Beiträge vom 10. März 2010

Nachts sind alle Bären schlau

Mittwoch, 10. März 2010 9:42

fanman„Die alten chinesischen Weisen, Mann, leben von ihrem Speichel. Die perfekte Diät. Einzige Voraussetzung ist, daß man sein ganzes Leben im Liegen verbringt, im absoluten Nichtstun. Der Weg des Himmels. Das ist es, Mann, das ist meine Diät.“ Archibald war erwacht. Er lag unter einem Buch. Die Nacht war unruhig gewesen. Mehrfach war er aufgewacht, ein bis zwei bedeutende Sätze auf seiner Zunge. Sie schmeckten immer ein bißchen nach „Genau so ist es.“ Doch wenn Archibald diese Sätze in seinen Gedankenschrank einordnen wollte, um sie bei passender Gelegenheit genauer zu bedenken, schwupp, waren sie weg und der Bär schlief wieder ein. Und schon sprach es wieder in ihm: „Ich weiß jetzt, was ich zu tun hab, Mann. Ich werde heut abend fasten und werde den ganzen morgigen Tag im Park zubringen und mich von Blättern und Beeren und den Wurzeln von Distelbüschen nähren. Mann, ich werde die Energie meiner Kindheit in mich aufsaugen, und sie wird mir eine wahnsinnige Vitalität verleihen. Das ist der Plan. Er ist vernünftig, geistig gesund, er ist klar, er ist wirksam, er erfährt innere Zustimmung von meinem Dorkie-Meter.“ Archibald schlug die Augen auf, wiederum etwas irritiert vom Tanz der Worte in seinem Bärenkopf. Woher sollte er auch wissen, daß er zur seltenen Gattung der Traumleserchen gehörte. Woher sollte er auch wissen, daß man Mäusespuren auf schlecht schmeckendem Papier Buchstaben nennt, daß die Menschen das, womit er sich zudeckte, Buch nennen und daß diese sogenannten Bücher für Menschen eine früher weit verbreitete, heute langsam aussterbende Art des Weltschauens war. Woher sollte er wissen, daß sich gerade zwischen ihm und diesem Buch eine seltsame Beziehung zu entwickeln begann. Er war nun mal nur ein Bär. Wieder fiel er in tiefen Schlaf. Herr Kotzwinkle saß neben dem Bären und las ihm vor. „Mein ganzes Sein antwortet auf diesen Vorschlag mit einem Gefühl des Friedens und der Zufriedenheit. Deshalb kehr ich unverzüglich in meinen Laden zurück, um mich schlafen zu legen. Ruhig und cool, mit meiner ganzen gelösten strahlenden Persönlichkeit, werde ich morgen früh in den Park gehen und mich der vitalen Meditation und dem Beknabbern von Buschwerk widmen. Was für ein wunderschöner und wohlüberlegter Plan, Horse Badorties. Du solltest ein Collegeprofessor sein.“

Ernst Albert war nach Hause zurückgekehrt, den Kopf voller Skizzen und Pläne und Knoten, unter seinem rechten Arm klemmten Zettel, Zeitungsausschnitte und ein Haufen Zeugs, welches es noch durchzuarbeiten galt. Er sah den kleinen Bären selig röchelnd unter einem seiner ehemaligen Lieblingsbücher leseliegen und dachte: „Ja, den Seinen gibt es der Herr im Schlaf.“ Und Ernst Albert sah dabei aus, als sei er sogar ein bißchen neidisch.

Thema: Anregende Buchstaben | Kommentare (4) | Autor: Christian Lugerth