin zoologique und an seine eingesperrten Genossen und Knuts möchte er gar nicht erinnert werden. Aber schön war dieses Lied trotzdem. Aber voller Schmerz. Und so wehmütig. Und für eine gewisse Wehmut ist ein Bär, der sich innerlich auf den bevorstehenden Winterschlaf vorbereitet, durchaus anfällig. Archibald setzte sich neben Ernst Albert und fragte, ob er ihm mal – nur ganz kurz – ein Tempotaschentuch ausleihen könnte.

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Autor: Christian Lugerth
Datum: Freitag, 22. Oktober 2010 12:48
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