Archibald bekommt ein Stück Kreide in die Hand gedrückt
Dienstag, 16. März 2010 12:11
Daß jede Reise mit dem ersten Schritt begänne, behaupten ja nicht nur die Uiguren. Archibald jedoch ist Bär. Und Bären leiden bekanntermaßen unter dem Bärenproblem Antriebsschwäche. Also hatte Ernst Albert das für Archibald übernommen, das mit dem ersten Schritt. Wie Archibald vor ein paar Tagen aus dem Fenster geblickt hatte und das Rufen, welches von draußen auf ihn einstürmte, immer drängender wurde, er aber noch mit seinem inneren Schweinebär rang, der lieber in der warmen und bequemen Stube bleiben wollte, hatte Ernst Albert, der – neben vielen etwas fragwürdigen Eigenschaften – immerhin über die Gabe der Emphatie verfügt, seinen hadernden Hausgenossen gepackt und in die Tasche seiner Jacke gesteckt.
Es war früh am Tag und es war bärig kalt. „Was die Menschen für blödsinnige Ausdrücke verwenden. Wenn wir Bären etwas lieben, dann ist es die Wärme.“, dachte Archibald, als er auf die morgendlichen, menschenleeren Straßen einer mittelhessischen Provinzstadt blickte. Er war lange, sehr lange nicht mehr hier draußen gewesen und er versuchte sich zu erinnern, hoffte Bekanntes zu entdecken, um sich orientieren zu können, denn Bären mögen es nicht, wenn sie keinen blassen Schimmer davon haben, wo sie sich gerade befinden. Archibald sah, und das hatte er ganz vergessen, was für unglaublich häßliche Ecken diese Stadt hatte. Eben querten die beiden Frühaufsteher einen Platz, der mit absurden grün leuchtenden Glaskästen bestückt war. Diese Kästen waren eine Art Lagerplatz für leere Bierflaschen, Umsonstzeitungen und Werbezettel der umliegenden Kaufstuben. Die Fassaden der Häuser, die den Platz begrenzten, waren entweder mit schreiend bunten Namenszügen versehen oder mit blaßgrünen oder sekretgelben Kacheln bestückt. Am rechten Rand des wüsten und leeren Platzes stand ein einsamer Baum, blätterlos, einbetoniert und offensichtlich ein beliebtes Ausflugziel diarrhoegeplagter Vierbeiner. Nein, schön war das nicht, eher ärmlich und trostlos und Archibald fragte sich, was Ernst Albert mit ihm vorhatte. Er schaute zum Himmel, wo Eos die ersten rosaroten Spuren hinterlassen hatte. Etwas optische Linderung. Da erblickte er auf einem der Urinalkachelhäuser einen riesigen goldenen Engel. Und, siehe da, der Engel wand nicht sein Antlitz ab von der unfaßbaren ästhetischen Katastrophe zu seinen Füßen, nein, er blickte hin, fast schon liebevoll. Archibald ahnte, was der tiefere Sinn seines Ausfluges sein könnte: Hinschauen, auch wenn es wehtut, denn Wegschauen ist für Pekinesen, Dackel und ähnliche Gestalten. Und so ein frisches Stück Aas ist ja anfangs auch nicht der rein ästhetische Anblick, aber nach dem ersten Bissen extrem lecker und nahrhaft. Sic! Ernst Albert und Archibald verließen den Platz, Archibald mit Erkenntnisgewinn, und sie bogen um die Ecke.
Es ging blitzschnell und die Erinnerung hatte Archibald die Hand um den Hals gelegt. Sein rechtes Bein begann wie wahnsinnig zu jucken Genau hier war es geschehen. Damals. Damals. Die Vergangenheit. Der Kampf. Der Schmerz. Alte, ferne und doch glasklare Bilder umtanzten den Bären. Vorsichtig hob ihn Ernst Albert aus seiner Jackentasche, setzte ihn auf eine Treppe am Straßenrand, drückte ihm ein Stück Kreide in die Hand und sagte: „So. Das mußt Du jetzt alleine erledigen. Keine Angst, Du schaffst das. Bis bald.“ Und weg war er. „Genau. Hier war es gewesen. Damals.“ sagte der Bär leise vor sich hin. Um ehrlich zu sein und präzise zu bleiben, er fühlte sich einsam in diesem Moment, unser Herr Archibald, sehr, sehr einsam.
Thema: Draußen vor der Tür | Kommentare deaktiviert | Autor: Christian Lugerth