Archibald entdeckt, entwickelt und praktiziert die empirische Floralmeditation
Dienstag, 20. April 2010 12:00
Die Nachmittagssonne hatte schläfrig gemacht. Archibald träumte vor sich hin. Er träumte von den Zweibeinern. Sie saßen auf Fahrrädern. Man hatte ihnen die Daumen abgesägt und die verstümmelten Hände am Lenker festgebunden. So konnten sie nur noch geradeaus fahren und nicht mehr klingeln. Man hatte die Bremsen an ihren Maschinen abmontiert. Diese benötigten sie nicht, denn sie benutzten ihre Geräte nicht, um Entfernung Geld sparend und Gesundheit fördernd zu überwinden. Nein, ihre Art der Fortbewegung war Botschaft, war Geste, war Ausdruck und Manifestation von moralischer Überlegenheit. „Ich arbeite hart an mir und der Verbesserung der ganzen Welt. Jeder meiner Tage ist Kampf und Beweis.“ Dadurch genossen sie gewisse Vorrechte. Rechtsverkehr, Linksverkehr, egal. Sie durften überall fahren. Fahrbahn. Radweg. Gehweg. Fußgängerzone. Ein Botschafter muß die Möglichkeit haben, überall all zu missionieren und Präsenz zu zeigen. Ampeln? Leuchttürme des Bösen. Lobbysäulen der Autoindustrie. Klingeln? Nicht notwendig. Nur der verhärmte, spießige, unsensible Mensch spürt nicht, daß sich auf dem Weg von hinten ein Missionar mit 25-45 km/h nähert. Bei Dunkelheit Licht anmachen? Die Strahlkraft des guten Willens per se erleuchtet den Pfad des Gerechten. Und nannte man die Fahrer des Rades früher nicht Pedalritter? Und so trugen sie in Archibalds dunkelgrünen Träumen Lanzen unter ihren Armen, keck und fordernd in Fahrtrichtung gestreckt. Wer unserer Kirche nicht mag beitreten: hinweg! Bevor sich der Stab der moralischen Überlegenheit in den Rücken einer 80-jährigen Rollatorschieberin bohren konnte, die das selbstgerechte Tempo leider nicht mehr mitgehen konnte oder gar wollte, erwachte der Bär. Ihn fröstelte.
Der Höllentaler hatte ihn geweckt. So nennen die Einheimischen einen kalten Wind, der nach Einbruch der Dunkelheit von den Höhen des sittenstrengeren schwarzen Waldes hinab in die freizügige Stadt weht und die Menschen von den Plätzen und Gassen in ihre Häuser und hinter die Fenster treibt. „Ruhet!“, scheint der Wind zu rufen. „Ruhet endlich!“
Am nächsten Morgen: ein neues Fenster. Hier hatte Archibald noch nicht Welt geschaut. Er dachte an Eva Pelagias Worte, als sie sich gestern zur Heimreise fertig gemacht hatte und ein letztes Mal vom Balkon blickte: „Verrückt, als ich vor zwei Tagen hier ankam, war dieser Baum noch kahl. Und jetzt! Schau mal!“ Archibald hatte eine Idee, und da er zuletzt öfters mal über das sichtbar machen von Zeit meditiert hatte – eine Erscheinung eintretenden Alters wahrscheinlich – legte er los. Und sagen die Zweibeiner nicht gerne mal: „Man kann das Gras wachsen hören.“? Der Bär aber wollte die Blätter wachsen sehen. Er schloß die Augen. Eine Minute. Er öffnete die Augen. Keine Veränderung. Kein Fortschritt. Nichts. Rein gar nichts. Er schloß die Augen. Zwei Minuten. Er öffnete die Augen. Keine Veränderung. Kein Fortschritt. Nichts. Er schloß die Augen. Fünf Minuten. Er öffnete die Augen. Keine Veränderung. Kein Fortschritt. Nichts. Fast nichts. Er schloß die Augen. Zehn Minuten. Er öffnete die Augen. Keine Veränderung. Kein Fortschritt. Nichts. Fast nichts. Kaum. Oder doch? Er schloß die Augen. Jetzt mal richtig, Archibald! Eine Stunde. Er öffnete die Augen. Tatsache! Schau mal! Veränderung. Fortschritt. Eva Pelagia ist eine kluge Frau. Und Herr Lenz macht wohl – endlich – seine Hausaufgaben. (Bitte sofort einen Heiermann ins Phrasenschwein! Gruß vom Setzer)
Thema: Im Heckerland | Kommentare (2) | Autor: Christian Lugerth