Beiträge vom 3. März 2010

Archibald will nicht in spätrömischer Dekadenz enden und wird offizieller Frühlingsriecher

Mittwoch, 3. März 2010 8:17

kissen2Archibald saß wieder am Fenster, die liebevoll strenge Ermahnung des Alten von Bergedorf noch im Ohr. Er war gewillt heute Welt zu schauen, konzentriert und ausdauernd. Da Bären aber durchaus in der Lage sind, einen Mittelweg zwischen Disziplin und Bequemlichkeit zu finden, hatte er sich ein Kissen unter seine Bärenellenbogen geschoben, ein altbewährtes und anerkanntes Hilfsmittel beim konzentrierten und ausdauerden Weltschauen. Der Himmel schimmerte hellblau und nachts war die Kälte zurückgekehrt. Fünf neue Schneeglöckchen waren in Nachbars Garten dazu gekommen. Archibald blickte auf seine Pfoten, an denen er gestern hingebungsvoll gesaugt hatte, und mußte herzhaft über die Dummheit der Menschen lachen. Im alten Rom und bis hinein in die Neuzeit glaubten die Menschen, Bären würden ihren Winterschlaf nur überleben, weil sie die sogenannte Bärenmilch in ihren Tatzen hätten. Den langen Winter über würden sie gelegentlich an diesen saugen und so überleben. Und der Geheimrat hat sich einen Reim darauf gemacht. Schlaumeier, aber fleißig. Beängstigend fleißig. Und wie er so über Tatzen und Fleiß und Rom nachsinnierte, schoß es Archibald eiskalt ins Hirn: “Bin ich denn, hier auf meinem Kissen Welt schauend, ein nutzloser spätrömischer Dekadenzbär?  Ein schmarotzendes Etwas, das den Solidarpakt mit den Fleißigen da draußen, welche unentwegt Tüten und Taschen voller Lebensmittel, Elektroartikel, Kleidungsstücke und Kopfschmerztabletten in ihre Höhlen schleppen, aufgekündigt hat?” Mein Gott. Doch was sollte der erschrockene Bär tun? Die herumliegenden Äste in Nachbars Garten aufsammeln? Die Hundekackehaufen auf der Straße markieren? Die Autos im Halteverbot verpetzen? Schwänzende Kinder zurück in die Schule jagen? Den Fleißigen nach dem Einkauf die Preisschilder von der Ware kratzen? Die Welt nichts als Frage und Vorwurf!

Doch bevor Archibald vollends der Verzweiflung über sein gesamtgesellschaftlich unverantwortliches Dasein anheimfiel, schenkten ihm die Bärengötter (Die Götter der Bären! Unbedingt mal drüber nachdenken! Wichtiger zur Zeit als Anoperation und so!) die rettende Idee. Archibald beschloß der erste offizielle Frühlingsriecher zu werden. Er hatte in den letzten Tagen bei Ernst Albert und Eva Pelagia eine gewisse Unruhe gespürt. Dieser Winter ist lang und hartnäckig gewesen und jeder harrt der Ankunft des Frühlings. Archibalds feine Nase würde den armen Hoffenden verläßlich melden können, ob er denn naht, der Herr Lenz. Und so streckte der Bär sein empfindsames Organ aus dem Fenster und atmete ein und wieder aus, ein und wieder aus, konzentriert und ausdauernd. Die Luft begann zu vibrieren.

Thema: Draußen vor der Tür | Kommentare deaktiviert | Autor: Christian Lugerth