Am Ufer des Flusses ein Verhör unter Brüdern
Freitag, 16. April 2010 12:44
Was er denn da mache? Wie er überhaupt da hin gekommen sei? Wer er überhaupt sei? Ob ihm nicht klar sei, daß er ungesichert auf einem Dach sitze? Man würde ihm auch gerne darauf hinweisen, daß die Nachbarn zwischen 13 und 15 Uhr es nicht so gerne sähen, wenn man Welt schaue. Sei ihm auch klar, daß die Luft noch recht kalt sei, trotz Sonnenscheins, und gerade im Lenz ein Infekt sehr lästig ist? Des weiteren sei für den Nachmittag Regen vorhergesagt und die Türe zum Dachbalkon nicht ausreichend gesichert. Da genüge ein kleiner Windstoß und wer würde eventuell auftretende Schäden ersetzen? Und auch die unten am Ufer des Flüßchen sich rennend um ihre Gesundheit kümmernden Zweibeiner wünschten etwas mehr Privatheit und weniger Betrachtung. Wenn da einer erstaunt nach oben schaue und dann gegen eines der vielen Hinweisschilder pralle? Habe er eine angemessene Haftpflichtversicherung? Schutz sei immer gut. Ob ihm dies alles klar sei und wie er es denn fände, wenn er sich erstmal bei den zuständigen Hausbären vorstelle?
Da hatte Archibald einiges zu hören bekommen. Woher sollte er auch wissen, daß er sich in einer Gegend befand, in der die dort ansässigen Aufrechtgeher viel Zeit damit verbringen, Hinweise, Anweisungen, Ratschläge und Verbote unter ihresgleichen zu streuen, mag dies aus Gründen der Weltsorge, Emphatie, Langeweile oder regional bedingter Selbstgerechtigkeit geschehen. Und dies färbt offensichtlich ab. Wann hatte Archibald Mahler, Bär auf Reisen, jemals Artgenossen so viel quatschen hören? Potzrembel aber auch! Er stieg von seinem Ausguck herab und betrat die neue Höhle. Zwei Artgenossen, die sich ihm vorstellten als Wladimir Anatol Karamasow – der Große – und Yogi „Yellowstone“ Parkinson – der Kleine -, begrüßten ihn sehr freundlich und entschuldigten sich für ihre allzu investigative Fragerei, aber sie hätten nun mal den Auftrag ihrer Chefin und man befinde sich als Hausbär eben in gewissen Abhängigkeiten. Und sie erzählten Archibald, wie sie einst in diese Höhle gekommen waren. Man habe sie erworben, drüben in dem Land hinter dem Meer, wo vor Wochen und Monaten die Zweibeiner in Stahlzigarren und mit Plastiklatten an den Beinen die Schneeberge hinunter gerast waren. Man habe sie in Taschen und Tüten gepackt und ihm Bauche eines gigantischen Blechvogel habe man sie hier an das Ufer dieses Flüßchens namens Dreisam gebracht. Und sie fänden diese Dreisam zwar sehr hübsch, aber sie würden sich lieber hier in der Höhle aufhalten, als draußen auf dem Ausguck, weil der Blick auf den kleinen Katarakt bei ihnen noch allzu heftiges Heimweh auslösen würde, der emotionale Jetlag noch nicht gänzlich kuriert sei und außerdem Yogi „Yellowstone“ Parkinson, das was er sah, im nächsten Moment auch schon wieder vergessen habe. Aber nun sei er, der Neue, dran seine Geschichte zu erzählen. Und das erste Mal war Archibald sehr froh darüber, daß er seit Aschermittwoch begonnen hatte so aufmerksam Welt zu schauen und es sich auch noch zu merken, was er so gesehen hatte. Und er begann, von vorne.
Die drei im Gespräch vertieften Bären bemerkten nicht die Rückkehr des Ernst Albert zu mitternächtlicher Stunde. Vier Tage lang hatte er sich rund um die Uhr meist im Musentempel aufgehalten und war nun sehr erfreut seinen Bärengenossen gut aufgehoben zu sehen. Sein schlechtes Gewissen löste sich in zwei Gläsern ‘Bickensohler Spätburgunder Weißherbst’ auf. “Wein machen können sie hier, die Obergescheitle!”, dachte er noch und schon bald hatte ihn die Dreisam in den wohlverdienten Schlaf gerauscht.
Thema: Im Heckerland | Kommentare deaktiviert | Autor: Christian Lugerth